SIGMUND FREUD
ÜBER
PSYCHOANALYSE
FÜNF VORLESUNGEN
GEHALTEN ZUR 20JÄHRIGEN GRÜNDUNGSFEIER
DER
CLARK UNIVERSITY in WORCESTER
MASS.
SEPTEMBER 1909.
VON
Prof. Dr. Sigm. Freud
LL. D.
LEIPZIG UND WIEN
FRANZ DEUTICKE
1910.
Verlags-Nr. 1701.
K. und K. Hofbuchdruckerei Karl Prochaska in Teschen.
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Quelle : gutenberg.org INHALTSVERZEICHNIS
I.
Meine Damen und Herren! Es ist
mir ein neuartiges und verwirrendes Gefühl, als Vortragender vor Wißbegierigen
der Neuen Welt zu stehen. Ich nehme an, daß ich diese Ehre nur der Verknüpfung
meines Namens mit dem Thema der Psychoanalyse verdanke, und beabsichtige daher,
Ihnen von Psychoanalyse zu sprechen. Ich will es versuchen, Ihnen in
gedrängtester Kürze einen Überblick über die Geschichte der Entstehung und
weiteren Fortbildung dieser neuen Untersuchungs- und Heilmethode zu geben. Wenn es ein Verdienst ist, die
Psychoanalyse ins Leben gerufen zu haben, so ist es nicht mein Verdienst. Ich
bin an den ersten Anfängen derselben nicht beteiligt gewesen. Ich war Student
und mit der Ablegung meiner letzten Prüfungen beschäftigt, als ein anderer
Wiener Arzt, Dr. Josef Breuer,[1] dieses Verfahren zuerst an einem hysterisch erkrankten Mädchen anwendete
(1880-1882). Mit dieser Kranken- und Behandlungsgeschichte wollen wir uns nun
zunächst beschäftigen. Sie finden dieselbe ausführlich dargestellt in den
später von Breuer und mir veröffentlichten »Studien über
Hysterie«.[2]
[1] Dr. Josef Breuer, geb. 1842,
korrespondierendes Mitglied der k. Akademie der Wissenschaften, bekannt durch
Arbeiten über die Atmung und zur Physiologie des Gleichgewichtssinnes.
[2] Studien über Hysterie. 1895. Fr. Deuticke, Wien,
2. Aufl., 1909. Stücke meines Anteils an diesem Buch sind von
Dr. A. A. Brill in New York ins Englische
übertragen worden (Selected papers on Hysteria and other Psychoneuroses by
S. Freud, Nr. 4 der »Nervous and Mental Disease Monograph Series«,
New York).[p. 2] Vorher nur noch eine Bemerkung.
Ich habe nicht ohne Befriedigung erfahren, daß die Mehrzahl meiner Zuhörer
nicht dem ärztlichen Stande angehört. Besorgen Sie nun nicht, daß es besonderer
ärztlicher Vorbildung bedarf, um meinen Mitteilungen zu folgen. Wir werden
allerdings ein Stück weit mit den Ärzten gehen, aber bald werden wir uns
absondern und Dr. Breuer auf einen ganz eigenartigen
Weg begleiten. Dr. Breuers
Patientin, ein 21jähriges, geistig hochbegabtes Mädchen, entwickelte im
Verlaufe ihrer über zwei Jahre ausgedehnten Krankheit eine Reihe von
körperlichen und seelischen Störungen, die es wohl verdienten, ernst genommen
zu werden. Sie hatte eine steife Lähmung der beiden rechtsseitigen Extremitäten
mit Unempfindlichkeit derselben, zeitweise dieselbe Affektion an den Gliedern
der linken Körperseite, Störungen der Augenbewegungen und mannigfache
Beeinträchtigungen des Sehvermögens, Schwierigkeiten der Kopfhaltung, eine
intensive Tussis nervosa, Ekel vor Nahrungsaufnahme und einmal durch mehrere
Wochen eine Unfähigkeit zu trinken trotz quälenden Durstes, eine Herabsetzung
des Sprachvermögens, die bis zum Verlust der Fähigkeit fortschritt, ihre
Muttersprache zu sprechen oder zu verstehen, endlich Zustände von Abwesenheit,
Verworrenheit, Delirien, Alteration ihrer ganzen Persönlichkeit, denen wir
unsere Aufmerksamkeit später werden zuwenden müssen. Wenn Sie von einem solchen
Krankheitsbilde hören, so werden Sie, auch ohne Ärzte zu sein, der Annahme
zuneigen, daß es sich um ein schweres Leiden, wahrscheinlich des Gehirns,
handle, welches wenig Aussicht auf Herstellung biete und zur baldigen Auflösung
der Kranken führen dürfte. Lassen Sie[p.
3] sich indes von den Ärzten belehren, daß für eine
Reihe von Fällen mit so schweren Erscheinungen eine andere und weitaus
günstigere Auffassung berechtigter ist. Wenn ein solches Krankheitsbild bei
einem jugendlichen weiblichen Individuum auftritt, dessen lebenswichtige innere
Organe (Herz, Niere) sich der objektiven Untersuchung normal erweisen, das aber
heftige gemütliche Erschütterungen erfahren hat, und wenn
die einzelnen Symptome in gewissen feineren Charakteren von der Erwartung
abweichen, dann nehmen die Ärzte einen solchen Fall nicht zu schwer. Sie
behaupten, daß dann nicht ein organisches Leiden des Gehirns vorliegt, sondern
jener rätselhafte, seit den Zeiten der griechischen Medizin Hysterie
benannte Zustand, der eine ganze Anzahl von Bildern ernster Erkrankung
vorzutäuschen vermöge. Sie halten dann das Leben für nicht bedroht und eine
selbst vollkommene Herstellung der Gesundheit für wahrscheinlich. Die
Unterscheidung einer solchen Hysterie von einem schweren organischen Leiden ist
nicht immer sehr leicht. Wir brauchen aber nicht zu wissen, wie eine
Differentialdiagnose dieser Art gemacht wird; uns mag die Versicherung genügen,
daß gerade der Fall von Breuers Patientin ein solcher
ist, bei dem kein kundiger Arzt die Diagnose der Hysterie verfehlen wird. Wir
können auch an dieser Stelle aus dem Krankheitsbericht nachtragen, daß ihre
Erkrankung auftrat, während sie ihren zärtlich geliebten Vater in seiner
schweren, zum Tode führenden Krankheit pflegte, und daß sie infolge ihrer
eigenen Erkrankung von der Pflege zurücktreten mußte. Soweit hat es uns Vorteil
gebracht, mit den Ärzten zu gehen, und nun werden wir uns bald von ihnen
trennen. Sie dürfen nämlich nicht erwarten, daß die Aussicht eines Kranken auf
ärztliche Hilfeleistung dadurch wesentlich gesteigert wird,[p. 4]
daß die Diagnose der Hysterie an die Stelle des Urteils auf ernste organische
Hirnaffektion tritt. Gegen die schweren Erkrankungen des Gehirns ist die
ärztliche Kunst in den meisten Fällen ohnmächtig, aber auch gegen die
hysterische Affektion weiß der Arzt nichts zu tun. Er muß es der gütigen Natur
überlassen, wann und wie sie seine hoffnungsvolle Prognose verwirklichen will.[3]
[3] Ich weiß, daß diese Behauptung heute nicht mehr
zutrifft, aber im Vortrage versetze ich mich und meine Hörer zurück in die Zeit
vor 1880. Wenn es seither anders geworden ist, so haben gerade die Bemühungen,
deren Geschichte ich skizziere, daran einen großen Anteil. Mit der Erkennung der Hysterie
wird also für den Kranken wenig geändert; desto mehr ändert sich für den Arzt.
Wir können beobachten, daß er sich gegen den hysterischen ganz anders einstellt
als gegen den organisch Kranken. Er will dem ersteren nicht dieselbe Teilnahme
entgegenbringen wie dem letzteren, da sein Leiden weit weniger ernsthaft ist
und doch den Anspruch zu erheben scheint, für ebenso ernsthaft zu gelten. Aber
es wirkt noch anderes mit. Der Arzt, der durch sein Studium so vieles kennen
gelernt hat, was dem Laien verschlossen ist, hat sich von den
Krankheitsursachen und Krankheitsveränderungen, z. B. im Gehirn eines an
Apoplexie oder Neubildung Leidenden Vorstellungen bilden können, die bis zu
einem gewissen Grade zutreffend sein müssen, da sie ihm das Verständnis der
Einzelheiten des Krankheitsbildes gestatten. Vor den Details der hysterischen
Phänomene läßt ihn aber all sein Wissen, seine anatomisch-physiologische und
pathologische Vorbildung im Stiche. Er kann die Hysterie nicht verstehen, er
steht ihr selbst wie ein Laie gegenüber. Und das ist nun niemandem recht, der
sonst auf sein Wissen so große Stücke hält. Die Hysterischen[p. 5] gehen also seiner
Sympathie verlustig; er betrachtet sie wie Personen, welche die Gesetze seiner
Wissenschaft übertreten, wie die Rechtgläubigen die Ketzer ansehen; er traut
ihnen alles mögliche Böse zu, beschuldigt sie der Übertreibung und der
absichtlichen Täuschung, Simulation; und er bestraft sie durch die Entziehung
seines Interesses. Diesen Vorwurf hat nun Dr. Breuer bei seiner Patientin nicht verdient; er schenkte ihr
Sympathie und Interesse, obwohl er ihr anfangs nicht zu helfen verstand.
Wahrscheinlich erleichterte sie es ihm auch durch die vorzüglichen Geistes- und
Charaktereigenschaften, für die er in der von ihm abgefaßten Krankengeschichte
Zeugnis ablegt. Seine liebevolle Beobachtung fand auch bald den Weg, der die
erste Hilfeleistung ermöglichte. Es war bemerkt worden, daß die
Kranke in ihren Zuständen von Absenz, psychischer Alteration mit Verworrenheit,
einige Worte vor sich hin zu murmeln pflegte, welche den Eindruck machten, als
stammten sie aus einem Zusammenhange, der ihr Denken beschäftige. Der Arzt, der
sich diese Worte berichten ließ, versetzte sie nun in eine Art von Hypnose und
sagte ihr jedesmal diese Worte wieder vor, um sie zu veranlassen, daß sie an
dieselben anknüpfe. Die Kranke ging darauf ein und reproduzierte so vor dem
Arzt die psychischen Schöpfungen, die sie während der Absenzen beherrscht und
sich in jenen vereinzelt geäußerten Worten verraten hatten. Es waren
tieftraurige, oft poetisch schöne Phantasien, Tagträume würden wir sagen, die
gewöhnlich die Situation eines Mädchens am Krankenbett seines Vaters zum
Ausgangspunkt nahmen. Hatte sie eine Anzahl solcher Phantasien erzählt, so war
sie wie befreit und ins normale seelische Leben zurückgeführt. Das
Wohlbefinden, das durch mehrere Stunden anhielt, wich dann[p. 6] am nächsten Tage
einer neuerlichen Absenz, welche auf dieselbe Weise durch Aussprechen der neu
gebildeten Phantasien aufgehoben wurde. Man konnte sich dem Eindrucke nicht
entziehen, daß die psychische Veränderung, die sich in den Absenzen äußerte,
eine Folge des Reizes sei, der von diesen höchst affektvollen
Phantasiebildungen ausging. Die Patientin selbst, die um diese Zeit ihres
Krankseins merkwürdigerweise nur Englisch sprach und verstand, gab dieser
neuartigen Behandlung den Namen »talking cure« oder bezeichnete sie scherzhaft
als »chimney sweeping«. Es ergab sich bald wie zufällig,
daß man durch solches Reinfegen der Seele noch mehr
erreichen könne als vorübergehende Beseitigung der immer wiederkehrenden
seelischen Trübungen. Es ließen sich auch Leidenssymptome zum Verschwinden
bringen, wenn in der Hypnose unter Affektäußerung erinnert wurde, bei welchem
Anlaß und kraft welches Zusammenhanges diese Symptome zuerst aufgetreten waren.
»Es war im Sommer eine Zeit intensiver Hitze gewesen und Patientin hatte sehr
arg durch Durst gelitten; denn, ohne einen Grund angeben zu können, war ihr
plötzlich unmöglich geworden, zu trinken. Sie nahm das ersehnte Glas Wasser in
die Hand, aber sowie es die Lippen berührte, stieß sie es weg wie ein Hydrophobischer.
Dabei war sie offenbar für diese paar Sekunden in einer Absenz. Sie lebte nur
von Obst, Melonen u. dgl., um den qualvollen Durst zu mildem. Als das etwa
sechs Wochen gedauert hatte, räsonierte sie einmal in der Hypnose über ihre
englische Gesellschafterin, die sie nicht liebte, und erzählte dann mit allen
Zeichen des Abscheus, wie sie auf deren Zimmer gekommen sei, und da deren
kleiner Hund, das ekelhafte Tier, aus einem Glas getrunken habe. Sie habe
nichts gesagt, denn sie wollte höflich sein. Nachdem sie ihrem[p. 7] steckengebliebenen
Ärger noch energisch Ausdruck gegeben, verlangte sie zu trinken, trank ohne
Hemmung eine große Menge Wasser und erwachte aus der Hypnose mit dem Glas an
den Lippen. Die Störung war damit für immer verschwunden.«[4]
[4] Studien über Hysterie, 2. Aufl., p. 26. Gestatten Sie, daß ich Sie bei
dieser Erfahrung einen Moment aufhalte! Niemand hatte noch ein hysterisches
Symptom durch solche Mittel beseitigt und war dabei so tief in das Verständnis
seiner Verursachung eingedrungen. Es mußte eine folgenschwere Entdeckung
werden, wenn sich die Erwartung bestätigen ließ, daß noch andere, daß
vielleicht die Mehrzahl der Symptome bei der Kranken auf solche Weise entstanden
und auf solche Weise aufzuheben war. Breuer scheute die
Mühe nicht, sich davon zu überzeugen, und forschte nun planmäßig der
Pathogenese der anderen und ernsteren Leidenssymptome nach. Es war wirklich so;
fast alle Symptome waren so entstanden als Reste, als Niederschläge, wenn Sie
wollen, von affektvollen Erlebnissen, die wir darum später »psychische Traumen«
genannt haben, und ihre Besonderheit klärte sich durch die Beziehung zu der sie
verursachenden traumatischen Szene auf. Sie waren, wie das Kunstwort lautet,
durch die Szenen, deren Gedächtnisreste sie darstellten, determiniert,
brauchten nicht mehr als willkürliche oder rätselhafte Leistungen der Neurose
beschrieben zu werden. Nur einer Abweichung von der Erwartung sei gedacht. Es
war nicht immer ein einziges Erlebnis, welches das Symptom zurückließ, sondern
meist waren zahlreiche, oft sehr viele ähnliche, wiederholte Traumen zu dieser
Wirkung zusammengetreten. Diese ganze Kette von pathogenen Erinnerungen mußte
dann in chronologischer Reihenfolge reproduziert werden, und zwar[p. 8] umgekehrt, die
letzte zuerst und die erste zuletzt, und es war ganz unmöglich, zum ersten und
oft wirksamsten Trauma mit Überspringung der später erfolgten vorzudringen. Sie werden nun gewiß noch andere
Beispiele von Verursachung hysterischer Symptome als das der Wasserscheu durch
den Ekel vor dem aus dem Glas trinkenden Hund von mir hören wollen. Ich muß
mich aber, wenn ich mein Programm einhalten will, auf sehr wenige Proben
beschränken. So erzählt Breuer, daß ihre Sehstörungen
sich auf Anlässe zurückführten »in der Art, daß Patientin mit Tränen im Auge,
am Krankenbett sitzend, plötzlich vom Vater gefragt wurde, wieviel Uhr es sei,
undeutlich sah, sich anstrengte, die Uhr nahe ans Auge brachte und nun das
Zifferblatt sehr groß erschien (Makropsie und Strabismus conv.); oder
Anstrengungen machte, die Tränen zu unterdrücken, damit sie der Kranke nicht
sehe«.[5] Alle pathogenen Eindrücke stammten übrigens aus
der Zeit, da sie sich an der Pflege des erkrankten Vaters beteiligte. »Einmal
wachte sie nachts in großer Angst um den hochfiebernden Kranken und in
Spannung, weil von Wien ein Chirurg zur Operation erwartet wurde. Die Mutter
hatte sich für einige Zeit entfernt, und Anna saß am Krankenbette, den rechten
Arm über die Stuhllehne gelegt. Sie geriet in einen Zustand von Wachträumen und
sah, wie von der Wand her eine schwarze Schlange sich dem Kranken näherte, um
ihn zu beißen. (Es ist sehr wahrscheinlich, daß auf der Wiese hinter dem Hause
wirklich einige Schlangen vorkamen, über die das Mädchen schon früher
erschrocken war, und die nun das Material der Halluzination abgaben.) Sie
wollte das Tier abwehren, war aber wie gelähmt; der rechte Arm, über die
Stuhllehne hängend, war ›eingeschlafen‹, anästhetisch und paretisch[p. 9] geworden, und als
sie ihn betrachtete, verwandelten sich die Finger in kleine Schlangen mit
Totenköpfen (Nägel). Wahrscheinlich machte sie Versuche, die Schlange mit der
gelähmten rechten Hand zu verjagen, und dadurch trat die Anästhesie und Lähmung
derselben in Assoziation mit der Schlangenhalluzination. Als diese verschwunden
war, wollte sie in ihrer Angst beten, aber jede Sprache versagte, sie konnte in
keiner sprechen, bis sie endlich einen englischen
Kindervers fand und nun auch in dieser Sprache fortdenken und beten konnte.«[6] Mit der Erinnerung dieser Szene in der Hypnose war auch die seit Beginn
der Krankheit bestehende steife Lähmung des rechten Armes beseitigt und die
Behandlung beendigt.
[5] Studien über Hysterie, 2. Aufl., p. 31.
[6] l. c. p. 30. Als ich eine Anzahl von Jahren
später die Breuersche Untersuchungs- und
Behandlungsmethode an meinen eigenen Kranken zu üben begann, machte ich
Erfahrungen, die sich mit den seinigen vollkommen deckten. Bei einer etwa
40jährigen Dame bestand ein Tic, ein eigentümlich schnalzendes Geräusch, das
sie bei jeder Aufregung und auch ohne ersichtlichen Anlaß hervorbrachte. Es
hatte seinen Ursprung in zwei Erlebnissen, denen gemeinsam war, daß sie sich
vornahm, jetzt ja keinen Lärm zu machen, und bei denen wie durch eine Art von
Gegenwillen gerade dieses Geräusch die Stille durchbrach; das eine Mal, als sie
ihr krankes Kind endlich mühselig eingeschläfert hatte und sich sagte, sie
müsse jetzt ganz still sein, um es nicht zu wecken, und das andere Mal, als
während einer Wagenfahrt mit ihren beiden Kindern im Gewitter die Pferde scheu
wurden, und sie sorgfältig jeden Lärm vermeiden wollte, um die Tiere nicht noch
mehr zu schrecken.[7] Ich gebe dieses[p. 10] Beispiel anstatt vieler anderer, die in
den »Studien über Hysterie« niedergelegt sind.[8]
[7] l. c. 2. Aufl., p. 43 u. 46.
[8] Eine Auswahl aus diesem Buche, vermehrt durch einige
spätere Abhandlungen über Hysterie, liegt gegenwärtig in einer englischen, von
Dr. A. A. Brill in New York besorgten
Übersetzung vor. Meine Damen und Herren, wenn Sie
mir die Verallgemeinerung gestatten, die ja bei so abgekürzter Darstellung
unvermeidlich ist, so können wir unsere bisherige Erkenntnis in die Formel fassen:
Unsere hysterisch Kranken leiden an Reminiszenzen. Ihre
Symptome sind Reste und Erinnerungssymbole für gewisse (traumatische)
Erlebnisse. Ein Vergleich mit anderen Erinnerungssymbolen auf anderen Gebieten
wird uns vielleicht tiefer in das Verständnis dieser Symbolik führen. Auch die
Denkmäler und Monumente, mit denen wir unsere großen Städte zieren, sind solche
Erinnerungssymbole. Wenn Sie einen Spaziergang durch London
machen, so finden Sie vor einem der größten Bahnhöfe der Stadt eine
reichverzierte gotische Säule, das Charing Cross. Einer
der alten Plantagenetkönige im XIII. Jahrhundert, der den Leichnam seiner
geliebten Königin Eleanor nach Westminster überführen ließ, errichtete gotische
Kreuze an jeder der Stationen, wo der Sarg niedergestellt wurde, und Charing Cross ist das letzte der Denkmäler, welche die
Erinnerung an diesen Trauerzug erhalten sollten.[9] An einer
anderen Stelle der Stadt, nicht weit von London Bridge, erblicken Sie eine
modernere hochragende Säule, die kurzweg »The Monument«
genannt wird. Sie soll zur Erinnerung an das große Feuer mahnen, welches[p. 11] im Jahre 1666 dort in der Nähe ausbrach und einen großen Teil der Stadt
zerstörte. Diese Monumente sind also Erinnerungssymbole wie die hysterischen
Symptome, soweit scheint die Vergleichung berechtigt. Aber was würden Sie zu
einem Londoner sagen, der heute noch vor dem Denkmal des Leichenzuges der
Königin Eleanor in Wehmut stehen bliebe, anstatt mit der von den modernen
Arbeitsverhältnissen geforderten Eile seinen Geschäften nachzugehen oder sich
der eigenen jugendfrischen Königin seines Herzens zu erfreuen? Oder zu einem
anderen, der vor dem »Monument« die Einäscherung seiner geliebten Vaterstadt
beweinte, die doch seither längst soviel glänzender wiedererstanden ist? So wie
diese beiden unpraktischen Londoner benehmen sich aber die Hysterischen und
Neurotiker alle; nicht nur, daß sie die längst vergangenen schmerzlichen
Erlebnisse erinnern, sie hängen noch affektvoll an ihnen, sie kommen von der
Vergangenheit nicht los und vernachlässigen für sie die Wirklichkeit und die
Gegenwart. Diese Fixierung des Seelenlebens an die pathogenen Traumen ist einer
der wichtigsten und praktisch bedeutsamsten Charaktere der Neurose.
[9] Vielmehr die spätere Nachbildung eines solchen Denkmals.
Der Name Charing selbst soll, wie mir Dr. E. Jones mitteilte, aus den Worten Chère reine
hervorgegangen sein. Ich gebe Ihnen gern den Einwand
zu, den Sie jetzt wahrscheinlich bilden, indem Sie an die Krankengeschichte der
Breuerschen Patientin denken. Alle ihre Traumen
entstammten ja der Zeit, da sie den kranken Vater pflegte, und ihre Symptome
können nur als Erinnerungszeichen für seine Krankheit und seinen Tod aufgefaßt
werden. Sie entsprechen also einer Trauer, und eine Fixierung an das Andenken
des Verstorbenen ist so kurze Zeit nach dem Ableben desselben gewiß nichts
Pathologisches, entspricht vielmehr einem normalen Gefühlsvorgang. Ich gestehe
Ihnen dieses zu; die Fixierung an die Traumen ist bei der Patientin Breuers nichts Auffälliges. Aber in anderen Fällen, wie in dem
von mir behandelten Tic,[p.
12] dessen Veranlassungen um mehr als fünfzehn und
zehn Jahre zurücklagen, ist der Charakter des abnormen Haftens am Vergangenen
sehr deutlich, und die Patientin Breuers hätte ihn
wahrscheinlich gleichfalls entwickelt, wenn sie nicht so kurze Zeit nach dem
Erleben der Traumen und der Entstehung der Symptome zur kathartischen
Behandlung gekommen wäre. Wir haben bisher nur die
Beziehung der hysterischen Symptome zur Lebensgeschichte der Kranken erörtert;
aus zwei weiteren Momenten der Breuerschen Beobachtung
können wir aber auch einen Hinweis darauf gewinnen, wie wir den Vorgang der
Erkrankung und der Wiederherstellung aufzufassen haben. Fürs erste ist
hervorzuheben, daß die Kranke Breuers fast in allen
pathogenen Situationen eine starke Erregung zu unterdrücken hatte, anstatt ihr
durch die entsprechenden Affektzeichen, Worte und Handlungen, Ablauf zu
ermöglichen. In dem kleinen Erlebnis mit dem Hund ihrer Gesellschafterin
unterdrückte sie aus Rücksicht auf diese jede Äußerung ihres sehr intensiven
Ekels; während sie am Bette des Vaters wachte, trug sie beständig Sorge, den
Kranken nichts von ihrer Angst und ihrer schmerzlichen Verstimmung merken zu
lassen. Als sie später diese selben Szenen vor ihrem Arzt reproduzierte, trat
der damals gehemmte Affekt mit besonderer Heftigkeit, als ob er sich solange
aufgespart hätte, auf. Ja, das Symptom, welches von dieser Szene erübrigt war,
gewann seine höchste Intensität, während man sich seiner Verursachung näherte,
um nach der völligen Erledigung derselben zu verschwinden. Anderseits konnte
man die Erfahrung machen, daß das Erinnern der Szene beim Arzte wirkungslos
blieb, wenn es aus irgend einem Grunde einmal ohne
Affektentwicklung ablief. Die Schicksale dieser Affekte, die man sich als
verschiebbare Größen vorstellen konnte, waren also das Maßgebende[p. 13] für die Erkrankung wie für die Wiederherstellung. Man sah sich zur Annahme
gedrängt, daß die Erkrankung darum zu stande kam, weil den in den pathogenen
Situationen entwickelten Affekten ein normaler Ausweg versperrt war, und daß
das Wesen der Erkrankung darin bestand, daß nun diese »eingeklemmten« Affekte
einer abnormen Verwendung unterlagen. Zum Teil blieben sie als dauernde
Belastungen des Seelenlebens und Quellen beständiger Erregung für dasselbe
bestehen; zum Teil erfuhren sie eine Umsetzung in ungewöhnliche körperliche Innervationen und Hemmungen, die sich als
die körperlichen Symptome des Falles darstellten. Wir haben für diesen
letzteren Vorgang den Namen der »hysterischen Konversion«
geprägt. Ein gewisser Anteil unserer seelischen Erregung wird ohnedies
normalerweise auf die Wege der körperlichen Innervation geleitet und ergibt
das, was wir als »Ausdruck der Gemütsbewegungen« kennen. Die hysterische
Konversion übertreibt nun diesen Anteil des Ablaufs eines mit Affekt besetzten
seelischen Vorganges; sie entspricht einem weit intensiveren, auf neue Bahnen
geleiteten Ausdruck der Gemütsbewegung. Wenn ein Strombett in zwei Kanälen
fließt, so wird eine Überfüllung des einen stattfinden, sobald die Strömung in
dem anderen auf ein Hindernis stößt. Sie sehen, wir sind im Begriffe,
zu einer rein psychologischen Theorie der Hysterie zu gelangen, in welcher wir den
Affektvorgängen den ersten Rang anweisen. Eine zweite Beobachtung Breuers nötigt uns nun, in der Charakteristik des krankhaften
Geschehens den Bewußtseinszuständen eine große Bedeutung einzuräumen. Die
Kranke Breuers zeigte mannigfaltige seelische Verfassungen,
Zustände von Abwesenheit, Verworrenheit und Charakterveränderung neben ihrem
Normalzustand. Im Normalzustand wußte sie nun nichts von jenen[p. 14] pathogenen Szenen und von deren Zusammenhang mit ihren Symptomen; sie
hatte diese Szenen vergessen oder jedenfalls den pathogenen Zusammenhang
zerrissen. Wenn man sie in die Hypnose versetzte, gelang es nach Aufwendung
beträchtlicher Arbeit, ihr diese Szenen ins Gedächtnis zurückzurufen, und durch
diese Arbeit des Wiedererinnerns wurden die Symptome aufgehoben. Man wäre in
großer Verlegenheit, wie man diese Tatsache deuten sollte, wenn nicht die
Erfahrungen und Experimente des Hypnotismus den Weg dazu gewiesen hätten. Durch
das Studium der hypnotischen Phänomene hat man sich an die anfangs befremdliche
Auffassung gewöhnt, daß in einem und demselben Individuum mehrere seelische
Gruppierungen möglich sind, die ziemlich unabhängig von einander bleiben
können, von einander »nichts wissen«, und die das Bewußtsein alternierend an
sich reißen. Fälle solcher Art, die man als »Double conscience« bezeichnet,
kommen gelegentlich auch spontan zur Beobachtung. Wenn bei solcher Spaltung der
Persönlichkeit das Bewußtsein konstant an den einen der beiden Zustände
gebunden bleibt, so heißt man diesen den bewußten
Seelenzustand, den von ihm abgetrennten den unbewußten.
In den bekannten Phänomenen der sogenannten posthypnotischen Suggestion, wobei
ein in der Hypnose gegebener Auftrag sich später im Normalzustand gebieterisch
durchsetzt, hat man ein vorzügliches Vorbild für die Beeinflussungen, die der
bewußte Zustand durch den für ihn unbewußten erfahren kann, und nach diesem
Muster gelingt es allerdings, sich die Erfahrungen bei der Hysterie
zurechtzulegen. Breuer entschloß sich zur Annahme, daß
die hysterischen Symptome in solchen besonderen seelischen Zuständen, die er hypnoide nannte, entstanden seien. Erregungen, die in solche
hypnoide Zustände hineingeraten, werden leicht pathogen, weil diese Zustände
nicht die Bedingungen[p.
15] für einen normalen Ablauf der Erregungsvorgänge
bieten. Es entsteht also aus dem Erregungsvorgang ein ungewöhnliches Produkt,
eben das Symptom, und dieses ragt wie ein Fremdkörper in den Normalzustand
hinein, dem dafür die Kenntnis der hypnoiden pathogenen Situation abgeht. Wo
ein Symptom besteht, da findet sich auch eine Amnesie, eine Erinnerungslücke,
und die Ausfüllung dieser Lücke schließt die Aufhebung der
Entstehungsbedingungen des Symptoms in sich ein. Ich fürchte, daß Ihnen dieses Stück meiner Darstellung nicht sehr durchsichtig erschienen ist. Aber haben Sie Nachsicht, es handelt sich um neue und schwierige Anschauungen, die vielleicht nicht viel klarer gemacht werden können; ein Beweis dafür, daß wir mit unserer Erkenntnis noch nicht sehr weit vorgedrungen sind. Die Breuersche Aufstellung der hypnoiden Zustände hat sich übrigens als hemmend und überflüssig erwiesen und ist von der heutigen Psychoanalyse fallen gelassen worden. Sie werden später wenigstens andeutungsweise hören, welche Einflüsse und Vorgänge hinter der von Breuer aufgestellten Schranke der hypnoiden Zustände zu entdecken waren. Sie werden auch mit Recht den Eindruck empfangen haben, daß die Breuersche Forschung Ihnen nur eine sehr unvollständige Theorie und unbefriedigende Aufklärung der beobachteten Erscheinungen geben konnte, aber vollkommene Theorien fallen nicht vom Himmel, und Sie werden mit noch größerem Recht mißtrauisch sein, wenn Ihnen jemand eine lückenlose und abgerundete Theorie bereits zu Anfang seiner Beobachtungen anbietet. Eine solche wird gewiß nur das Kind seiner Spekulation sein können und nicht die Frucht voraussetzungsloser Erforschung des Tatsächlichen.[p. 16] II.
Meine Damen und Herren! Etwa
gleichzeitig, während Breuer mit seiner Patientin die
Talking cure übte, hatte Meister Charcot in Paris jene
Untersuchungen über die Hysterischen der Salpêtrière begonnen, von denen ein
neues Verständnis der Krankheit ausgehen sollte. Diese Resultate konnten damals
in Wien noch nicht bekannt sein. Als aber etwa ein Dezennium später Breuer und ich die vorläufige Mitteilung über den psychischen
Mechanismus hysterischer Phänomene veröffentlichten, welche an die kathartische
Behandlung bei Breuers erster Patientin anknüpfte, da
befanden wir uns ganz im Banne der Charcotschen
Forschungen. Wir stellten die pathogenen Erlebnisse unserer Kranken als
psychische Traumen jenen körperlichen Traumen gleich, deren Einfluß auf
hysterische Lähmungen Charcot festgestellt hatte, und Breuers Aufstellung der hypnoiden Zustände ist selbst nichts
anderes als ein Reflex der Tatsache, daß Charcot jene
traumatischen Lähmungen in der Hypnose künstlich reproduziert hatte. Der große französische
Beobachter, dessen Schüler ich 1885/86 wurde, war selbst psychologischen
Auffassungen nicht geneigt; erst sein Schüler P. Janet
versuchte ein tieferes Eindringen in die besonderen psychischen Vorgänge bei der
Hysterie, und wir folgten seinem Beispiele, als wir die seelische Spaltung und
den Zerfall der Persönlichkeit in das Zentrum[p. 17] unserer Auffassung rückten. Sie finden
bei Janet eine Theorie der Hysterie, welche den in
Frankreich herrschenden Lehren über die Rolle der Erblichkeit und der
Degeneration Rechnung trägt. Die Hysterie ist nach ihm eine Form der
degenerativen Veränderung des Nervensystems, welche sich durch eine angeborene
Schwäche der psychischen Synthese kundgibt. Die hysterisch Kranken seien von
Anfang an unfähig, die Mannigfaltigkeit der seelischen Vorgänge zu einer
Einheit zusammenzuhalten, und daher komme die Neigung zur seelischen
Dissoziation. Wenn Sie mir ein banales aber deutliches Gleichnis gestatten, Janets Hysterische erinnert an eine schwache Frau, die
ausgegangen ist, um Einkäufe zu machen, und nun mit einer Menge von Schachteln
und Paketen beladen zurückkommt. Sie kann den ganzen Haufen mit ihren zwei
Armen und zehn Fingern nicht bewältigen, und so entfällt ihr zuerst ein Stück.
Bückt sie sich, um dieses aufzuheben, so macht sich dafür ein anderes los
u. s. w. Es stimmt nicht gut zu dieser angenommenen seelischen
Schwäche der Hysterischen, daß man bei ihnen außer den Erscheinungen
verminderter Leistung auch Beispiele von teilweiser Steigerung der
Leistungsfähigkeit, wie zur Entschädigung, beobachten kann. Zur Zeit, als Breuers Patientin ihre Muttersprache und alle anderen Sprachen
bis auf Englisch vergessen hatte, erreichte ihre Beherrschung des Englischen
eine solche Höhe, daß sie im stande war, wenn man ihr ein deutsches Buch
vorlegte, eine tadellose und fließende Übersetzung desselben vom Blatt
herunterzulesen. Als ich es später unternahm, die
von Breuer begonnenen Untersuchungen auf eigene Faust
fortzusetzen, gelangte ich bald zu einer anderen Ansicht über die Entstehung
der hysterischen Dissoziation (oder Bewußtseinsspaltung). Eine solche, für alles weitere entscheidende, Divergenz mußte sich
notwendigerweise[p. 18] ergeben, da ich nicht wie Janet von
Laboratoriumsversuchen, sondern von therapeutischen Bemühungen ausging. Mich trieb vor allem das
praktische Bedürfnis. Die kathartische Behandlung, wie sie Breuer
geübt hatte, setzte voraus, daß man den Kranken in tiefe Hypnose bringe, denn
nur im hypnotischen Zustand fand er die Kenntnis jener pathogenen
Zusammenhänge, die ihm in seinem Normalzustand abging. Nun war mir die Hypnose
als ein launenhaftes und sozusagen mystisches Hilfsmittel bald unliebsam
geworden; als ich aber die Erfahrung machte, daß es mir trotz aller Bemühungen
nicht gelingen wollte, mehr als einen Bruchteil meiner Kranken in den
hypnotischen Zustand zu versetzen, beschloß ich, die Hypnose aufzugeben und die
kathartische Behandlung von ihr unabhängig zu machen. Weil ich den psychischen
Zustand meiner meisten Patienten nicht nach meinem Belieben verändern konnte,
richtete ich mich darauf ein, mit ihrem Normalzustand zu arbeiten. Das schien
allerdings vorerst ein sinn- und aussichtsloses Unternehmen zu sein. Es war die
Aufgabe gestellt, etwas vom Kranken zu erfahren, was man nicht wußte und was er
selbst nicht wußte; wie konnte man hoffen, dies doch
in Erfahrung zu bringen? Da kam mir die Erinnerung an einen sehr merkwürdigen
und lehrreichen Versuch zu Hilfe, den ich bei Bernheim in
Nancy mitangesehen hatte. Bernheim
zeigte uns damals, daß die Personen, welche er in hypnotischen Somnambulismus
versetzt und in diesem Zustand allerlei hatte erleben lassen, die Erinnerung an
das somnambul Erlebte doch nur zum Schein verloren hatten, und daß es möglich
war, bei ihnen diese Erinnerungen auch im Normalzustand zu erwecken. Wenn er
sie nach den somnambulen Erlebnissen befragte, so behaupteten sie anfangs zwar,
nichts zu wissen, aber wenn er nicht nachgab, drängte, ihnen versicherte,[p. 19] sie wüßten es doch, so kamen die vergessenen Erinnerungen jedesmal wieder. So machte ich es also auch mit
meinen Patienten. Wenn ich mit ihnen bis zu einem Punkte gekommen war, an dem
sie behaupteten, nichts weiter zu wissen, so versicherte ich ihnen, sie wüßten
es doch, sie sollten es nur sagen, und ich getraute mich der Behauptung, daß
die Erinnerung die richtige sein würde, die ihnen in dem Moment käme, wenn ich
meine Hand auf ihre Stirn legte. Auf diese Weise gelang es mir, ohne Anwendung
der Hypnose, von den Kranken alles zu erfahren, was zur Herstellung des
Zusammenhangs zwischen den vergessenen pathogenen Szenen und den von ihnen
erübrigten Symptomen erforderlich war. Aber es war ein mühseliges, ein auf die
Dauer erschöpfendes Verfahren, das sich für eine endgültige Technik, nicht eignen
konnte. Ich gab es jedoch nicht auf, ohne
aus den dabei gemachten Wahrnehmungen die entscheidenden Schlüsse zu ziehen.
Ich hatte es also bestätigt gefunden, daß die vergessenen Erinnerungen nicht
verloren waren. Sie waren im Besitze des Kranken und bereit, in Assoziation an
das von ihm noch Gewußte aufzutauchen, aber irgend eine
Kraft hinderte sie daran, bewußt zu werden und nötigte sie, unbewußt zu
bleiben. Die Existenz dieser Kraft konnte man mit Sicherheit annehmen, denn man
verspürte eine ihr entsprechende Anstrengung, wenn man sich bemühte, im
Gegensatz zu ihr die unbewußten Erinnerungen ins Bewußtsein des Kranken
einzuführen. Man bekam die Kraft, welche den krankhaften Zustand aufrecht
erhielt, als Widerstand des Kranken zu spüren. Auf diese Idee des Widerstandes
habe ich nun meine Auffassung der psychischen Vorgänge bei der Hysterie
gegründet. Es hatte sich als notwendig zur Herstellung erwiesen, diese[p. 20] Widerstände aufzuheben; vom Mechanismus der Heilung aus konnte man sich
jetzt ganz bestimmte Vorstellungen über den Hergang bei der Erkrankung bilden.
Dieselben Kräfte, die heute als Widerstand sich dem Bewußtmachen des
Vergessenen widersetzten, mußten seinerzeit dieses Vergessen bewirkt und die
betreffenden pathogenen Erlebnisse aus dem Bewußtsein gedrängt haben. Ich
nannte diesen von mir supponierten Vorgang Verdrängung
und betrachtete ihn als erwiesen durch die unleugbare Existenz des Widerstandes. Man konnte sich aber auch die
Frage vorlegen, welches diese Kräfte und welche die Bedingungen der Verdrängung
seien, in der wir nun den pathogenen Mechanismus der Hysterie erkennen. Eine
vergleichende Untersuchung der pathogenen Situationen, die man durch die
kathartische Behandlung kennen gelernt hatte, gestattete hierauf Antwort zu
geben. Bei all diesen Erlebnissen hatte es sich darum gehandelt, daß eine
Wunschregung aufgetaucht war, welche in scharfem Gegensatze zu den sonstigen
Wünschen des Individuums stand, sich als unverträglich mit den ethischen und
ästhetischen Ansprüchen der Persönlichkeit erwies. Es hatte einen kurzen
Konflikt gegeben, und das Ende dieses inneren Kampfes war, daß die Vorstellung,
welche als der Träger jenes unvereinbaren Wunsches vor dem Bewußtsein auftrat,
der Verdrängung anheimfiel und mit den zu ihr gehörigen Erinnerungen aus dem
Bewußtsein gedrängt und vergessen wurde. Die Unverträglichkeit der betreffenden
Vorstellung mit dem Ich des Kranken war also das Motiv der Verdrängung; die
ethischen und anderen Anforderungen des Individuums waren die verdrängenden
Kräfte. Die Annahme der unverträglichen Wunschregung oder die Fortdauer des
Konflikts hätten hohe Grade von Unlust hervorgerufen; diese Unlust wurde durch
die Verdrängung erspart,[p. 21] die sich in solcher Art als eine der Schutzvorrichtungen der seelischen
Persönlichkeit erwies. Ich will Ihnen anstatt vieler
einen einzigen meiner Fälle erzählen, in welchem Bedingungen und Nutzen der
Verdrängung deutlich genug zu erkennen sind. Freilich muß ich für meinen Zweck
auch diese Krankengeschichte verkürzen und wichtige Voraussetzungen derselben
bei Seite lassen. Ein junges Mädchen, welches kurz vorher den geliebten Vater
verloren hatte, an dessen Pflege sie beteiligt gewesen war — eine Situation
analog der bei der Patientin Breuers —, brachte, als ihre
ältere Schwester sich verheiratete, dem neuen Schwager eine besondere Sympathie
entgegen, die sich leicht als verwandtschaftliche Zärtlichkeit maskieren
konnte. Diese Schwester erkrankte bald und starb, während die Patientin mit
ihrer Mutter abwesend war. Die Abwesenden wurden eiligst zurückgerufen, ohne in
sichere Kenntnis des schmerzlichen Ereignisses gesetzt zu werden. Als das
Mädchen an das Bett der toten Schwester trat, tauchte für einen kurzen Moment
eine Idee in ihr auf, die sich etwa in den Worten ausdrücken ließe: Jetzt ist er frei und kann mich heiraten. Wir dürfen als sicher
annehmen, daß diese Idee, welche die ihr selbst nicht bewußte intensive Liebe
zum Schwager ihrem Bewußtsein verriet, durch den Aufruhr ihrer Gefühle im
nächsten Moment der Verdrängung überliefert wurde. Das Mädchen erkrankte an
schweren hysterischen Symptomen, und als ich sie in Behandlung genommen hatte,
stellte es sich heraus, daß sie jene Szene am Bette der Schwester und die in
ihr auftretende häßlich-egoistische Regung gründlich vergessen hatte. Sie erinnerte
sich daran in der Behandlung, reproduzierte den pathogenen Moment unter den
Anzeichen heftigster Gemütsbewegung und wurde durch diese Behandlung gesund.[p. 22] Vielleicht darf ich Ihnen den
Vorgang der Verdrängung und deren notwendige Beziehung zum Widerstand durch ein
grobes Gleichnis veranschaulichen, das ich gerade aus unserer gegenwärtigen
Situation herausgreifen will. Nehmen Sie an, hier in diesem Saale und in diesem
Auditorium, dessen musterhafte Ruhe und Aufmerksamkeit ich nicht genug zu preisen
weiß, befände sich doch ein Individuum, welches sich störend benimmt und durch
sein ungezogenes Lachen, Schwätzen, Scharren mit den Füßen meine Aufmerksamkeit
von meiner Aufgabe abzieht. Ich erkläre, daß ich so nicht weiter vortragen
kann, und daraufhin erheben sich einige kräftige Männer unter Ihnen und setzen
den Störenfried nach kurzem Kampfe vor die Tür. Er ist also jetzt »verdrängt«
und ich kann meinen Vortrag fortsetzen. Damit aber die Störung sich nicht
wiederhole, wenn der Herausgeworfene versucht, wieder in den Saal einzudringen,
rücken die Herren, welche meinen Willen zur Ausführung gebracht haben, ihre
Stühle an die Türe an und etablieren sich so als »Widerstand« nach vollzogener
Verdrängung. Wenn Sie nun noch die beiden Lokalitäten hier als das »Bewußte«
und das »Unbewußte« aufs Psychische übertragen, so haben Sie eine ziemlich gute
Nachbildung des Vorgangs der Verdrängung vor sich. Sie sehen nun, worin der
Unterschied unserer Auffassung von der Janetschen gelegen
ist. Wir leiten die psychische Spaltung nicht von einer angeborenen
Unzulänglichkeit zur Synthese des seelischen Apparats ab, sondern erklären sie
dynamisch durch den Konflikt widerstreitender Seelenkräfte, erkennen in ihr das
Ergebnis eines aktiven Sträubens der beiden psychischen Gruppierungen
gegeneinander. Aus unserer Auffassung erheben sich nun neue Fragestellungen in
großer Anzahl. Die Situation des psychischen Konflikts ist ja eine überaus[p. 23] häufige, ein Bestreben des Ichs, sich peinlicher Erinnerung zu erwehren,
wird ganz regelmäßig beobachtet, ohne daß es zum Ergebnis einer seelischen
Spaltung führt. Man kann den Gedanken nicht abweisen, daß es noch anderer
Bedingungen bedarf, wenn der Konflikt die Dissoziation zur Folge haben soll.
Ich gebe Ihnen auch gern zu, daß wir mit der Annahme der Verdrängung nicht am
Ende, sondern erst am Anfang einer psychologischen Theorie stehen, aber wir
können nicht anders als schrittweise vorrücken und müssen die Vollendung der
Erkenntnis weiterer und tiefer eindringender Arbeit überlassen. Unterlassen Sie auch den Versuch,
den Fall der Patientin Breuers unter die Gesichtspunkte
der Verdrängung zu bringen. Diese Krankengeschichte eignet sich hiezu nicht,
weil sie mit Hilfe der hypnotischen Beeinflussung gewonnen worden ist. Erst,
wenn Sie die Hypnose ausschalten, können Sie die Widerstände und Verdrängungen
bemerken und sich von dem wirklichen pathogenen Vorgang eine zutreffende
Vorstellung bilden. Die Hypnose verdeckt den Widerstand und macht ein gewisses
seelisches Gebiet frei zugänglich, dafür häuft sie den
Widerstand an den Grenzen dieses Gebietes zu einem Walle auf, der alles Weitere
unzugänglich macht. Das Wertvollste, was wir aus der Breuerschen Beobachtung gelernt haben, waren die Aufschlüsse
über den Zusammenhang der Symptome mit den pathogenen Erlebnissen oder
psychischen Traumen, und nun dürfen wir nicht versäumen, diese Einsichten vom
Standpunkte der Verdrängungslehre zu würdigen. Man sieht zunächst wirklich
nicht ein, wie man von der Verdrängung aus zur Symptombildung gelangen kann.
Anstatt eine komplizierte theoretische Ableitung zu geben, will ich an dieser
Stelle auf unser früher gebrauchtes Bild für die Verdrängung zurückgreifen.
Denken Sie daran, mit der Entfernung[p.
24] des störenden Gesellen und der Niederlassung der
Wächter vor der Türe braucht die Angelegenheit nicht beendigt zu sein. Es kann
sehr wohl geschehen, daß der Herausgeworfene, der jetzt erbittert und ganz
rücksichtslos geworden ist, uns weiter zu schaffen gibt. Er ist zwar nicht mehr
unter uns, wir sind seine Gegenwart, sein höhnisches Lachen, seine halblauten
Bemerkungen los geworden, aber in gewisser Hinsicht ist die Verdrängung doch
erfolglos gewesen, denn er führt nun draußen einen unerträglichen Spektakel
auf, und sein Schreien und mit den Fäusten an die Türe Pochen hemmt meinen
Vortrag mehr als früher sein unartiges Benehmen. Unter diesen Verhältnissen
würden wir es mit Freuden begrüßen müssen, wenn etwa unser verehrter Präsident
Dr. Stanley Hall die Rolle des Vermittlers und Friedensstifters
übernehmen wollte. Er würde mit dem ungebärdigen Gesellen draußen sprechen und
dann sich an uns mit der Aufforderung wenden, ihn doch wieder einzulassen, er
übernehme die Garantie, daß sich jener jetzt besser betragen werde. Auf Dr. Halls Autorität hin entschließen wir uns dazu, die Verdrängung
wieder aufzuheben und nun tritt wieder Ruhe und Frieden ein. Es ist dies
wirklich keine unpassende Darstellung der Aufgabe, die dem Arzt bei der
psychoanalytischen Therapie der Neurosen zufällt. Um es jetzt direkter zu sagen:
Wir kommen durch die Untersuchung der hysterisch Kranken und anderer Neurotiker
zur Überzeugung, daß ihnen die Verdrängung der Idee, an welcher der
unverträgliche Wunsch hängt, mißlungen ist. Sie haben sie
zwar aus dem Bewußtsein und aus der Erinnerung getrieben und sich anscheinend
eine große Summe Unlust erspart, aber im Unbewußten besteht die
verdrängte Wunschregung weiter, lauert auf eine Gelegenheit, aktiviert
zu werden, und versteht es dann, eine entstellte und unkenntlich[p. 25] gemachte Ersatzbildung für das Verdrängte ins
Bewußtsein zu schicken, an welche sich bald dieselben Unlustempfindungen
knüpfen, die man durch die Verdrängung erspart glaubte. Diese Ersatzbildung für
die verdrängte Idee — das Symptom — ist gegen weitere
Angriffe von Seiten des abwehrenden Ichs gefeit, und an Stelle des kurzen
Konflikts tritt jetzt ein in der Zeit nicht endendes Leiden. An dem Symptom ist
neben den Anzeichen der Entstellung ein Rest von irgendwie vermittelter
Ähnlichkeit mit der ursprünglich verdrängten Idee zu konstatieren; die Wege,
auf denen sich die Ersatzbildung vollzog, lassen sich während der
psychoanalytischen Behandlung des Kranken aufdecken, und zu seiner Heilung ist
es notwendig, daß das Symptom auf diesen nämlichen Wegen wieder in die
verdrängte Idee übergeführt werde. Ist das Verdrängte wieder der bewußten
Seelentätigkeit zugeführt, was die Überwindung beträchtlicher Widerstände
voraussetzt, so kann der so entstandene psychische Konflikt,
den der Kranke vermeiden wollte, unter der Leitung des Arztes einen besseren
Ausgang finden, als ihn die Verdrängung bot. Es gibt mehrere solcher
zweckmäßiger Erledigungen, welche Konflikt und Neurose zum glücklichen Ende
führen, im einzelnen Falle auch miteinander kombiniert erzielt werden können.
Entweder wird die Persönlichkeit des Kranken überzeugt, daß sie den pathogenen
Wunsch mit Unrecht abgewiesen hat, und veranlaßt, ihn ganz oder teilweise zu
akzeptieren, oder dieser Wunsch wird selbst auf ein höheres und darum
einwandfreies Ziel geleitet (was man seine Sublimierung
heißt), oder man erkennt seine Verwerfung als zu Recht bestehend an, ersetzt
aber den automatischen und darum unzureichenden Mechanismus der Verdrängung
durch eine Verurteilung mit Hilfe der höchsten geistigen Leistungen des
Menschen; man erreicht seine bewußte Beherrschung.[p. 26] Verzeihen Sie mir, wenn es mir nicht gelungen ist, Ihnen diese Hauptgesichtspunkte der nun Psychoanalyse genannten Behandlungsmethode klarer faßlich darzustellen. Die Schwierigkeiten liegen nicht nur in der Neuheit des Gegenstandes. Welcher Art die unverträglichen Wünsche sind, die sich trotz der Verdrängung aus dem Unbewußten vernehmbar zu machen verstehen, und welche subjektiven oder konstitutionellen Bedingungen bei einer Person zutreffen müssen, damit sich ein solches Mißlingen der Verdrängung und eine Ersatz- oder Symptombildung vollziehe, darüber werden noch einige spätere Bemerkungen Aufschluß geben.[p. 27] III.
Meine Damen und Herren! Es ist
nicht immer leicht die Wahrheit zu sagen, besonders wenn man kurz sein muß, und
so bin ich heute genötigt, eine Unrichtigkeit zu korrigieren, die ich in meinem
letzten Vortrag vorgebracht habe. Ich sagte Ihnen, wenn ich unter Verzicht auf
die Hypnose in meine Kranken drang, mir doch mitzuteilen, was ihnen zu dem eben
behandelten Problem einfiele; sie wüßten ja doch alles angeblich Vergessene,
und der auftauchende Einfall werde gewiß das Gesuchte enthalten, so machte ich
tatsächlich die Erfahrung, daß der nächste Einfall meines Kranken das richtige
brachte und sich als die vergessene Fortsetzung der Erinnerung erwies. Nun, das
ist nicht allgemein richtig; ich habe es nur der Abkürzung halber so einfach
dargestellt. In Wirklichkeit traf es nur die ersten Male zu, daß sich das
richtige Vergessene durch einfaches Drängen von meiner Seite einstellte. Setzte
man das Verfahren fort, so kamen jedesmal Einfälle, die nicht die richtigen
sein konnten, weil sie nicht passend waren, und die die Kranken selbst als
unrichtig verwarfen. Das Drängen brachte hier keine weitere Hilfe, und man
konnte wieder bedauern, die Hypnose aufgegeben zu haben. In diesem Stadium der
Ratlosigkeit klammerte ich mich an ein Vorurteil, dessen wissenschaftliche
Berechtigung Jahre später durch meinen Freund C. G. Jung
in Zürich und seine Schüler erwiesen wurde. Ich muß behaupten, es ist manchmal
recht[p. 28] nützlich, Vorurteile zu haben. Ich brachte eine hohe Meinung von der
Strenge der Determinierung seelischer Vorgänge mit und konnte nicht daran
glauben, daß ein Einfall des Kranken, den er bei gespannter Aufmerksamkeit
produzierte, ganz willkürlich und außer Beziehung zu der von uns gesuchten
vergessenen Vorstellung sei; daß er mit dieser nicht identisch war, ließ sich
aus der vorausgesetzten psychologischen Situation befriedigend erklären. In dem
behandelten Kranken wirkten zwei Kräfte gegen einander, einerseits sein
bewußtes Bestreben, das in seinem Unbewußten vorhandene Vergessene ins
Bewußtsein zu ziehen, anderseits der uns bekannte Widerstand, der sich gegen
solches Bewußtwerden des Verdrängten oder seiner Abkömmlinge sträubte. War
dieser Widerstand gleich Null oder sehr gering, so wurde das Vergessene ohne
Entstellung bewußt; es lag also nahe, anzunehmen, daß die Entstellung des
Gesuchten um so größer ausfallen werde, je größer der
Widerstand gegen das Bewußtwerden des Gesuchten sei. Der Einfall des Kranken,
der anstatt des Gesuchten kam, war also selbst entstanden wie ein Symptom; er
war eine neue, künstliche und ephemere Ersatzbildung für das Verdrängte, und
demselben um so unähnlicher, eine je größere Entstellung er unter dem Einfluß
des Widerstandes erfahren hatte. Er mußte aber doch eine gewisse Ähnlichkeit
mit dem Gesuchten aufweisen, kraft seiner Natur als Symptom, und bei nicht zu
intensivem Widerstand mußte es möglich sein, aus dem Einfall das verborgene
Gesuchte zu erraten. Der Einfall mußte sich zum verdrängten Element verhalten
wie eine Anspielung, wie eine Darstellung desselben in indirekter
Rede. Wir kennen auf dem Gebiete des
normalen Seelenlebens Fälle, in denen analoge Situationen wie die von uns
angenommene auch ähnliche Ergebnisse liefern. Ein solcher Fall ist der des[p. 29] Witzes. Durch die Probleme der psychoanalytischen
Technik bin ich denn auch genötigt worden, mich mit der Technik der Witzbildung
zu beschäftigen. Ich will Ihnen ein einziges solches Beispiel erläutern,
übrigens einen Witz in englischer Sprache. Die Anekdote erzählt:[10] Zwei wenig skrupulösen Geschäftsleuten war es gelungen, sich durch eine
Reihe recht gewagter Unternehmungen ein großes Vermögen zu erwerben, und nun
ging ihr Bemühen dahin, sich der guten Gesellschaft aufzudrängen. Unter anderem
erschien es ihnen als ein zweckmäßiges Mittel, sich von dem vornehmsten und
teuersten Maler der Stadt, dessen Bilder als Ereignisse betrachtet wurden,
malen zu lassen. Auf einer großen Soiree wurden die kostbaren Bilder zuerst
gezeigt, und die beiden Hausherren führten selbst den einflußreichsten
Kunstkenner und Kritiker zur Wand des Salons, auf welcher die beiden Portraits
nebeneinander aufgehängt waren, um ihm sein bewunderndes Urteil zu entlocken.
Der sah die Bilder lange Zeit an, schüttelte dann den Kopf, als ob er etwas
vermissen würde, und fragte bloß, auf den freien Raum zwischen beiden Bildern
deutend: »And where is the Saviour?« Ich sehe, Sie
lachen alle über diesen guten Witz, in dessen Verständnis wir nun eindringen
wollen. Wir verstehen, daß der Kunstkenner sagen will: Ihr seid ein Paar
Spitzbuben, wie die, zwischen denen man den Heiland ans Kreuz hängte. Aber er
sagt es nicht, anstatt dessen äußert er etwas, was zunächst sonderbar unpassend
und nicht dazu gehörig scheint, was wir aber im nächsten Moment als eine Anspielung auf die von ihm beabsichtigte Beschimpfung und als
einen vollgültigen Ersatz für dieselbe erkennen. Wir können nicht erwarten, daß
sich beim Witz alle die Verhältnisse widerfinden[p. 30] lassen, die wir bei der Entstehung des
Einfalles bei unseren Patienten vermuten, aber auf die Identität in der
Motivierung von Witz und Einfall wollen wir Gewicht legen. Warum sagt unser
Kritiker den beiden Spitzbuben nicht direkt, was er ihnen sagen möchte? Weil
neben seinem Gelüste, es ihnen unverhüllt ins Gesicht zu sagen, sehr gute
Gegenmotive in ihm wirksam sind. Es ist nicht ungefährlich, Leute zu
beleidigen, bei denen man zu Gaste ist, und die über die kräftigen Fäuste einer
zahlreichen Dienerschaft verfügen. Man kann leicht jenem Schicksal verfallen,
das ich im vorigen Vortrag in eine Analogie mit der »Verdrängung« brachte. Aus
diesem Grunde bringt der Kritiker die beabsichtigte Beschimpfung nicht direkt,
sondern in entstellter Form als eine »Anspielung mit Auslassung« zum Ausdruck,
und dieselbe Konstellation verschuldet es nach unserer Meinung, daß unser
Patient, anstatt des gesuchten Vergessenen, einen mehr oder minder entstellten Ersatzeinfall produziert. [10] Der Witz und seine Beziehung zum
Unbewußten. Fr. Deuticke, Wien 1905 (p. 59). Meine Damen und Herren! Es ist
recht zweckmäßig, eine Gruppe von zusammengehörigen, mit Affekt besetzten Vorstellungselementen
nach dem Vorgang der Züricher Schule (Bleuler,
Jung u. a.) als einen »Komplex«
zu bezeichnen. Wir sehen also, wenn wir bei einem Kranken, von dem letzten, was
er noch erinnert, ausgehen, um einen verdrängten Komplex zu suchen, so haben
wir alle Aussicht, diesen zu erraten, wenn uns der Kranke eine genügende Anzahl
seiner freien Einfälle zur Verfügung stellt. Wir lassen also den Kranken reden,
was er will, und halten an der Voraussetzung fest, daß ihm nichts anderes
einfallen kann, als was in indirekter Weise von dem gesuchten Komplex abhängt.
Erscheint Ihnen dieser Weg, das Verdrängte aufzufinden, allzu umständlich, so
kann ich Ihnen wenigstens die Versicherung geben, daß er der einzig gangbare
ist.[p. 31] Wenn wir diese Technik ausüben,
so werden wir noch durch die Tatsache gestört, daß der Kranke häufig inne hält,
in Stockungen gerät und behauptet, er wisse nichts zu sagen, es falle ihm
überhaupt nichts ein. Träfe dies zu und hätte der Kranke recht, so wäre unser
Verfahren wiederum als unzulänglich erwiesen. Allein eine feinere Beobachtung
zeigt, daß ein solches Versagen der Einfälle eigentlich nie eintritt. Dieser
Anschein kommt nur dadurch zu stande, daß der Kranke den wahrgenommenen Einfall
unter dem Einfluß der Widerstände, die sich in verschiedene kritische Urteile
über den Wert des Einfalls kleiden, zurückhält oder wieder beseitigt. Man
schützt sich dagegen, indem man ihm dieses Verhalten vorhersagt und von ihm
fordert, daß er sich um diese Kritik nicht kümmere. Er soll unter völligem
Verzicht auf solche kritische Auswahl alles sagen, was ihm in den Sinn kommt,
auch wenn er es für unrichtig, für nicht dazu gehörig, für unsinnig hält, vor
allem auch dann, wenn es ihm unangenehm ist, sein Denken mit dem Einfall zu
beschäftigen. Durch die Befolgung dieser Vorschrift sichern wir uns das
Material, welches uns auf die Spur der verdrängten Komplexe führt. Dies Material von Einfällen,
welche der Kranke geringschätzend von sich weist, wenn er unter dem Einflüsse
des Widerstandes anstatt unter dem des Arztes steht, stellt für den
Psychoanalytiker gleichsam das Erz dar, dem er mit Hilfe von einfachen
Deutungskünsten seinen Gehalt an wertvollem Metall entzieht. Wollen Sie sich
bei einem Kranken eine rasche und vorläufige Kenntnis der verdrängten Komplexe
schaffen, ohne noch auf deren Anordnung und Verknüpfung einzugehen, so bedienen
Sie sich dazu der Prüfung mit dem Assoziationsexperiment,
wie sie Jung[11] und
seine Schüler ausgebildet[p.
32] haben. Dies Verfahren leistet dem
Psychoanalytiker so viel wie die qualitative Analyse dem Chemiker; es ist in
der Therapie der neurotisch Kranken entbehrlich, unentbehrlich aber zur
objektiven Demonstration der Komplexe und bei der Untersuchung der Psychosen,
die von der Züricher Schule so erfolgreich in Angriff genommen worden ist. [11] C. G. Jung,
Diagnostische Assoziationsstudien, I. Bd., 1906. Die Bearbeitung der Einfälle,
welche sich dem Patienten ergeben, wenn er sich der psychoanalytischen
Hauptregel unterwirft, ist nicht das einzige unserer technischen Mittel zur
Erschließung des Unbewußten. Dem gleichen Zwecke dienen zwei andere Verfahren,
die Deutung seiner Träume und die Verwertung seiner Fehl- und
Zufallshandlungen. Ich gestehe Ihnen, meine geehrten
Zuhörer, daß ich lange geschwankt habe, ob ich Ihnen anstatt dieser gedrängten
Übersicht über das ganze Gebiet der Psychoanalyse nicht lieber eine
ausführliche Darstellung der Traumdeutung bieten soll.
Ein rein subjektives und anscheinend sekundäres Motiv hat mich davon
zurückgehalten. Es erschien mir fast anstößig, in diesem praktischen Zielen zugewendeten Lande als »Traumdeuter« aufzutreten, ehe Sie
noch wissen konnten, auf welche Bedeutung diese veraltete und verspottete Kunst
Anspruch erheben kann. Die Traumdeutung ist in Wirklichkeit die Via Regia zur
Kenntnis des Unbewußten, die sicherste Grundlage der Psychoanalyse und jenes
Gebiet, auf welchem jeder Arbeiter seine Überzeugung zu gewinnen und seine
Ausbildung anzustreben hat. Wenn ich gefragt werde, wie man Psychoanalytiker
werden kann, so antworte ich, durch das Studium seiner eigenen Träume. Mit
richtigem Takt sind alle Gegner der Psychoanalyse bisher einer Würdigung der
»Traumdeutung«[12] ausgewichen oder haben mit den
seichtesten Einwendungen über sie hinwegzukommen getrachtet.[p. 33] Wenn Sie im Gegenteile die Lösungen der Probleme des Traumlebens
anzunehmen vermögen, werden Ihnen die Neuheiten, welche die Psychoanalyse Ihrem
Denken zumutet, keine Schwierigkeiten mehr bieten. [12] Die Traumdeutung, 2. Aufl.,
Fr. Deuticke, Wien 1909. Vergessen Sie nicht daran, daß
unsere nächtlichen Traumproduktionen einerseits die größte äußere Ähnlichkeit
und innere Verwandtschaft mit den Schöpfungen der Geisteskrankheiten zeigen,
anderseits aber mit der vollen Gesundheit des Wachlebens verträglich sind. Es
ist keine absurd klingende Behauptung, daß, wer jenen »normalen«
Sinnestäuschungen, Wahnideen und Charakteränderungen Verwunderung anstatt
Verständnis entgegenbringt, auch nicht die leiseste Aussicht hat, die abnormen
Bildungen krankhafter Seelenzustände anders als im laienhaften Sinne zu
begreifen. Zu diesen Laien dürfen Sie heute getrost fast alle Psychiater zählen.
Folgen Sie mir nun auf einem flüchtigen Streifzug durch das Gebiet der
Traumprobleme. Wir pflegen, wenn wir erwacht
sind, die Träume so verächtlich zu behandeln, wie der Patient die Einfälle, die
der Psychoanalytiker von ihm fordert. Wir weisen sie aber auch von uns ab,
indem wir sie in der Regel rasch und vollständig vergessen. Unsere
Geringschätzung gründet sich auf den fremdartigen Charakter selbst jener
Träume, die nicht verworren und unsinnig sind, und auf die evidente Absurdität
und Sinnlosigkeit anderer Träume; unsere Abweisung beruft sich auf die
ungehemmt schamlosen und unmoralischen Strebungen, die in manchen Träumen offen
zu Tage treten. Das Altertum hat diese Geringschätzung der Träume bekanntlich
nicht geteilt. Die niederen Schichten unseres Volkes lassen sich in der
Wertschätzung der Träume auch heute nicht irre machen; sie erwarten von ihnen
wie die Alten die Enthüllung der Zukunft. Ich bekenne, daß ich kein
Bedürfnis nach mystischen Annahmen[p.
34] zur Ausfüllung der Lücken unserer gegenwärtigen
Erkenntnis habe, und darum habe ich auch nie etwas finden können, was eine
prophetische Natur der Träume bestätigte. Es läßt sich viel andersartiges, was
auch wunderbar genug ist, über die Träume sagen. Zunächst, nicht alle Träume sind
dem Träumer wesensfremd, unverständlich und verworren. Wenn Sie die Träume
jüngster Kinder, von 1½ Jahren an, Ihrer Betrachtung unterziehen wollen, so
finden sie dieselben ganz simpel und leicht aufzuklären. Das kleine Kind träumt
immer die Erfüllung von Wünschen, die der Tag vorher in ihm erweckt und nicht
befriedigt hat. Sie bedürfen keiner Deutungskunst, um diese einfache Lösung zu
finden, sondern nur der Erkundigung nach den Erlebnissen des Kindes am Vortag
(Traumtag). Es wäre nun gewiß die befriedigendste Lösung des Traumrätsels, wenn
auch die Träume der Erwachsenen nichts anderes wären als die der Kinder,
Erfüllungen von Wunschregungen, die ihnen der Traumtag gebracht hat. So ist es
auch in Wirklichkeit; die Schwierigkeiten, welche dieser Lösung im Wege stehen,
lassen sich durch eine eingehendere Analyse der Träume schrittweise beseitigen. Da ist vor allem die erste und
gewichtigste Einwendung, daß die Träume Erwachsener gewöhnlich einen
unverständlichen Inhalt haben, der am wenigsten etwas von Wunscherfüllung erkennen
läßt. Die Antwort lautet hier: Diese Träume haben eine Entstellung erfahren;
der psychische Vorgang, der ihnen zu Grunde liegt, hätte ursprünglich ganz
anderen Ausdruck in Worten finden sollen. Sie müssen den manifesten
Trauminhalt, wie Sie ihn am Morgen verschwommen erinnern und mühselig,
anscheinend willkürlich, in Worte kleiden, unterscheiden von den latenten Traumgedanken, die Sie im Unbewußten vorhanden
anzunehmen haben. Diese Traumentstellung[p.
35] ist derselbe Vorgang, den Sie bei der Untersuchung
der Bildung hysterischer Symptome kennen gelernt haben; sie weist auch darauf
hin, daß das gleiche Gegenspiel der seelischen Kräfte bei der Traumbildung wie
bei der Symptombildung beteiligt ist. Der manifeste Trauminhalt ist der
entstellte Ersatz für die unbewußten Traumgedanken, und diese Entstellung ist
das Werk von abwehrenden Kräften des Ichs, Widerständen, welche den verdrängten
Wünschen des Unbewußten den Zugang zum Bewußtsein im Wachleben überhaupt
verwehren, in der Herabsetzung des Schlafzustandes aber wenigstens noch so
stark sind, daß sie ihnen eine verhüllende Vermummung aufnötigen. Der Träumer
erkennt dann den Sinn seiner Träume ebenso wenig wie der Hysterische die
Beziehung und Bedeutung seiner Symptome. Daß es latente Traumgedanken gibt
und daß zwischen ihnen und dem manifesten Trauminhalt wirklich die eben
beschriebene Relation besteht, davon überzeugen Sie sich bei der Analyse der
Träume, deren Technik mit der psychoanalytischen zusammenfällt. Sie sehen von
dem scheinbaren Zusammenhang der Elemente im manifesten Traum ganz ab und
suchen sich die Einfälle zusammen, die sich bei freier Assoziation nach der
psychoanalytischen Arbeitsregel zu jedem einzelnen Traumelement ergeben. Aus
diesem Material erraten Sie die latenten Traumgedanken ganz so, wie Sie aus den
Einfällen des Kranken zu seinen Symptomen und Erinnerungen seine versteckten
Komplexe erraten haben. An den so gefundenen latenten Traumgedanken ersehen Sie
ohne weiteres, wie vollberechtigt die Rückführung der Träume Erwachsener auf die
Kinderträume ist. Was sich jetzt als der eigentliche Sinn des Traumes dem
manifesten Trauminhalt substituiert, das ist immer klar verständlich, knüpft an
die Lebenseindrücke des Vortages an, erweist sich[p. 36] als eine Erfüllung unbefriedigter Wünsche.
Den manifesten Traum, den Sie aus der Erinnerung beim Erwachen kennen, können
Sie dann nur beschreiben als eine verkappte Erfüllung verdrängter Wünsche. Sie können durch eine Art von
synthetischer Arbeit jetzt auch Einsicht nehmen in den Prozeß, der die Entstellung
der unbewußten Traumgedanken zum manifesten Trauminhalt herbeigeführt hat. Wir
heißen diesen Prozeß die »Traumarbeit«. Derselbe verdient unser vollstes
theoretisches Interesse, weil wir an ihm wie sonst nirgends studieren können,
welche ungeahnten psychischen Vorgänge im Unbewußten, oder genau ausgedrückt, zwischen zwei gesonderten psychischen Systemen wie dem Bewußten
und dem Unbewußten, möglich sind. Unter diesen neu erkannten psychischen
Vorgängen heben sich die der Verdichtung und der Verschiebung auffällig heraus. Die Traumarbeit ist ein
Spezialfall der Einwirkungen verschiedener seelischer Gruppierungen
aufeinander, also der Erfolge der seelischen Spaltung, und sie scheint in allem
Wesentlichen identisch mit jener Entstellungsarbeit, welche die verdrängten
Komplexe bei mißglückender Verdrängung in Symptome verwandelt. Sie werden ferner bei der Analyse
der Träume, am überzeugendsten Ihrer eigenen, mit Verwunderung die ungeahnt
große Rolle entdecken, welche Eindrücke und Erlebnisse früher Jahre der
Kindheit auf die Entwicklung des Menschen nehmen. Im Traumleben setzt das Kind
im Menschen gleichsam seine Existenz mit Erhaltung all seiner
Eigentümlichkeiten und Wunschregungen, auch der im späteren Leben unbrauchbar
gewordenen, fort. Mit unabweislicher Macht drängt sich Ihnen auf, durch welche
Entwicklungen, Verdrängungen, Sublimierungen und Reaktionsbildungen aus dem
ganz anders beanlagten[p.
37] Kind der sogenannt normale Mensch, der Träger und
zum Teil das Opfer der mühsam errungenen Kultur, hervorgeht. Auch darauf will ich sie
aufmerksam machen, daß wir bei der Analyse der Träume gefunden haben, das
Unbewußte bediene sich, insbesondere für die Darstellung sexueller Komplexe,
einer gewissen Symbolik, die zum Teil individuell variabel, zum anderen Teil
aber typisch festgelegt ist, und die sich mit der Symbolik zu decken scheint,
die wir hinter unseren Mythen und Märchen vermuten. Es wäre nicht unmöglich,
daß die letzteren Schöpfungen der Völker ihre Aufklärung vom Traume her
empfangen könnten. Endlich muß ich Sie mahnen, daß
Sie sich nicht durch den Einwand irre machen lassen, das Vorkommen von
Angstträumen widerspreche unserer Auffassung des Traumes als Wunscherfüllung.
Abgesehen davon, daß auch diese Angstträume der Deutung bedürfen, ehe man über sie
urteilen kann, muß man ganz allgemein sagen, daß die Angst nicht so einfach am
Trauminhalt hängt, wie man’s sich ohne weitere Kenntnis und Rücksicht auf die
Bedingungen der neurotischen Angst vorstellt. Die Angst ist eine der
Ablehnungsreaktionen des Ichs gegen stark gewordene verdrängte Wünsche, und
daher auch im Traume sehr gut erklärlich, wenn die Traumbildung sich zu sehr in
den Dienst der Erfüllung dieser verdrängten Wünsche gestellt hat. Sie sehen, die Traumerforschung
wäre an sich durch die Aufschlüsse gerechtfertigt, die sie über sonst schwer
wißbare Dinge liefert. Wir sind aber im Zusammenhange mit der
psychoanalytischen Behandlung der Neurotiker zu ihr gelangt. Nach dem bisher
Gesagten können Sie leicht verstehen, wie die Traumdeutung, wenn sie nicht
durch die Widerstände des Kranken allzu sehr erschwert wird, zur Kenntnis der
versteckten und verdrängten Wünsche des Kranken und der von ihnen genährten[p. 38] Komplexe führt, und ich kann zur dritten Gruppe von seelischen Phänomenen
übergehen, deren Studium zum technischen Mittel für die Psychoanalyse geworden
ist. Es sind dies die kleinen
Fehlhandlungen normaler wie nervöser Menschen, denen man sonst keine Bedeutung
beizulegen pflegt, das Vergessen von Dingen, die sie wissen könnten und andere
Male auch wirklich wissen (z. B. das zeitweilige Entfallen von
Eigennamen), das Versprechen in der Rede, das sich uns selbst so häufig
ereignet, das analoge Verschreiben und Verlesen, das Vergreifen bei
Verrichtungen und das Verlieren oder Zerbrechen von Gegenständen u. dgl.,
lauter Dinge, für die man eine psychologische Determinierung sonst nicht sucht,
und die man als zufällige Ergebnisse, als Erfolge der Zerstreutheit,
Unaufmerksamkeit und ähnlicher Bedingungen unbeanstandet passieren läßt. Dazu
kommen noch die Handlungen und Gesten, welche die Menschen ausführen, ohne sie
überhaupt zu bemerken, geschweige denn, daß sie ihnen seelisches Gewicht
beilegten, wie das Spielen, Tändeln mit Gegenständen, das Summen von Melodien,
das Hantieren am eigenen Körper und an dessen Bekleidung und ähnliches.[13] Diese kleinen Dinge, die Fehlhandlungen wie die Symptom- und Zufallshandlungen, sind
nicht so bedeutungslos, wie man durch eine Art von stillschweigendem
Übereinkommen anzunehmen bereit ist. Sie sind durchaus sinnvoll, aus der
Situation, in der sie vorfallen, meist leicht und sicher zu deuten, und es
stellt sich heraus, daß sie wiederum Impulsen und Absichten Ausdruck geben, die
zurückgestellt, dem eigenen Bewußtsein verborgen werden sollen, oder daß sie
geradezu den nämlichen verdrängten Wunschregungen und Komplexen entstammen, die
wir[p. 39] bereits als die Schöpfer der Symptome und die Bildner der Träume kennen
gelernt haben. Sie verdienen also die Würdigung von Symptomen, und ihre
Beachtung kann wie die der Träume zur Aufdeckung des Verborgenen im Seelenleben
führen. Mit ihrer Hilfe verrät der Mensch in der Regel die intimsten seiner
Geheimnisse. Wenn sie besonders leicht und häufig zu stande kommen, selbst beim
Gesunden, dem die Verdrängung seiner unbewußten Regungen im ganzen
gut gelungen ist, so haben sie es ihrer Geringfügigkeit und Unscheinbarkeit zu
danken. Aber sie dürfen hohen theoretischen Wert beanspruchen, da sie uns die
Existenz der Verdrängung und Ersatzbildung auch unter den Bedingungen der
Gesundheit erweisen. [13] Zur Psychopathologie des
Alltagslebens. 3. Aufl., 1910, S. Karger,
Berlin. Sie merken es bereits, daß sich
der Psychoanalytiker durch einen besonders strengen Glauben an die
Determinierung des Seelenlebens auszeichnet. Für ihn gibt es in den psychischen
Äußerungen nichts Kleines, nichts Willkürliches und Zufälliges, er erwartet überall
dort eine ausreichende Motivierung, wo man gewöhnlich eine solche Forderung
nicht erhebt; ja er ist auf eine mehrfache Motivierung
desselben seelischen Effekts vorbereitet, während unser angeblich eingeborenes
Kausalbedürfnis sich mit einer einzigen psychischen Ursache für befriedigt
erklärt. Halten Sie nun zusammen, was wir
an Mitteln zur Aufdeckung des Verborgenen, Vergessenen, Verdrängten im
Seelenleben besitzen, das Studium der hervorgerufenen Einfälle der Patienten
bei freier Assoziation, ihrer Träume und ihrer Fehl- und Symptomhandlungen;
fügen Sie noch hinzu die Verwertung anderer Phänomene, die sich während der
psychoanalytischen Behandlung ergeben, über die ich später unter dem Schlagwort
der »Übertragung« einige Bemerkungen machen werde, so werden Sie mit mir zu dem
Schlusse kommen, daß unsere Technik bereits[p.
40] wirksam genug ist, um ihre Aufgabe lösen zu
können, um das pathogene psychische Material dem Bewußtsein zuzuführen und so
die durch die Bildung von Ersatzsymptomen hervorgerufenen Leiden zu beseitigen.
Daß wir während der therapeutischen Bemühungen unsere Kenntnis vom Seelenleben
der normalen und der kranken Menschen bereichern und vertiefen, kann gewiß nur
als ein besonderer Reiz und Vorzug dieser Arbeit eingeschätzt werden. Ich weiß nicht, ob Sie den Eindruck empfangen haben, daß die Technik, durch deren Arsenal ich Sie eben geführt habe, eine besonders schwierige ist. Ich meine, sie ist dem Gegenstande, den sie bewältigen soll, durchaus angemessen. Aber so viel ist sicher, daß sie nicht selbstverständlich ist, daß sie erlernt werden muß wie die histologische oder die chirurgische. Es wird Sie vielleicht verwundern, zu hören, daß wir in Europa eine Menge von Urteilen über die Psychoanalyse von Personen gehört haben, die von dieser Technik nichts wissen und sie nicht anwenden, und dann von uns wie im Hohne verlangten, wir sollten ihnen die Richtigkeit unserer Resultate beweisen. Es sind unter diesen Widersachern gewiß auch Personen, denen wissenschaftliche Denkweise sonst nicht fremd ist, die z. B. ein Ergebnis mikroskopischer Untersuchung nicht darum verwerfen würden, weil es am anatomischen Präparat nicht mit freiem Auge zu bestätigen ist, und nicht eher, als bis sie den Sachverhalt selbst mit Hilfe des Mikroskops beurteilt haben. Aber in Sachen der Psychoanalyse liegen die Verhältnisse wirklich ungünstiger für die Anerkennung. Die Psychoanalyse will das im Seelenleben Verdrängte zur bewußten Anerkennung bringen, und jeder, der sie beurteilt, ist selbst ein Mensch, der solche Verdrängungen besitzt, vielleicht sie nur mühsam aufrecht erhält. Sie muß also bei ihm denselben Widerstand hervorrufen, den sie bei[p. 41] den Kranken weckt, und dieser Widerstand hat es leicht, sich in intellektuelle Ablehnung zu verkleiden und Argumente herbeizuziehen, ähnlich wie die, welche wir bei unseren Kranken mit der psychoanalytischen Grundregel abwehren. Wie bei unseren Kranken, so können wir auch bei unseren Gegnern häufig eine sehr auffällige affektive Beeinflussung des Urteilsvermögens im Sinne einer Herabsetzung konstatieren. Der Dünkel des Bewußtseins, der z. B. den Traum so geringschätzig verwirft, gehört zu den stärksten Schutzeinrichtungen, die in uns ganz allgemein gegen das Durchdringen der unbewußten Komplexe vorgesehen sind, und darum ist es so schwierig, die Menschen zur Überzeugung von der Realität des Unbewußten zu bringen und sie Neues kennen zu lehren, was ihrer bewußten Kenntnis widerspricht.[p. 42] IV.
Meine Damen und Herren! Sie
werden nun zu wissen verlangen, was wir mit Hilfe der beschriebenen technischen
Mittel über die pathogenen Komplexe und verdrängten Wunschregungen der
Neurotiker in Erfahrung gebracht haben. Nun vor allem eines: Die
psychoanalytische Forschung führt mit wirklich überraschender Regelmäßigkeit
die Leidenssymptome der Kranken auf Eindrücke aus ihrem Liebesleben zurück,
zeigt uns, daß die pathogenen Wunschregungen von der Natur erotischer
Triebkomponenten sind, und nötigt uns anzunehmen, daß Störungen der Erotik die
größte Bedeutung unter den zur Erkrankung führenden Einflüssen zugesprochen
werden muß, und dies zwar bei beiden Geschlechtern. Ich weiß, diese Behauptung wird
mir nicht gerne geglaubt. Selbst solche Forscher, die meinen psychologischen
Arbeiten bereitwillig folgen, sind geneigt zu meinen, daß ich den ätiologischen
Anteil der sexuellen Momente überschätze, und wenden sich an mich mit der
Frage, warum denn nicht auch andere seelische Erregungen zu den beschriebenen
Phänomenen der Verdrängung und Ersatzbildung Anlaß geben sollen. Nun ich kann
antworten: Ich weiß nicht, warum sie es nicht sollten, habe auch nichts
dagegen, aber die Erfahrung zeigt, daß sie solche Bedeutung nicht haben, daß
sie höchstens die Wirkung der sexuellen Momente unterstützen, nie aber die
letzteren ersetzen können. Dieser[p.
43] Sachverhalt wurde von mir nicht etwa theoretisch
postuliert; noch in den 1895 mit Dr. J. Breuer
publizierten Studien über Hysterie stand ich nicht auf diesem Standpunkte; ich
mußte mich zu ihm bekehren, als meine Erfahrungen zahlreicher wurden und tiefer
in den Gegenstand eindrangen. Meine Herren! Es befinden sich hier unter Ihnen
einige meiner nächsten Freunde und Anhänger, die die Reise nach Worcester mit
mir gemacht haben. Fragen Sie bei ihnen an und Sie werden hören, daß sie alle
der Behauptung von der maßgebenden Bedeutung der sexuellen Ätiologie zuerst
vollen Unglauben entgegenbrachten, bis sie durch ihre eigenen analytischen
Bemühungen genötigt wurden, sie zu der ihrigen zu machen. Die Überzeugung von der
Richtigkeit des in Rede stehenden Satzes wird durch das Benehmen der Patienten
nicht gerade erleichtert. Anstatt uns die Auskünfte über ihr Sexualleben
bereitwillig entgegenzubringen, suchen sie dieses mit allen Mitteln zu
verbergen. Die Menschen sind überhaupt nicht aufrichtig in sexuellen Dingen.
Sie zeigen ihre Sexualität nicht frei, sondern tragen eine dicke Oberkleidung
aus — Lügengewebe zu ihrer Verhüllung, als ob es schlechtes Wetter gäbe in der
Welt der Sexualität. Und sie haben nicht unrecht, Sonne und Wind sind in
unserer Kulturwelt der sexuellen Betätigung wirklich nicht günstig; eigentlich
kann niemand von uns seine Erotik frei den anderen enthüllen. Wenn Ihre
Patienten aber erst gemerkt haben, daß sie sich’s in Ihrer Behandlung behaglich
machen dürfen, dann legen sie jene Lügenhülle ab, und dann erst sind Sie in der
Lage, sich ein Urteil über unsere Streitfrage zu bilden. Leider sind auch die
Ärzte in ihrem persönlichen Verhältnis zu den Fragen des Sexuallebens vor
anderen Menschenkindern nicht bevorzugt, und viele von ihnen stehen unter dem
Banne jener Vereinigung von Prüderie und Lüsternheit,[p. 44] welche das Verhalten der meisten »Kulturmenschen« in Sachen der Sexualität
beherrscht. Lassen Sie uns nun in der
Mitteilung unserer Ergebnisse fortfahren. In einer anderen Reihe von Fällen
führt die psychoanalytische Erforschung die Symptome allerdings nicht auf
sexuelle, sondern auf banale traumatische Erlebnisse zurück. Aber diese
Unterscheidung wird durch einen anderen Umstand bedeutungslos. Die zur
gründlichen Aufklärung und endgültigen Herstellung eines Krankheitsfalles
erforderliche Analysenarbeit macht nämlich in keinem Falle bei den Erlebnissen
der Erkrankungszeit Halt, sondern sie geht in allen Fällen bis in die Pubertät
und in die frühe Kindheit des Erkrankten zurück, um erst dort auf die für die
spätere Erkrankung bestimmenden Eindrücke und Vorfälle zu stoßen. Erst die
Erlebnisse der Kindheit geben die Erklärung für die Empfindlichkeit gegen
spätere Traumen, und nur durch die Aufdeckung und Bewußtmachung dieser fast
regelmäßig vergessenen Erinnerungsspuren erwerben wir die Macht zur Beseitigung
der Symptome. Wir gelangen hier zu dem gleichen Ergebnis wie bei der
Erforschung der Träume, daß es die unvergänglichen, verdrängten Wunschregungen
der Kindheit sind, die ihre Macht zur Symptombildung geliehen haben, ohne
welche die Reaktion auf spätere Traumen normal verlaufen wäre. Diese mächtigen
Wunschregungen der Kindheit dürfen wir aber ganz allgemein als sexuelle
bezeichnen. Jetzt bin ich aber erst recht
Ihrer Verwunderung sicher. Gibt es denn eine infantile Sexualität? werden Sie
fragen. Ist das Kindesalter nicht vielmehr die Lebensperiode, die durch das
Fehlen des Sexualtriebes ausgezeichnet ist? Nein, meine Herren, es ist gewiß
nicht so, daß der Sexualtrieb zur Pubertätszeit in die Kinder fährt, wie im
Evangelium der Teufel[p.
45] in die Säue. Das Kind hat seine sexuellen Triebe
und Betätigungen von Anfang an, es bringt sie mit auf die Welt, und aus ihnen
geht durch eine bedeutungsvolle, an Etappen reiche Entwicklung die sogenannte
normale Sexualität des Erwachsenen hervor. Es ist nicht einmal schwer, die
Äußerungen dieser kindlichen Sexualbetätigung zu beobachten; es gehört vielmehr
eine gewisse Kunst dazu, sie zu übersehen oder wegzudeuten. Durch die Gunst des Schicksals
bin ich in die Lage versetzt, einen Zeugen für meine Behauptungen aus Ihrer
Mitte selbst anzurufen. Ich zeige Ihnen hier die Arbeit eines Dr. Sanford Bell, die 1902 im »American Journal of Psychology«
abgedruckt worden ist. Der Autor ist ein Fellow der Clark University, desselben
Instituts, in dessen Räumen wir jetzt stehen. In dieser Arbeit, betitelt: A preliminary
study of the emotion of love between the sexes, die drei Jahre vor meinen »Drei
Abhandlungen zur Sexualtheorie« erschienen ist, sagt der Autor ganz so, wie ich
Ihnen eben sagte: The emotion of sex-love.... does not make its appearance for the first time
at the period of adolescence, as has been thought. Er hat, wie wir in Europa sagen würden, im
amerikanischen Stil gearbeitet; nicht weniger als 2500 positive Beobachtungen
im Laufe von 15 Jahren gesammelt, darunter 800 eigene. Von den Zeichen, durch
die sich diese Verliebtheiten kundgeben, äußert er: The unprejudiced mind in
observing these manifestations in hundreds of couples of children cannot escape
referring them to sex origin. The most exacting mind is satisfied when to these observations are added
the confessions of those who have as children, experienced the emotion to a
marked degree of intensity, and whose memories of childhood are relatively
distinct. Am meisten aber
werden diejenigen von Ihnen, die an die infantile Sexualität nicht glauben
wollten, überrascht sein zu hören, daß unter[p. 46] diesen früh verliebten Kindern nicht
wenige sich im zarten Alter von drei, vier und fünf Jahren befinden. Ich würde mich nicht wundern,
wenn Sie diesen Beobachtungen eines engsten Landsmannes eher Glauben schenken
würden als den meinigen. Mir selbst ist es vor kurzem geglückt, aus der Analyse
eines fünfjährigen, an Angst leidenden Knaben, die dessen eigener Vater
kunstgerecht mit ihm vorgenommen,[14] ein
ziemlich vollständiges Bild der somatischen Triebäußerungen und der seelischen
Produktionen auf einer frühen Stufe des kindlichen Liebeslebens zu gewinnen.
Und ich darf Sie daran erinnern, daß mein Freund Dr. C. G. Jung Ihnen in diesem Saale vor wenigen Stunden die Beobachtung
eines noch jüngeren Mädchens vorlas, welches aus dem gleichen Anlaß wie mein
Patient — bei der Geburt eines Geschwisterchens — fast die nämlichen sinnlichen
Regungen, Wunsch- und Komplexbildungen, mit Sicherheit erraten ließ. Ich
verzweifle also nicht daran, daß Sie sich mit der anfänglich befremdlichen Idee
der infantilen Sexualität befreunden werden, und möchte Ihnen noch das
rühmliche Beispiel des Züricher Psychiaters E. Bleuler
vorhalten, der noch vor wenigen Jahren öffentlich äußerte, »er stehe meinen
sexuellen Theorien ohne Verständnis gegenüber«, und seither die infantile
Sexualität in ihrem vollen Umfang durch eigene Beobachtungen bestätigt hat.[15] [14] Analyse der Phobie eines
fünfjährigen Knaben. Jahrbuch für psychoanalyt. und psychopathologische
Forschungen. Bd. I, 1. Hälfte, 1909. [15] Bleuler, Sexuelle Abnormitäten der Kinder. Jahrbuch der schweiz. Gesellschaft
für Schulgesundheitspflege, IX, 1908. Wenn die meisten Menschen,
ärztliche Beobachter oder andere, vom Sexualleben des Kindes nichts wissen
wollen, so ist dies nur zu leicht erklärlich. Sie haben ihre eigene infan[p. 47]tile Sexualbetätigung unter dem Drucke der Erziehung zur Kultur vergessen
und wollen nun an das Verdrängte nicht erinnert werden. Sie würden zu anderen
Überzeugungen gelangen, wenn sie die Untersuchung mit einer Selbstanalyse,
einer Revision und Deutung ihrer Kindheitserinnerungen beginnen würden. Lassen Sie die Zweifel fallen und
gehen Sie mit mir an eine Würdigung der infantilen Sexualität von den frühesten
Jahren an.[16] Der Sexualtrieb des Kindes erweist sich
als hoch zusammengesetzt, er läßt eine Zerlegung in viele Komponenten zu, die
aus verschiedenen Quellen stammen. Er ist vor allem noch unabhängig von der
Funktion der Fortpflanzung, in deren Dienst er sich später stellen wird. Er
dient der Gewinnung verschiedener Arten von Lustempfindung, die wir nach
Analogien und Zusammenhängen als Sexuallust zusammenfassen. Die Hauptquelle der
infantilen Sexuallust ist die geeignete Erregung bestimmter, besonders
reizbarer Körperstellen, außer den Genitalien, der Mund-, After- und Harnröhrenöffnung,
aber auch der Haut und anderer Sinnesoberflächen. Da in dieser ersten Phase des
kindlichen Sexuallebens die Befriedigung am eigenen Körper gefunden und von
einem fremden Objekt abgesehen wird, heißen wir die Phase nach einem von Havelock Ellis geprägten Wort die des Autoerotismus.
Jene für die Gewinnung von sexueller Lust bedeutsamen Stellen nennen wir erogene Zonen. Das Ludeln oder Wonnesaugen der kleinsten Kinder
ist ein gutes Beispiel einer solchen autoerotischen Befriedigung von einer
erogenen Zone aus; der erste wissenschaftliche Beobachter dieses Phänomens, ein
Kinderarzt namens Lindner in Budapest, hat es bereits
richtig als Sexualbefriedigung[p.
48] gedeutet und dessen Übergang in andere und höhere
Formen der Sexualbetätigung erschöpfend beschrieben.[17] Eine andere Sexualbefriedigung dieser Lebenszeit ist die masturbatorische
Erregung der Genitalien, die eine so große Bedeutung für das spätere Leben
behält und von vielen Individuen überhaupt nie völlig überwunden wird. Neben
diesen und anderen autoerotischen Betätigungen äußern sich sehr frühzeitig beim
Kinde jene Triebkomponenten der Sexuallust oder, wie wir gern sagen, der
Libido, die eine fremde Person als Objekt zur Voraussetzung nehmen. Diese
Triebe treten in Gegensatzpaaren auf, als aktive und passive; ich nenne Ihnen
als die wichtigsten Vertreter dieser Gruppe die Lust, Schmerzen zu bereiten
(Sadismus), mit ihrem passiven Gegenspiel (Masochismus), und die aktive und
passive Schaulust, von welch ersterer später die Wißbegierde abzweigt, wie von
letzterer der Drang zur künstlerischen und schauspielerischen Schaustellung.
Andere Sexualbetätigungen des Kindes fallen bereits unter den Gesichtspunkt der
Objektwahl, bei welcher eine fremde Person zur Hauptsache
wird, die ihre Bedeutung ursprünglich Rücksichten des Selbsterhaltungstriebes
verdankt. Der Geschlechtsunterschied spielt aber in dieser kindlichen Periode
noch keine ausschlaggebende Rolle; Sie können so jedem Kinde, ohne ihm Unrecht
zu tun, ein Stück homosexueller Begabung zusprechen. [16] Drei Vorlesungen zur
Sexualtheorie, Wien, Fr. Deuticke, 1906, 2. Auflage, 1910. [17] Jahrbuch für Kinderheilkunde,
1879. Dies zerfahrene, reichhaltige,
aber dissoziierte Sexualleben des Kindes, in welchem der einzelne Trieb
unabhängig von jedem anderen dem Lusterwerbe nachgeht, erfährt nun eine
Zusammenfassung und Organisation nach zwei Hauptrichtungen, so daß mit Abschluß
der Pubertätszeit der definitive Sexualcharakter des Individuums meist fertig
ausgebildet ist. Einerseits unterordnen sich die einzelnen Triebe der
Oberherrschaft der Genitalzone,[p. 49] wodurch das ganze Sexualleben in den Dienst der Fortpflanzung tritt, und
ihre Befriedigung nur noch als Vorbereitung und Begünstigung des eigentlichen
Sexualaktes von Bedeutung bleibt. Anderseits drängt die Objektwahl den
Autoerotismus zurück, so daß nun im Liebesleben alle Komponenten des
Sexualtriebes an der geliebten Person befriedigt werden wollen. Aber nicht alle
ursprünglichen Triebkomponenten werden zu einem Anteil an dieser endgültigen
Feststellung des Sexuallebens zugelassen. Noch vor der Pubertätszeit sind unter
dem Einfluß der Erziehung äußerst energische Verdrängungen gewisser Triebe
durchgesetzt und seelische Mächte wie Scham, Ekel, Moral hergestellt worden,
welche diese Verdrängungen wie Wächter unterhalten. Kommt dann im
Pubertätsalter die Hochflut der sexuellen Bedürftigkeit, so findet sie an den
genannten seelischen Reaktions- oder Widerstandsbildungen Dämme, welche ihr den
Ablauf in die sogenannten normalen Wege vorschreiben und es ihr unmöglich
machen, die der Verdrängung unterlegenen Triebe neu zu beleben. Es sind
besonders die koprophilen, d. h. die mit den
Exkrementen zusammenhängenden Lustregungen der Kindheit, welche von der
Verdrängung am gründlichsten betroffen werden, und ferner die Fixierung an die
Personen der primitiven Objektwahl. Meine Herren! Ein Satz der
allgemeinen Pathologie sagt aus, daß jeder Entwicklungsvorgang die Keime der
pathologischen Disposition mit sich bringt, insofern er gehemmt, verzögert
werden oder unvollkommen ablaufen kann. Dasselbe gilt für die so komplizierte
Entwicklung der Sexualfunktion. Sie wird nicht bei allen Individuen glatt
durchgemacht und hinterläßt dann entweder Abnormitäten oder Dispositionen zu
späterer Erkrankung auf dem Wege der Rückbildung (Regression). Es kann
geschehen, daß nicht alle Partialtriebe sich der[p. 50] Herrschaft der Genitalzone unterwerfen;
ein solcher unabhängig gebliebener Trieb stellt dann das her, was wir eine Perversion nennen, und was das normale Sexualziel durch sein
eigenes ersetzen kann. Es kommt, wie bereits erwähnt, sehr häufig vor, daß der
Autoerotismus nicht völlig überwunden wird, wovon die mannigfaltigsten
Störungen in der Folge Zeugnis ablegen. Die ursprüngliche Gleichwertigkeit
beider Geschlechter als Sexualobjekte kann sich erhalten, und daraus wird sich
eine Neigung zur homosexuellen Betätigung im reifen Leben ergeben, die sich
unter Umständen zur ausschließlichen Homosexualität steigern kann. Diese Reihe
von Störungen entspricht den direkten Entwicklungshemmungen der Sexualfunktion;
sie umfaßt die Perversionen und den gar nicht seltenen
allgemeinen Infantilismus des Sexuallebens. Die Disposition zu den Neurosen
ist auf andere Weise von einer Schädigung der Sexualentwicklung abzuleiten. Die
Neurosen verhalten sich zu den Perversionen wie das Negativ zum Positiv; in
ihnen sind dieselben Triebkomponenten als Träger der Komplexe und
Symptombildner nachweisbar wie bei den Perversionen, aber sie wirken hier vom
Unbewußten her; sie haben also eine Verdrängung erfahren, konnten sich aber
derselben zum Trotze im Unbewußten behaupten. Die Psychoanalyse läßt uns
erkennen, daß überstarke Äußerung dieser Triebe in sehr frühen Zeiten zu einer
Art von partieller Fixierung führt, die nun einen
schwachen Punkt im Gefüge der Sexualfunktion darstellt. Stößt die Ausübung der
normalen Sexualfunktion im reifen Leben auf Hindernisse, so wird die
Verdrängung der Entwicklungszeit gerade an jenen Stellen durchbrochen, wo die
infantilen Fixierungen stattgefunden haben. Sie werden jetzt vielleicht den
Einwand machen: Aber das ist ja alles nicht Sexualität. Ich gebrauchte das Wort
in[p. 51] einem viel weiteren Sinne, als Sie gewohnt sind, es zu verstehen. Das gebe
ich Ihnen gern zu. Aber es fragt sich, ob nicht vielmehr Sie das Wort in viel
zu engem Sinne gebrauchen, wenn Sie es auf das Gebiet der Fortpflanzung
einschränken. Sie opfern dabei das Verständnis der Perversionen, den Zusammenhang
zwischen Perversion, Neurose und normalem Sexualleben, und setzen sich außer
stande, die leicht zu beobachtenden Anfänge des somatischen und seelischen
Liebeslebens der Kinder nach ihrer wahren Bedeutung zu erkennen. Wie immer Sie
aber über den Wortgebrauch entscheiden wollen, halten Sie daran fest, daß der
Psychoanalytiker die Sexualität in jenem vollen Sinne erfaßt, zu dem man durch
die Würdigung der infantilen Sexualität geleitet wird. Kehren wir nun nochmals zur
Sexualentwicklung des Kindes zurück. Wir haben hier manches nachzuholen, weil
wir unsere Aufmerksamkeit mehr den somatischen als den seelischen Äußerungen
des Sexuallebens geschenkt haben. Die primitive Objektwahl des Kindes, die sich
von seiner Hilfsbedürftigkeit ableitet, fordert unser weiteres Interesse
heraus. Sie wendet sich zunächst allen Pflegepersonen zu, die aber bald hinter
den Eltern zurücktreten. Die Beziehung der Kinder zu ihren Eltern ist, wie
direkte Beobachtung des Kindes und spätere analytische Erforschung des Erwachsenen
übereinstimmend dartun, keineswegs frei von Elementen sexueller Miterregung.
Das Kind nimmt beide Elternteile und einen Teil besonders zum Objekt seiner
erotischen Wünsche. Gewöhnlich folgt es dabei selbst einer Anregung der Eltern,
deren Zärtlichkeit die deutlichsten Charaktere einer, wenn auch in ihren Zielen
gehemmten, Sexualbetätigung hat. Der Vater bevorzugt in der Regel die Tochter,
die Mutter den Sohn; das Kind reagiert hierauf, indem es sich als Sohn an die
Stelle des Vaters, als Tochter an die Stelle der[p. 52] Mutter wünscht. Die Gefühle, die in
diesen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern und in den daran angelehnten
zwischen den Geschwistern untereinander geweckt werden, sind nicht nur
positiver, zärtlicher, sondern auch negativer, feindseliger Art. Der so
gebildete Komplex ist zur baldigen Verdrängung bestimmt, aber er übt noch vom
Unbewußten her eine großartige und nachhaltige Wirkung aus. Wir dürfen die
Vermutung aussprechen, daß er mit seinen Ausläufern den Kernkomplex
einer jeden Neurose darstellt, und wir sind darauf gefaßt, ihn auf anderen
Gebieten des Seelenlebens nicht minder wirksam anzutreffen. Der Mythus vom
König Ödipus, der seinen Vater tötet und seine Mutter zum
Weib gewinnt, ist eine noch wenig abgeänderte Offenbarung des infantilen
Wunsches, dem sich späterhin die Inzestschranke abweisend
entgegenstellt. Die Hamlet-Dichtung Shakespeares
ruht auf demselben Boden des besser verhüllten Inzestkomplexes. Um die Zeit, da das Kind von dem
noch unverdrängten Kernkomplex beherrscht wird, setzt ein bedeutungsvolles
Stück seiner intellektuellen Betätigung im Dienste der Sexualinteressen ein. Es
beginnt zu forschen, woher die Kinder kommen, und errät in Verwertung der ihm
gebotenen Anzeichen mehr von den wirklichen Verhältnissen, als die Erwachsenen
ahnen können. Gewöhnlich hat die materielle Bedrohung durch ein neu
angekommenes Kind, in dem es zunächst nur den Konkurrenten erblickt, sein
Forscherinteresse geweckt. Unter dem Einfluß der in ihm selbst tätigen
Partialtriebe gelangt es zu einer Anzahl von »infantilen
Sexualtheorien«, wie daß es beiden Geschlechtern das gleiche männliche
Genitale zuspricht, daß es die Kinder durch Essen empfangen und durch das Ende
des Darmes gebären läßt, und daß es den Verkehr der Geschlechter als einen
feindseligen Akt, eine Art von Überwältigung erfaßt.[p. 53] Aber gerade die Unfertigkeit seiner
sexuellen Konstitution und die Lücke in seinen Kenntnissen, die durch die
Latenz des weiblichen Geschlechtskanals gegeben ist, nötigt den infantilen
Forscher, seine Arbeit als erfolglos einzustellen. Die Tatsache dieser
Kinderforschung selbst, sowie die einzelnen durch sie zu Tage geförderten
infantilen Sexualtheorien bleiben von bestimmender Bedeutung für die
Charakterbildung des Kindes und den Inhalt seiner späteren neurotischen
Erkrankung. Es ist unvermeidlich und durchaus
normal, daß das Kind die Eltern zu Objekten seiner ersten Liebeswahl mache.
Aber seine Libido soll nicht an diese ersten Objekte fixiert bleiben, sondern
sie späterhin bloß zum Vorbild nehmen und von ihnen zur Zeit der definitiven
Objektwahl auf fremde Personen hinübergleiten. Die Ablösung
des Kindes von den Eltern wird so zu einer unentrinnbaren Aufgabe, wenn die
soziale Tüchtigkeit des jungen Individuums nicht gefährdet werden soll. Während
der Zeit, da die Verdrängung die Auslese unter den Partialtrieben der
Sexualität trifft, und später, wenn der Einfluß der Eltern gelockert werden
soll, der den Aufwand für diese Verdrängungen im wesentlichen bestritten hat,
fallen der Erziehungsarbeit große Aufgaben zu, die gegenwärtig gewiß nicht
immer in verständnisvoller und einwandfreier Weise erledigt werden. Meine Herren! Urteilen Sie nicht etwa, daß wir uns mit diesen Erörterungen über das Sexualleben und die psychosexuelle Entwicklung des Kindes allzu weit von der Psychoanalyse und von der Aufgabe der Beseitigung nervöser Störungen entfernt haben. Wenn Sie wollen, können Sie die psychoanalytische Behandlung nur als eine fortgesetzte Erziehung zur Überwindung von Kindheitsresten beschreiben.[p. 54] V.
Meine Damen und Herren! Mit der
Aufdeckung der infantilen Sexualität und der Zurückführung der neurotischen
Symptome auf erotische Triebkomponenten sind wir zu einigen unerwarteten
Formeln über das Wesen und die Tendenzen der neurotischen Erkrankungen gelangt.
Wir sehen, daß die Menschen erkranken, wenn ihnen infolge äußerer Hindernisse
oder inneren Mangels an Anpassung die Befriedigung ihrer erotischen Bedürfnisse
in der Realität versagt ist. Wir sehen, daß sie sich dann
in die Krankheit flüchten, um mit ihrer Hilfe eine
Ersatzbefriedigung für das Versagte zu finden. Wir erkennen, daß die
krankhaften Symptome ein Stück der Sexualbetätigung der Person oder deren
ganzes Sexualleben enthalten, und finden in der Fernhaltung von der Realität
die Haupttendenz, aber auch den Hauptschaden des Krankseins. Wir ahnen, daß der
Widerstand unserer Kranken gegen die Herstellung kein einfacher, sondern aus
mehreren Motiven zusammengesetzt ist. Es sträubt sich nicht nur das Ich des
Kranken dagegen, die Verdrängungen aufzugeben, durch welche es sich aus den
ursprünglichen Anlagen herausgehoben hat, sondern auch die Sexualtriebe mögen
nicht auf ihre Ersatzbefriedigung verzichten, solange es unsicher ist, ob ihnen
die Realität etwas Besseres bieten wird. Die Flucht aus der
unbefriedigenden Wirklichkeit in das, was wir wegen seiner biologischen Schädlichkeit
Krankheit[p. 55] nennen, was aber niemals ohne einen unmittelbaren Lustgewinn für den
Kranken ist, vollzieht sich auf dem Wege der Rückbildung (Regression),
der Rückkehr zu früheren Phasen des Sexuallebens, denen seinerzeit die
Befriedigung nicht abgegangen ist. Diese Regression ist anscheinend eine
zweifache, eine zeitliche, insofern die Libido, das
erotische Bedürfnis, auf zeitlich frühere Entwicklungsstufen zurückgreift, und
eine formale, indem zur Äußerung dieses Bedürfnisses die
ursprünglichen und primitiven psychischen Ausdrucksmittel verwendet werden.
Beide Arten der Regression zielen aber auf die Kindheit und treffen zusammen in
der Herstellung eines infantilen Zustands des Sexuallebens. Je tiefer Sie in die Pathogenese
der nervösen Erkrankung eindringen, desto mehr wird sich Ihnen der Zusammenhang
der Neurosen mit anderen Produktionen des menschlichen Seelenlebens, auch mit
den wertvollsten derselben, enthüllen. Sie werden daran gemahnt, daß wir
Menschen mit den hohen Ansprüchen unserer Kultur und unter dem Drucke unserer
inneren Verdrängungen, die Wirklichkeit ganz allgemein unbefriedigend finden
und darum ein Phantasieleben unterhalten, in welchem wir durch Produktionen von
Wunscherfüllungen die Mängel der Realität auszugleichen lieben. In diesen
Phantasien ist sehr vieles von dem eigentlichen konstitutionellen Wesen der
Persönlichkeit und auch von ihren für die Wirklichkeit verdrängten Regungen
enthalten. Der energische und erfolgreiche Mensch ist der, dem es gelingt,
durch Arbeit seine Wunschphantasien in Realität umzusetzen. Wo dies nicht
gelingt infolge der Widerstände der Außenwelt und der Schwäche des Individuums,
da tritt die Abwendung von der Realität ein, das Individuum zieht sich in seine
befriedigendere Phantasiewelt zurück, deren Inhalt es im Falle der Erkrankung
in Symptome umsetzt. Unter gewissen[p.
56] günstigen Bedingungen bleibt es ihm noch möglich,
von diesen Phantasien aus einen anderen Weg in die Realität zu finden, anstatt
sich ihr durch Regression ins Infantile dauernd zu entfremden. Wenn die mit der
Realität verfeindete Person im Besitze der uns psychologisch noch rätselhaften künstlerischen Begabung ist, kann sie ihre Phantasien anstatt
in Symptome in künstlerische Schöpfungen umsetzen, so dem Schicksal der Neurose
entgehen und die Beziehung zur Realität auf diesem Umwege wiedergewinnen.[18] Wo bei bestehender Auflehnung gegen die reale Welt diese kostbare Begabung
fehlt oder unzulänglich ist, da wird es wohl unvermeidlich, daß die Libido, der
Herkunft der Phantasie folgend, auf dem Wege der Regression zur Wiederbelebung
der infantilen Wünsche und somit zur Neurose gelangt. Die Neurose vertritt in
unserer Zeit das Kloster, in welches sich alle die Personen zurückzuziehen
pflegten, die das Leben enttäuscht hatte, oder die sich für das Leben zu
schwach fühlten. [18] Vgl. O. Rank, Der Künstler, H. Heller, Wien 1907. Lassen Sie mich an dieser Stelle
das Hauptergebnis einfügen, zu welchem wir durch die psychoanalytische
Untersuchung der Nervösen gelangt sind, daß die Neurosen keinen ihnen
eigentümlichen psychischen Inhalt haben, der nicht auch beim Gesunden zu finden
wäre, oder wie C. G. Jung es ausgedrückt hat,
daß sie an denselben Komplexen erkranken, mit denen auch wir Gesunde kämpfen.
Es hängt von quantitativen Verhältnissen, von den Relationen der miteinander
ringenden Kräfte ab, ob der Kampf zur Gesundheit, zur Neurose oder zur
kompensierenden Überleistung führt. Meine Damen und Herren! Ich habe
Ihnen die wichtigste Erfahrung noch vorenthalten, welche unsere Annahme von den
sexuellen Triebkräften der Neurose bestätigt. Jedesmal wenn[p. 57] wir einen Nervösen psychoanalytisch behandeln, tritt bei ihm das
befremdende Phänomens der sogenannten Übertragung auf,
d. h. er wendet dem Arzt ein Ausmaß von zärtlichen, oft genug mit
Feindseligkeit vermengten Regungen zu, welches in keiner realen Beziehung
begründet ist und nach allen Einzelheiten seines Auftretens von den alten und
unbewußt gewordenen Phantasiewünschen des Kranken abgeleitet werden muß. Jenes
Stück seines Gefühlslebens, das er sich nicht mehr in die Erinnerung
zurückrufen kann, erlebt der Kranke also in seinem Verhältnisse zum Arzte
wieder, und erst durch solches Wiedererleben in der »Übertragung« wird er von
der Existenz wie von der Macht dieser unbewußten sexuellen Regungen überzeugt.
Die Symptome, welche, um ein Gleichnis aus der Chemie zu gebrauchen, die
Niederschläge von früheren Liebeserlebnissen (im weitesten Sinne) sind, können
auch nur in der erhöhten Temperatur des Übertragungserlebnisses gelöst und in
andere psychische Produkte übergeführt werden. Der Arzt spielt bei dieser
Reaktion nach einem vortrefflichen Worte von S. Ferenczi[19] die Rolle eines katalytischen Ferments, das die bei dem Prozesse frei werdenden Affekte zeitweilig an sich
reißt. Das Studium der Übertragung kann Ihnen auch den Schlüssel zum
Verständnis der hypnotischen Suggestion geben, deren wir uns anfänglich als
technisches Mittel zur Erforschung des Unbewußten bei unseren Kranken bedient
hatten. Die Hypnose erwies sich damals als eine therapeutische Hilfe, aber als
ein Hindernis der wissenschaftlichen Erkenntnis des Sachverhaltes, indem sie
die psychischen Widerstände aus einem gewissen Gebiet wegräumte, um sie an den
Grenzen desselben zu einem unübersteigbaren Wall aufzutürmen. Glauben Sie
übrigens nicht,[p. 58] daß das Phänomen der Übertragung, über das ich Ihnen leider hier nur zu
wenig sagen kann, durch die psychoanalytische Beeinflussung geschaffen wird.
Die Übertragung stellt sich in allen menschlichen Beziehungen ebenso wie im
Verhältnis des Kranken zum Arzte spontan her, sie ist überall der eigentliche
Träger der therapeutischen Beeinflussung, und sie wirkt um so stärker, je weniger
man ihr Vorhandensein ahnt. Die Psychoanalyse schafft sie also nicht, sie deckt
sie bloß dem Bewußtsein auf, und bemächtigt sich ihrer, um die psychischen
Vorgänge nach dem erwünschten Ziele zu lenken. Ich kann aber das Thema der
Übertragung nicht verlassen, ohne hervorzuheben, daß dieses Phänomen nicht nur
für die Überzeugung des Kranken, sondern auch für die des Arztes entscheidend
in Betracht kommt. Ich weiß, daß alle meine Anhänger erst durch ihre
Erfahrungen mit der Übertragung von der Richtigkeit meiner Behauptungen über
die Pathogenese der Neurosen überzeugt worden sind, und kann sehr wohl
begreifen, daß man eine solche Sicherheit des Urteils nicht gewinnt, solange
man selbst keine Psychoanalysen gemacht, also nicht selbst die Wirkungen der
Übertragung beobachtet hat. [19] S. Ferenczi,
Introjektion und Übertragung. Jahrb. f. psychoanal. u. psychopath. Forschungen,
I. 2. 1909. Meine Damen und Herren! Ich
meine, es sind von der Seite des Intellekts besonders zwei Hindernisse gegen
die Anerkennung der psychoanalytischen Gedankengänge zu würdigen: Erstens die
Ungewohnheit, mit der strengen und ausnahmslos geltenden Determinierung des
seelischen Lebens zu rechnen, und zweitens die Unkenntnis der Eigentümlichkeiten,
durch welche sich unbewußte seelische Vorgänge von den uns vertrauten bewußten
unterscheiden. Einer der verbreitetsten Widerstände gegen die psychoanalytische
Arbeit — bei Kranken wie bei Gesunden — führt sich auf das letztere der beiden
Momente zurück. Man fürchtet durch die Psychoanalyse zu schaden, man hat Angst
davor, die verdrängten sexuellen Triebe ins[p.
59] Bewußtsein des Kranken zu rufen, als ob damit die
Gefahr verbunden wäre, daß sie dann die höheren ethischen Strebungen bei ihm
überwältigen und ihn seiner kulturellen Errungenschaften berauben könnten. Man
merkt, daß der Kranke wunde Stellen in seinem Seelenleben hat, aber man scheut
sich dieselben zu berühren, damit sein Leiden nicht noch gesteigert werde. Wir
können diese Analogie annehmen. Es ist freilich schonender, kranke Stellen
nicht zu berühren, wenn man dadurch nichts anderes als Schmerz zu bereiten
weiß. Aber der Chirurg läßt sich bekanntlich von der Untersuchung und
Hantierung am Krankheitsherd nicht abhalten, wenn er einen Eingriff
beabsichtigt, welcher dauernde Heilung bringen soll. Niemand denkt mehr daran,
ihm die unvermeidlichen Beschwerden der Untersuchung oder die
Reaktionserscheinungen der Operation zur Last zu legen, wenn diese nur ihre
Absicht erreicht, und der Kranke durch die zeitweilige Verschlimmerung seines
Zustands eine endgültige Hebung desselben erwirbt. Ähnlich liegen die
Verhältnisse für die Psychoanalyse; sie darf dieselben Ansprüche erheben wie
die Chirurgie; der Zuwachs an Beschwerden, den sie dem Kranken während der
Behandlung zumutet, ist bei guter Technik ungleich geringer, als was der
Chirurg ihm auferlegt, und überhaupt gegen die Schwere des Grundleidens zu
vernachlässigen. Der gefürchtete Endausgang aber einer Zerstörung des
kulturellen Charakters durch die von der Verdrängung befreiten Triebe ist ganz
unmöglich, denn diese Ängstlichkeit zieht nicht in Betracht, was uns unsere
Erfahrungen mit Sicherheit gelehrt haben, daß die seelische und somatische
Macht einer Wunschregung, wenn deren Verdrängung einmal mißlungen ist, ungleich
stärker ausfällt, wenn sie unbewußt, als wenn sie bewußt ist, so daß sie durch
das Bewußtmachen nur geschwächt werden kann. Der unbewußte Wunsch ist nicht zu
beeinflussen,[p. 60] von allen Gegenstrebungen unabhängig, während der bewußte durch alles
gleichfalls Bewußte und ihm Widerstrebende gehemmt wird. Die psychoanalytische
Arbeit stellt sich also als ein besserer Ersatz für die erfolglose Verdrängung
geradezu in den Dienst der höchsten und wertvollsten kulturellen Strebungen. Welche sind überhaupt die
Schicksale der durch die Psychoanalyse freigelegten unbewußten Wünsche, auf
welchen Wegen verstehen wir es, sie für das Leben des Individuums unschädlich
zu machen? Dieser Wege sind mehrere. Am häufigsten ist der Erfolg, daß dieselben
schon während der Arbeit durch die korrekte seelische Tätigkeit der ihnen
entgegenstehenden besseren Regungen aufgezehrt werden. Die Verdrängung
wird durch eine mit den besten Mitteln durchgeführte Verurteilung
ersetzt. Dies ist möglich, weil wir zum großen Teil nur Folgen aus früheren
Entwicklungsstadien des Ichs zu beseitigen haben. Das Individuum brachte
seinerzeit nur eine Verdrängung des unbrauchbaren Triebes zu stande, weil es
damals selbst noch unvollkommen organisiert und schwächlich war; in seiner
heutigen Reife und Stärke kann es vielleicht das ihm Feindliche tadellos
beherrschen. Ein zweiter Ausgang der psychoanalytischen Arbeit ist der, daß die
aufgedeckten unbewußten Triebe nun jener zweckmäßigen Verwendung zugeführt
werden können, die sie bei ungestörter Entwicklung schon früher hätten finden
sollen. Die Ausrottung der infantilen Wunschregungen ist nämlich keineswegs das
ideale Ziel der Entwicklung. Der Neurotiker hat durch seine Verdrängungen viele
Quellen seelischer Energie eingebüßt, deren Zuflüsse für seine Charakterbildung
und Betätigung im Leben sehr wertvoll gewesen wären. Wir kennen einen weit
zweckmäßigeren Vorgang der Entwicklung, die sogenannte Sublimierung,
durch welchen die Energie[p.
61] infantiler Wunschregungen nicht abgesperrt wird,
sondern verwertet bleibt, indem den einzelnen Regungen statt des unbrauchbaren
ein höheres, eventuell nicht mehr sexuelles Ziel gesetzt wird. Gerade die
Komponenten des Sexualtriebes sind durch solche Fähigkeit zur Sublimierung, zur
Vertauschung ihres Sexualzieles mit einem entlegeneren und sozial wertvolleren
besonders ausgezeichnet. Den auf solche Weise gewonnenen Energiebeiträgen zu
unseren seelischen Leistungen verdanken wir wahrscheinlich die höchsten
kulturellen Erfolge. Eine frühzeitig vorgefallene Verdrängung schließt die
Sublimierung des verdrängten Triebes aus; nach Aufhebung der Verdrängung ist
der Weg zur Sublimierung wieder frei. Wir dürfen es nicht versäumen,
auch den dritten der möglichen Ausgänge der psychoanalytischen Arbeit ins Auge
zu fassen. Ein gewisser Anteil der verdrängten libidinösen Regungen hat ein
Anrecht auf direkte Befriedigung und soll sie im Leben finden. Unsere
Kulturansprüche machen für die meisten der menschlichen Organisationen das
Leben zu schwer, fördern dadurch die Abwendung von der Realität und die
Entstehung der Neurosen, ohne einen Überschuß von kulturellem Gewinn durch dies
Übermaß von Sexualverdrängung zu erzielen. Wir sollten uns nicht so weit
überheben, daß wir das ursprünglich Animalische unserer Natur völlig
vernachlässigen, dürfen auch nicht daran vergessen, daß die Glücksbefriedigung
des einzelnen nicht aus den Zielen unserer Kultur gestrichen werden kann. Die
Plastizität der Sexualkomponenten, die sich in ihrer Fähigkeit zur Sublimierung
kundgibt, mag ja eine große Versuchung herstellen, durch deren immer weiter
gehende Sublimierung größere Kultureffekte zu erzielen. Aber so wenig wir
darauf rechnen, bei unseren Maschinen mehr als einen gewissen Bruchteil der
aufgewendeten Wärme in nutzbare mechanische[p.
62] Arbeit zu verwandeln, so wenig sollten wir es
anstreben, den Sexualtrieb in seinem ganzen Energieausmaß seinen eigentlichen
Zwecken zu entfremden. Es kann nicht gelingen, und wenn die Einschränkung der
Sexualität zu weit getrieben werden soll, muß es alle Schädigungen eines
Raubbaues mit sich bringen. Ich weiß nicht, ob Sie nicht
Ihrerseits die Mahnung, mit welcher ich schließe, als eine Überhebung auffassen
werden. Ich getraue mich nur der indirekten Darstellung meiner Überzeugung,
indem ich Ihnen einen alten Schwank erzähle, von dem Sie die Nutzanwendung
machen sollen. Die deutsche Literatur kennt ein Städtchen Schilda,
dessen Einwohnern alle möglichen klugen Streiche nachgesagt werden. Die
Schildbürger, so wird erzählt, besaßen auch ein Pferd, mit dessen
Kraftleistungen sie sehr zufrieden waren, an dem sie nur eines auszusetzen
hatten, daß es soviel teuern Hafer verzehrte. Sie beschlossen, ihm diese Unart
schonend abzugewöhnen, indem sie seine Ration täglich um mehrere Halme
verringerten, bis sie es an die völlige Enthaltsamkeit gewöhnt hatten. Es ging
eine Weile vortrefflich, das Pferd war bis auf einen Halm im Tag entwöhnt, am
nächsten Tage sollte es endlich haferfrei arbeiten. Am Morgen dieses Tages
wurde das tückische Tier tot aufgefunden; die Bürger von Schilda konnten sich
nicht erklären, woran es gestorben war. Wir werden geneigt sein zu
glauben, das Pferd sei verhungert, und ohne eine gewisse Ration Hafer sei von
einem Tier überhaupt keine Arbeitsleistung zu erwarten. Ich danke Ihnen für die Berufung
und für die Aufmerksamkeit, die Sie mir geschenkt haben. ANMERKUNGEN ZUR TRANSKRIPTION
Das
Inhaltsverzeichnis in diesem elektronischem
Buch entstand aus den Überschriften im ursprünglichen Buch. Nach dem Korrekturlesen auf PGDP,
wurden die folgende Korrekturen vorgenommen.
Seite 32: fehlende Fußnote Markierung TRANSCRIBER’S
NOTES
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