I
Nacht hing groß in den Bäumen der
Allee und tropfte auf seine Schultern nieder, da Tobias unter den
flüsternden Ästen dahinschritt. Er ging und ging, die Allee hinauf
und hinab, fast schon zwei Stunden lang.
Die Normaluhr (ehernes Gespenst an
der Straßenkreuzung) zeigte schon halb elf. Im Sterben dieses
Sommerabends, der in unzähligen allerzartesten Tinten hinter dem
Riesenrumpf der ewigen grauen Gedächtniskirche zerfloß, war Tobias
aufgebrochen – ergriffen von jener düsteren Unruhe, die immer
wiederkam und ihn desto mehr quälte, je mehr er ihr zu entfliehen
oder sie zu betäuben suchte im Trubel des klirrenden Cafés, jener
armseligen Stube mit den roten Plüschsesseln und den grinsenden
Fratzen kaltblütiger Gäste, die dort ein unwirkliches Leben führten
– ein Dasein von bunten Abziehbildchen, wie sie uns als Kindern
geschenkt werden. Wie oft, so auch diesmal war er dort hingeflohen
vor dem Zergehen der sommerlichen Sonne, das weich über den nahen
Himmel rann und seine Unruhe zum Irrsinn zu steigern drohte.
Und doch siegte immer diese
Unruhe, die, wenn sie kam, ihm alle Räume verhaßt machte – sein
chambre garnie so gut wie das Café oder den großen Raum der Straßen
und Plätze. Aufgescheucht war er gegangen, als der Abend schon
(dunkler Strom) blau über die Häupter der Passanten ausgegossen war.
Jetzt war die Nacht da. Flimmernd strahlte der Asphalt auf, wenn ein
Automobil surrend an Tobias vorbeistob. Aus den Café-Vorgärten
schwemmte eine süße Musik über ihn hin. Gesprächsfetzen wehten,
ungehört von ihm, vorüber. Es war ein stetes Wandeln bunter,
vornehmer Damen, diskreter Herren da, ein unaufhörlicher Verkehr
lachender Equipagen und Autos, der melancholisch-heitere Abendgesang
der großen düsteren Stadt, die auf ihre Art zu leben verstand.
... Und er? Verstand er zu leben?
Wie lebte er denn?
Geblendet stand er an der Schwelle
des Platzes, und eine Fontäne von Licht und Lauten umsprang ihn. Er
sann nach, kurz, abrupt.
Gewiß kein Leben dieser Art, das
ebenso Schein ist wie die bunten Roben, die strahlenden Autos, die
lächelnden Masken, die ihm vorüberzogen. Wie lebte er? Was war dies:
das Aufstehen morgens um zehn oder elf Uhr, manchmal auch mittags;
dies Aufstehen mit dem tiefen Ekel vor seinem Zimmer, vor seinen
Büchern, seinen Kleidern, seiner eigenen Person? Die tägliche
Konstatierung, dass er kein Geld habe, und dies Überlegen, woher er
es bekommen könne, von welchem Bekannten oder Unbekannten und durch
welche Mittel. Dieser tägliche Hunger gleich morgens, den er
verachtete. Die tägliche Abwehr gegen die alte Zimmerwirtin, die
ihre Miete verlangte. Dann dies lustlose Verlassen des Hauses, das
ihm ebenso zuwider war wie die unendlich lange Straße, in der es
stand und die den höhnischen Namen des großen Philosophen führte,
dessen Werke er einst gelesen hatte und der ihm wie ein Vater
erschien, der mit dem Krückstock drohte. Das schlechte Gewissen, mit
dem er um Geld bat im Café oder vor den Sesseln der Redakteure, die
ihm erstaunt den Zigarrenrauch ins Gesicht bliesen und ihn
verdrießlich abschüttelten. Diese Leere des Hirns, das ekelhafte
Ressentiment, das er spürte und das ihn ungerecht machte gegen alle
Leute mit anständigen Anzügen, zufriedenem Antlitz und ruhigem
Schritt. Und dann: – dann kam der große Fluch, der Abend, der ihn
einspann und die dämonische Unruhe brachte, die ihn wie einen
Kreisel sich um sich selbst drehen ließ. Die Vöglein pfiffen – und
unentrinnbar stand er seinem Schicksal gegenüber, das sich vor ihm
aufbaute und ihm mit mächtiger Hand seinen Weg wies: Geh!
So ging er. Er ging alle Tage,
vorgestern und gestern und heute. Entrinnen gab es nicht. Den Tod
später oder vielleicht, hoffentlich, gelegentlich als zufällige
Konsequenz. Er ging. Und richtig: da war die Stelle! Er war, wie
immer, richtig stehengeblieben.
»Nachtglocke zur Apotheke.« Also
geschellt und warten.
Da wurde das Licht entzündet, das
Klapptürchen ging auf. Der Apotheker streckte den kahlen Kopf
heraus.
»Herr Doktor ... «
»Na, schon wieder da? ... Können
Sie denn nicht eher kommen?«
»Bitte um Entschuldigung, ich
hatte...«
Aber die Glatze war schon fort.
Ja, was hatte er? Er hatte
gekämpft wie fast jeden Abend und war, wie immer, unterlegen. Ein
großes Achselzucken über die ganze Welt!
Der Apotheker erschien wieder:
»Drei Mark fünfzig.«
Tobias murmelte: »So viel habe ich
nicht.«
»Na, gut«, sagte der Apotheker,
»ich werd's noch mal aufschreiben, aber wehe, wenn Sie nicht zahlen:
Sie wissen ja!«
»Danke schön«, flüsterte Tobias.
»Guten Abend.«
Nun war kein Sinnen mehr und keine
Gedanken, keine Sorge und keine Frage, da er das ewige Gift in den
Händen hielt, die sich wie zum Gebet um die kleine sechseckige
Flasche falteten. Er selbst war jetzt das Leben, und sein Herz
übertönte die Welt!
Im Café, auf der Toilette, gab er
sich drei Injektionen hintereinander, verschloß Flasche und
Injektionsspritze wieder sorgfältig und steckte alles in die
Hosentasche.
Nun fühlte er sich frei und
leicht, spielerisch, ein junger Gott! Strahlend betrat er das Café
und lächelte den jungen Frauen, rümpfte die Nase über die eleganten
Kavaliere. Ein Wink von ihm, und er würde, Ikarus, dem göttlichen
Jüngling gleich, lächelnd an die Decke schweben, singend über den
Baldachin des Vorgartens gleiten und auf zu den knisternden Sternen
kreisen.
II
Federnden Schrittes ging er hin
und ließ sich am beglänzten Marmortisch voll plaudernder Frauen und
Herren nieder. Er bestellte und entzündete die herbe Zigarette, den
Gefährten in Trauer und Glück.
Doch da er aufschaute, sah er die
Nacht drohen hinter dem aromatischen Qualm, den sein Mund ausstieß –
jene Nacht, seine Nacht, die mit schwarzem Faustschlag diese kurzen
Minuten des heiteren Rausches zertrümmerte und sich selbst
unerbittlich heranschob mit jenem neuen düsteren Qual-Rausch, dessen
rhapsodischen Gesang, endlos gedehnt, sie ihm von jetzt an in die
Ohren gellte.
Was verzerrten sich die Antlitze
ihm gegenüber am Tisch, die eben noch lächelten? Woher die
schielende Bedeutung in den Blicken, die diese Menschen ihm zuwarfen
und dann untereinander austauschten, vielsagend und unwillig?
Und da beugten sie sich auch schon
zueinander und flüsterten ...
Angestrengt horchte er hin ... und
da, war es nicht da? Hatte er nicht eben deutlich das Wort
vernommen, das fatale Wort, das riesenhaft über die Firmamente
dieser seiner Nächte gespannt war und (im Klang schon erbarmungslose
Maschine) ihn langsam zerhackte: – Kokain! ... Ko-ka-in!
Stück für Stück hackte es ab von
ihm, bis er dereinst bald ganz zermalmt sein wird.
Da, jener Herr (... bleich sprang
Tobias der Schreck in die Augen ...): ganz deutlich, unerhört leise
und klar zugleich, hatte er gesagt: »Diese Bestie pumpt sich jeden
Abend mit Kokain voll!«
Ach, da schlug das Herz in
rasendem Getrommel, da würgte etwas den kalten klammen Hals, da fuhr
eine geisterhafte Hand durch das Haar, das zitterte, und ein kalter
Schweiß brach über dem Rückgrat aus.
Auf! Fort von hier! Schon
schwirrte die große Peitsche in der Luft über seinem Haupt. Es
knallte und klatschte laut. Bebend bezahlte er, erhob sich wankend
und wie gelähmt und floh, floh aus diesem Kessel hinaus.
Ein Blick zurück im Hinausstürzen
zeigte ihm noch, wie alles Publikum schon aufmerksam geworden war.
Man lachte, man deutete auf Tobias.
Ein fetter Herr, ganz rot im
Gesicht, schlug sich brüllend vor Lachen auf den Schenkel und bog
sich zurück, der rote Kopf drohte abzubrechen und hinter die
Stuhllehne zu kollern. – Gräßlich! – Die Wirbeltür spie Tobias auf
die Straße.
Aber auch hier war kein Rasten für
ihn.
Die Menschen blieben stehen und
schauten ihn an. Harmlose Spaziergänger schüttelten die Köpfe und
ließen Tobias herankommen, um ihn genauer zu betrachten. Hier konnte
er nicht bleiben!
Er drückte sich eilig die Häuser
entlang, die Joachimsthaler Straße hinauf, zum Bahnhof: schon
gehetztes Wild, verscheucht von jedem Fensterladen, der sein Licht
auf ihn warf.
Was blieb ihm übrig in solcher
Not, da Gott ihn höhnisch auf den nächtigen Wolken anschrie und
Erzengel eherne Fäuste schüttelten, daß die Straßen klirrend
widerhallten? Was blieb anderes als das gebenedeite Gift, das er in
der Tasche trug?
Die Tränen stiegen ihm bereits in
die Kehle, als er in der Bahnhofshalle verschwand. Wieder kehrte er
ein bei den Aborten, er, der stete Gast, er, die stinkende
Kellerassel, das Klärichtvieh.
Hei, da pfiffen, den lieben
Vöglein auf der Dämmerung gleich, die Bahnhofsbeamten auf ihren
Signalpfeifen – oh, da klappten die Schaltertürchen der
Fahrkartenausgabe auf, und alles schaute diesem Menschen nach, der,
einem Betrunkenen ähnlich, zu den Aborten torkelte.
Er riegelte sich auf einem der
Klosetts ein. Was war das für ein Leben? Ein Aasleben! O du
verhaßt-geliebtes Gift, Kokain, Kokain (... die Maschine stampfte:
klick-klack, klick-klack: wieder ein Stück ab ... ).
Oben donnerte der Zug in die Halle
(... sicherlich, dachte Tobias, Expreß zur Riviera, weiß schon:
blaue Gestade, taubenumflattert, Pinien- und Orangenhain und der
selige Berg: Santa Margherita ... ), und er nahm zwei neue
Injektionen vor, in beide Oberschenkel je eine.
Das erleichterte einen Augenblick:
... Riviera, dachte Tobias, Riviera, Santa Margherita ...
Dann betete er, murmelnd: Gib,
lieber Herr von Gott, du selige Exzellenz, gib, daß ich bei der
nächsten Injektion lautlos verrecke!
Als er die Waschräume der
Bahnhofshalle verließ, schien ein Rauschen den riesigen gewölbten
Raum zu erschüttern. Normaluhr drohte mit aufrechtem Finger: zwölf
Uhr.
In der Vorhalle war ein tosender
Verkehr. Gekreisch einer Horde von Satanen stürzte in Tobias' Ohren,
der sich durch die (vermeintliche) Menschenmenge drängte,
schamerfüllt, als sei er nackt.
Hatten diese Menschen, dieses
Gebräu aus Hohn und Schadenfreude, nichts anderes zu tun, als ihm
aufzulauern, sich am Bahnhof aufzustellen um Mitternacht, um dies
Schauspiel zu genießen: – wie er, der Kokainist, aus seiner Kloake
gekrochen kam, mit blutenden Armen und Beinen, an die sich das Hemd
festklebte? Fluch über sie! Fluch über seinen hellen Anzug ... Da:
waren das nicht schon Blutflecke?
Er feuchtete die Fingerspitzen an
und wollte so die Flecken fortreiben.
Am Ausgang wollte er sich in die
Brandung der Straße stürzen, doch plötzlich schwenkte er ab und
versteckte sich unter der Bahnüberführung.
III
Zwei Damen standen an der
Straßenecke, dem Bahnhofsausgang gegenüber. Tobias äugte schnaufend
hin: Oh, wie kamen die hierher?
Das war seine Mutter und seine
Schwester. Aber waren die nicht in Köln?
Gewiß, die mußten eigentlich in
Köln sein! Aber wer weiß? Vielleicht hatte sie der Herr
Bahnhofsvorsteher telegraphisch nach Berlin gerufen, damit die
Mutter ihren Sohn, die Schwester ihren Bruder sehen könne,
teilnehmen könne an dem unterhaltenden Schauspiel, das das Publikum
von Berlin W allabendlich genoß, interessanter und billiger als im
Palast-Theater oder in Nelsons Künstlerspielen, an der amüsanten
Tragikomödie: »Der Kloakenprinz oder: »Mein Gott, mein Gott, warum
hast du mich verlassen.«
Sie standen an der Ecke, im
brutalen Licht der bläulichen Bogenlampe. Die Kleider wehten ihnen
um die Leiber. Es war ein Klappern da, als ob ihnen die Gebeine
schlotterten. Oder waren es seine? Seine Knie zitterten. Die Hände
auch. Sie waren so dünn! Sah er durch die gespreizten Finger
hindurch, so waren die vielen Lichter wirr gaukelnde kalte Monde,
die mit leisem Puff von den schwarzen Pfählen sprangen und auf dem
Asphalt zerschellten.
Regungslos standen die beiden
Frauenfiguren. Ha, er kannte das! ... sie taten so unbeteiligt und
hielten ihn doch scharf im Auge! ...
Kleine blonde Schwester, lieber
Dotz, warum läßt du mir keine Ruhe? Und Sie, Frau Sch..., Eveline
oder Ernestine mit– dem schwer aussprechlichen Vatersnamen, Sie,
teure Mutter, wie? ... mir schon wieder auf den Fersen? Und so weit
her! Vom Rande Deutschlands nach Berlin, bloß um den Verlorenen Sohn
zu ängstigen? Würdig, dreimal würdig Ihrer Mutterliebe! ... Was
steht ihr da? Wie? Ihr Grimassen!
Eine Welle flog durch sein
brausendes Gehirn. Er faßte sich ein Herz. Wut packte ihn.
Er ging auf die beiden Gestalten
zu, wollte am Ausgange des Untergrundbahnhofes vorbei, der seine
Treppe auf die Straße warf, von stilisierten Lampen umrankt.
Aber es quoll aus dem Schlund des
unterirdischen Baues herauf – eine schwarze Menschenmenge, die ihn
rasch umzingelte. Geschrei ohrfeigte ihn aufs neue. Schnell atmend
entwand er sich dieser neuen Gefahr und schoß auf die Straßenecke
zu, wo die beiden Damen standen.
Standen? Standen?
Er sah nur zwei Reklameschilder,
in Schwarz und Gold, die ihm unverschämt entgegenleuchteten. Keine
Frauen da, kein Mensch! ... Ach, ein kümmerlicher Hund nur strich
langsam um die Ecke, schnüffelte und verrichtete seine übliche
Notdurft.
Tobias, der seine Lunge dunkel,
schwer und wie samten werden fühlte, drückte sich in den Hauseingang
und spritzte, halbtot vor Angst, beobachtet zu werden, ein neues
Quantum Kokain in den rasch vom Ärmel entblößten Unterarm.
IV
Ja, siehe, da standen die bebenden
Sterne wieder still, einen Augenblick lang. – Heiliges Gift!
Heiliges Gift! – Das fühlte Tobias und sah den Dämon, der ihm ebenso
vertraut wie schrecklich war, weit über dem nächtigen Himmel stehen.
Er wußte und flüsterte es ins Firmament hinauf: »Du bist der Tod,
die Gnade und das Leben. Du hast keinen Gott neben dir!«
Er ging die Straße wieder hinab.
An der Kreuzung des Kurfürstendamm
betrat er die grün erleuchtete Rotunde. Ein älterer Herr war darin
und ordnete seine Kleider, als Tobias sich an ein Abteil stellte und
Vorbereitungen traf, um zu urinieren.
Tobias fühlte sich beobachtet.
Seine Hände flogen ratlos an seinem Anzug hin und her. Er konnte
keinen Augenblick still stehen, er wandte sich um, wechselte das
Abteil, befühlte alle Taschen seines Anzugs, tastete nach Flasche
und Spritze und schaute schließlich ratlos in die Augen des Herrn,
der lange fertig zum Fortgehen war und ihn aufmerksam und mit kalter
Ruhe betrachtete.
Schließlich ging er und ließ
Tobias in heller Verzweiflung zurück ... Um Gottes willen! Das war
ein Detektiv, ein Sanitätsbeamter, ein Abgesandter der Mutter, der
er vorhin begegnet war und die sich vor ihm verbarg!
Minutenlang stand Tobias ratlos in
diesem achteckigen übelriechenden Raum, an dessen Wänden ein
schleimiges Wasser niederrann und von Zeit zu Zeit plötzlich
aufzischte, als wolle es ihn angeifern.
Gewißlich standen sie jetzt
draußen im Kreis um die Rotunde, ein schweigender Kordon.
Handschellen klirrten, Zwangsjacke war zum Überwerfen bereit. Ein
Schluchzen würgte Tobias' Kehle, die beizend trocken war. Durst!
Durst! ... In letzter Wirrnis zu allem entschlossen, verließ er
schließlich die Bude und wankte ins Freie hinaus.
Er war sehr erstaunt, niemand
vorzufinden, der auf ihn lauerte.
Doch da ( ... jäher Schreck
schraubte ihm die Augen in den Kopf ...) da stand der alte Herr und
pfiff. Pfiff laut, einmal, zweimal!
Halt! Halt! – Tobias rannte auf
ihn zu, zog schlotternd den Hut und sprach ihn atemlos an: »Sie
müssen sich nicht wundern, Herr, daß ich so aufgeregt bin! Ich habe
ein schreckliches Erlebnis hinter mir! Ich versichere Ihnen,
wirklich, glauben Sie mir: ich bin nicht wahnsinnig! Noch nicht!
Auch nicht betrunken oder vergiftet! Glauben Sie mir! Pfeifen Sie
nicht Ihren Leuten! Lassen Sie mich gehen!«
Verwundert maß ihn der Herr vom
Kopf bis zu den Füßen. Er trat einen Schritt zurück und sagte: »Wie
meinen Sie? Ich verstehe Sie nicht. Was gehen Sie mich denn an? Ich
pfeife meinem Hunde.«
Er pfiff wieder. Da kam ein
dunkler Schäferhund gelaufen, schweifwedelnd sprang er auf seinen
Herrn zu.
»Entschuldigen Sie«, murmelte
Tobias und zog sich schnell zurück. Sicherlich war das eine Falle!
Oh, er hatte das heimliche Blinken in den Augen des Herrn gesehen!
Hier galt es, sich in Sicherheit zu bringen.
Tobias wandte sich zur Kaiserallee
und rannte ein Stück unter den Bäumen, bis ihm die Brust zu bersten
drohte. Er blieb stehen und sah sich um. Tiefe Nacht und kein Mensch
zu sehen. Die Normaluhr zeigte halb eins.
V
Hier, im Schatten des Gebüschs,
nahm er sein Jackett ab, legte es auf das Pflaster an einen
Baumstamm, krempelte den Hemdsärmel auf, der große dunkle Blutlachen
zeigte und den eigentümlichen Geruch vergossenen Blutes ausströmte,
und nahm, mit knirschend zusammengebissenen Zähnen, in aller
Sorgfalt und mit betonter Langsamkeit, zwei Injektionen vor.
Er hielt die Flasche gegen das
ferne Laternenlicht. Sie war noch zu zwei Dritteln voll. Befriedigt
schob er sie in die Hosentasche, zog die andere Flasche hervor und
wusch den Oberarm mit Äther ab. Auch Stirn und Hals netzte er damit.
Die Büsche in den Vorgärten
flüsterten. In der Ferne nahte eine der letzten Straßenbahnen.
Rasch zog Tobias sich wieder an.
Oh, nun wünschte er zu Hause zu
sein, um die Verderbnis, hinter verriegelten und verhangenen
Schlössern, ganz auszukosten. Nach seinem möblierten Zimmer aber,
das wußte er, konnte er nicht gehen. Die Wirtin würde seine
Zimmertür abgeschlossen und den Schlüssel fortgesteckt haben, so daß
er nicht hinein können wird.
Wohin, wohin, mein Gott, in seiner
Not! Barhäuptig stand er unter den Sternen.
Sollte er wiederum, wie öfter
schon, die ganze Nacht herumirren, um schließlich den grauen Morgen
am Spreekanal zu finden oder an der Gasanstalt, die dann wie eine
Faust aus den Nebeln stiege?
Der Äther mußte irgendwie die
rasende Erregung gemindert haben, die ihn gefangenhielt. Sein Puls,
das fühlte er, ging noch fliegend, hoch, schnell. Oder war es das
Alleinsein, die Abwesenheit von Menschen, die ihm diese relative
Ruhe gab?
Er setzte sich in Marsch, mit der
Zähigkeit des Gift-Fanatikers, die ihn nicht Muskeln noch Sehnen
spüren ließ. Die lange Kaiserallee hinab bis zum Bahnhof
Wilmersdorf-Friedenau. Hier schwenkte er seitlich ab und stand bald
vor dem großen Mietshaus.
Hier wohnte Marion, die goldene
Freundin aus dem Café, in einem großen Atelier.
Die Haustür war verschlossen. Er
pfiff einige Male und rief: »Marion, Marion!«
Vergeblich. Sicherlich schlief sie
schon.
Während er wartend auf und ab ging
und die Nachtluft aus dem freien Vorstadtgelände ihn umwehte, begann
aufs neue der schwarze Himmel auf ihm zu lasten. Die Sterne tropften
schwer und klebrig. Die hohen Häuser bedrückten ihn. Der Wind sang
in den schwingenden Bogenlampen, die ein irres und grelles Licht
umherwarfen.
Die Angst befiel ihn aufs neue. Er
sah sich furchtsam um, schlich in einen dunklen Winkel und
verabreichte sich zwei neue Spritzen.
Ha, da schoß das Fieber, gäle
Flamme, wieder in ihm auf! Die Stirn knisterte, die Augen wurden
weit und paralytisch aufgezerrt. Ruhelos trat er von einem Bein aufs
andere.
Fast hatte er schon vergessen, was
er hier wollte, als sich Schritte dem Hause näherten.
Ein Herr blieb vor der Haustür
stehen und rasselte mit seinen Schlüsseln.
Tobias trat schüchtern hinzu und
grüßte.
»Es öffnet niemand«, sagte er
stockend, »ich soll eine Dame zu ihrer kranken Verwandten holen.«
Der Herr ließ ihn schweigend durch
die geöffnete Tür und schloß wieder ab.
Tobias schaltete das Minutenlicht
ein und rannte in großer Eile die Treppen hinauf.
Plötzlich fiel ihm ein, daß es
besser sei, den Herrn erst in seine Wohnung gehen zu lassen. Er
wartete. Schon im ersten Stock öffnete der Angekommene eine Flurtür
und trat ein.
Die Tür fiel zu. Das Licht
erlosch. Durch die bunten Glasfenster des Treppenhauses drang
phantastisch das zitternde Licht der Laternen von unten herauf.
Tobias schlich zagend zum vierten
Stock empor, mit tödlicher Angst vor jedem Treppenabsatz, der ihn an
einer Wohnung vorbeiführte.
Oben, im vierten Stock, führte
erst eine angelehnte Tür in einen korridorartigen Vorraum mit
Lichtschachtfenster. Im Hintergrunde war eine schwere Eisentür, die
zu Marions Atelier ging.
Wieder schaltete Tobias das Licht
ein. Auf das Fensterbrett des Lichtschachtes stellte er seine
Flasche und das Etui mit seiner Injektionsspritze. Er rieb wieder
die blutigen Arme mit Äther ab und genoß eine neue Einspritzung.
Da begannen mit Macht neue
Halluzinationen.
Er fuhr herum. Unten im
Treppenhaus, im Erdgeschoß, erhoben sich Stimmen, Stimmen vieler
Menschen, die sich anschickten emporzusteigen. Ein wirres,
halblautes Geflüster. Tobias unterschied einzelne Perioden: »Das muß
endlich aufhören... Es ist ein Skandal... Das Schwein ruiniert sich
und seine Angehörigen ... Ins Irrenhaus mit dem Subjekt!... Wir
werden ihn ins Automobil schaffen... Packen Sie ihn nur gleich! ...
Und daß er nicht die Flasche austrinkt, das bringt der Kerl fertig
... «
Tobias zitterte. Schweiß rann ihm
(... oder war es Blut?). Er hörte die Stimme seiner Mutter, während
das Licht wieder erlosch: »Tobias, mein Sohn! Tobias, ich flehe dich
an! ... Tobias, Tobias!... Tobias ... !«
Die Stimme verhallte klagend.
Tapp, tapp, tapp! Man stieg die Treppen herauf, regelmäßig, immer
näher. Das Geflüster zwischendurch verstummte keinen Augenblick.
Sollte er es wagen, das Licht
wieder anzuzünden? ... Er tat's.
... Da lag vor ihm, vor seinen
Füßen, leise sich noch windend, der Körper der sterbenden Mutter.
Daneben hockte schwarz gekleidet, das Gesicht in schwarze Schleier
gehüllt, die Schwester und weinte leise, gesenkten Hauptes.
Tobias fuhr zurück. Er wandte sich
ab und preßte das heiße Gesicht an die Wand.
VI
Das Herz klopfte wie ein Hammer an
seine Schädeldecke. Nach einer Weile wandte er sich um. Der Spuk war
verschwunden. Schnell nahm er eine neue Spritze und begann, erst
leise, dann lauter und lauter, an die Eisentür zu klopfen.
Er beugte sich zum Schlüsselloch
nieder und rief »Marion! Marion!« mit unterdrückter Stimme hinein.
Zwischendurch fuhr er alle Augenblicke herum, damit ihn niemand
rücklings ergreife.
Endlich sah er durch das
Schlüsselloch, daß drinnen Licht entstand. Ein Schatten bewegte sich
auf dem Fußboden und näherte sich der Tür. Eine dünne, verschlafene
Stimme, Marions Stimme, fragte angstvoll: »Wer ist da, um Gottes
willen?«
»Ich bin's, ich, Tobias ...
Marion, mach auf, ich muß hinein.«
Die Tür wurde geöffnet und
kreischte leise in den Angeln. Tobias, dem durch die letzten,
schnell aufeinanderfolgenden Einspritzungen ein wilder Paroxysmus im
Körper wühlte, torkelte hinein.
Marion, im Nachtgewand, stand vor
ihm, eine Kerze in der Hand. Sie kannte Tobias und seinen Zustand,
denn nicht zum ersten Male suchte er sie in der Nacht auf. –
Sie war müde (es mochte wohl halb
drei Uhr sein), aber sie ließ ihn keinen Mißmut merken. Wortlos
legte sie ihm Decken auf ein Feldbett zurecht, das hinter einer
spanischen Wand stand.
»Leg dich nieder«, sagte sie, »und
gib mir das Kokain.«
Sie wußte, daß sie vergeblich um
das Kokain bat und daß sie es ihm auch nicht mit Gewalt würde
entreißen können.
Tobias schüttelte den Kopf. Er
hatte die Kerze auf einen Stuhl neben das Bett gestellt und hockte
auf dem Bettrand, mit stieren Augen die Freundin anglotzend, die
sich wieder niederlegte.
»Hast du die Tür gut wieder
abgeschlossen? Sind die Fenster zu?« fragte er sie.
»Ja, ja doch!«
Er zog die Jacke aus.
Da seufzte Marion und wandte den
Kopf ab.
In der Tat! Er bot einen
gräßlichen Anblick!
Beide Hemdsärmel waren bis zum
Handgelenk herab steif und schwarz von Blut. Übler Geruch wehte
daraus auf.
»Bitte, mach schnell«, flüsterte
Marion, »und mach keine Blutflecken in die Laken.«
Sie lag immer noch abgewandt.
Übelkeit stieg ihr auf. Plötzlich erhob sie sich und erbrach in die
Ecke des Zimmers. Sie weinte vor sich hin.
Tobias, ratlos und verzweifelt,
begann laut zu brüllen. Er schüttelte die erhobenen Fäuste über
seinem Haupt und blickte mit weit aufgerissenen Augen zur Decke
empor.
Marion, totenblaß, lief schnell zu
ihm hin und verschloß ihm mit der Hand den Mund.
»Stille, still«, flüsterte sie ihm
ins Ohr, »es darf dich niemand hören, sonst fliege ich hier raus!«
Nein! Niemand hörte diesen
verzweifelten Menschen, am wenigsten jener gütige Vater, dessen
unerbittliche schwarze Stirn vor den großen Atelierfenstern stand,
starr, unberührt, unbeweglich!
»Komm, leg dich hin und sei
ruhig«, sagte Marion, »ich möchte schlafen. Mach das Licht aus.«
Tobias entkleidete sich
vollständig. Marion schaute krampfhaft weg. Auch der untere Rand
seines Hemdes war voll Blut von den Injektionsstichen in beide
Oberschenkel. Es war sein einziges Hemd, das er seit drei Wochen
trug; alle andere Wäsche hielt seine Zimmerwirtin in Charlottenburg
zurück, als Pfand für die schuldige Miete. Er stank, sich selbst ein
Abscheu, widerlich, verhaßt.
Er stellte die Medizinflasche auf
den Stuhl, legte die Spritze zurecht, streckte sich unbedeckt auf
das Lager aus und löschte die Kerze.
Atemlos wartete er einige Minuten
und starrte regungslos zur Decke empor, die auf dieser Zimmerseite
bis zur Hälfte und halb zur Wand herab aus Glas war.
Marion regte sich nicht. Durch das
Zimmer schlich, träge, schleimig, die Nachtzeit. Es war, als zögen
sich quer durch das Atelier, von einer Wand zur andern hin und her,
dunkle klebrige Fäden, die einen Duft von geronnenem Blut
ausströmten vermischt mit dem süßlichen Parfüm des Kokains und dem
lebhafteren des Äthers.
Es war totenstill. Marion schien
zu schlafen. Nur der Nachtwind ließ manchmal die Scheiben der
Fenster leise klirren. Tobias mahlte laut mit den Zähnen, wie er
immer tat, wenn die Kokainvergiftung in ein bestimmtes Stadium
getreten war. Dabei verzerrte sich sein Gesicht, und die Schläfen
spielten wie Wellen. War nicht neulich, auf dem Alexanderplatz, eine
alte hinkende Frau schreiend vor ihm geflüchtet, als sie dieses
fratzenschneidende Gesicht sah?
Das Denken stand ihm still. Er lag
regungslos und stierte zur Glasdecke hinauf. Von Zeit zu Zeit gab er
sich im Dunkeln und ohne näher hinzusehen Kokaininjektionen. Er
fühlte an seinen mißhandelten Oberschenkeln, an den zerfetzten Ober-
und Unterarmen das Blut rinnen. Gewiß tropfte es auch in die
Bettlaken, die zu schonen Marion ihn gebeten hatte. Er kümmerte sich
nicht mehr darum. jetzt war er schon in einem Grade vergiftet, daß
er, fast mechanisch, in immer kürzeren Zeitabständen Spritzen nehmen
mußte, wie etwas Selbstverständliches, etwa wie Atmen oder Essen,
nur um überhaupt weiterzuexistieren.
Plötzlich wurde er auf Schatten
aufmerksam, die über die Glaswände und das halbe Glasdach des
Ateliers hinglitten. Er beobachtete sie eine Zeitlang mißtrauisch.
Wenn er genau hinschaute, glaubte
er deutlich zu sehen, daß es die Schatten von Menschen waren, Köpfe,
Arme, Beine, die sich da am Rand des Daches zu schaffen machten.
Nun drang auch schon durch das
Glas ein leises Geflüster. Tobias unterschied drei Stimmen.
Männerstimmen, die eifrig redeten. Argwöhnisch beobachtete er die
Schatten. Er sah, wie sie sich Werkzeuge reichten, Hebel, Zangen,
Brecheisen, und das Geflüster, die leisen Ausrufe paßten sich genau
den Bewegungen an.
»Achtung!« hörte er. »Eins ...
zwei ... drei ... – hupp!« Und dann ein deutliches Knacken.
Ein Wind entstand im Zimmer, ein
kalter Hauch, der von oben zu kommen schien. Tobias fühlte ihn mit
dem ganzen Körper.
Eine schnell sich steigernde
Furcht befiel ihn. Das waren Einbrecher! Oder Detektive! ... Hatte
nicht der Maler Ludwig M. ... vom Südwestkorso, nicht weit von hier,
von einem Einbrecher erzählt, dem er zwischen den Speichern begegnet
war, als er in sein Atelier gehen wollte?
Lähmende Angst brannte ihm die
Kehle aus. Er lag hier hilflos, blutend, krank bis auf den Tod.
Marion schlief, ein wehrloses Mädchen. Waren es Einbrecher so
konnten die kurzen Prozeß mit ihnen machen. Waren es Detektive, so
würden sie beide in Schutzhaft genommen werden, und gegen ihn,
Tobias, würde man Anklage erheben. Er würde in eine Anstalt kommen,
jahrelang, und kein Kokain mehr erhalten.
Leise stand er auf und rüttelte
die Freundin wach; sie hatte fest geschlafen.
Erschreckt fuhr sie auf.
»Was ist denn? Was ist?«
Tobias deutete flüsternd zur
Glasdecke hinauf: »Siehst du? Siehst du die Leute dort?« lallte er.
Die Schatten bewegten sich immer
noch.
»Welche Leute?« fragte Marion
ängstlich.
»Dort, dort, die Schatten auf dem
Dache«, sagte Tobias, »das sind Einbrecher oder Geheimagenten. Um
Gottes willen, was sollen wir tun, Marion?«
Marion, nun ganz wach, schaute
Tobias entsetzt in die Augen.
»Unsinn!« sagte sie. »Das sind die
Schatten der Bogenlampe von unten, von der Straße.
Tobias schüttelte den Kopf.
»Bogenlampen werfen keine
Schatten«, flüsterte er und stierte verzerrten Angesichts zur Decke
hinauf.
Marion begann an seinem Verstand
zu zweifeln. – Ist's schon so weit mit ihm? dachte sie.
Eine dumpfe Angst kroch ihr das
Rückgrat hinauf. Mit diesem Wahnsinnigen, dem sie ausgeliefert war,
allein in einem schlafenden Hause! Sie wußte sich keinen Rat. Es
galt ihn zu beruhigen. Wenn der Tag kam, würde man weiter sehen. Sie
sprach auf ihn ein: »Natürlich doch, das sind die Schatten der Bäume
unten und der Schornsteine und Windfänge auf dem Dach. Die
Bogenlampe schwingt unten im Wind, und das bewegt die Schatten. Geh
schlafen, leg dich nieder!«
Das leuchtete Tobias nicht recht
ein, doch beruhigte er sich ein wenig. Er würde wachen und
beobachten.
»Wo hast du denn deinen Revolver?
Du hast doch einen kleinen Revolver, wo ist er denn?« fragte er.
Sie aber hütete sich, ihm die
Waffe zu geben.
»Ich weiß jetzt nicht, wo er
liegt«, sagte sie, »leg dich nur, das sind keine Einbrecher.«
Tobias beschloß, wenn Marion
schliefe, nach dem Revolver zu suchen. Er legte sich hin und
belauerte die Schatten, die stetig hin und her schwankten und sich
allerhand zu reichen schienen.
Trüber Schein fiel schon durch die
Scheiben, deren Ränder klarer und schärfer wurden. Der erste Streif
des Morgens dämmerte auf.
VII
Tobias hielt die Flasche empor
gegen das Licht. Entsetzen befiel ihn. Es war nur noch ein ganz
geringer Rest der Flüssigkeit darin, kaum einen Finger breit über
dem Flaschenboden. Ein unnennbares Grauen klammerte sich in seinen
Nacken ... Kein Kokain mehr! ...
Und der Tag kam herauf, der
verhaßte Tag, der ihn unter die Menschen treiben würde, die alle
seine Feinde sind und vor denen er sich maßlos fürchtete. Er wand
sich auf dem Lager hin und her, in dumpfer Verzweiflung. Der Kopf
erhitzte sich ihm mehr und mehr in dieser Angst; eine Art heißer Wut
trieb ihn dazu, noch zwei Injektionen zu nehmen. Den Rest der
Flasche trank er aus. – Das Mundinnere war fühllos wie Sammet, wie
behaart. Er fuhr mit dem Finger in den Mund, ganz tief, bis in den
Schlund.
Nun war die große Not da! Was
sollte er nun beginnen? Was war ihm die Zeit, was war ihm das Dasein
ohne das Gift, nach welchem sein Körper und seine Seele schrie, nach
dem sein ganzes Wesen lechzte?
Vergessen die Furcht vor den
Einbrechern oder Detektiven, erloschen die Angst vor dem Irrenhaus!
Nur eines erfüllte ihn, nur eines brannte sein Inneres aus: – der
unbeugsame, unerbittliche, unwiderstehliche, dieser
metaphysischunergründliche Trieb, der Wunsch nach dem Gift, das ihm
Atem und Leben, Luft und Trank, Sein und Zeit bedeutete!
Mit fieberischen Händen entzündete
er die Kerze. Er wollte ganz genau nachsehen, ob wirklich nichts
mehr in der Flasche war. Er hatte sie zwar eben, in dieser Minute
noch, ausgetrunken, aber sein Wunsch siegte sinnlos über die Logik,
es konnte, ja es konnte sein, daß noch ein wenig in der Flasche war!
Oder, vielleicht hatte er am Abend zwei Flaschen gekauft, ohne bis
jetzt daran zu denken? Oder vom letzten Male stand hier im Zimmer
irgendwo noch eine verborgen?
Er hielt die Flasche gegen das
Kerzenlicht. Nein, nein, nein! Nichts darin! Er stülpte sie um, er
reckte tief die Zunge in den Flaschenhals hinein. Nichts darin!
Da war's wie ein ferner Donner,
der das Zimmer umfah, und ein Leuchten drang rötlich durch die
Fenster. Der Tag quoll mächtig empor und grollte ihm dumpf.
Er stieg vom Bett und suchte, auf
den Knien rutschend, sich mit seinem Blut, das in dicken Tropfen auf
dem Fußboden vor dem Bette lag, besudelnd, das Zimmer ab. Er traute
nicht der Kraft seiner Augen. Er betastete jeden Gegenstand, nahm
ihn in die Hand und hielt ihn dicht vor die Augen. Konnte das nicht
eine Kokainflasche sein, oder jenes, oder dies? Wer sagte ihm, daß
ihn seine Augen nicht trogen? War das, was wie ein Pantoffel aussah,
wirklich ein Pantoffel, nichts anderes? Wer konnte es wissen?
Ach, soviel er auch suchte, er
fand nichts.
Im untersten Fach der Kommode fiel
ihm, als er auf dem Bauche hinrutschte, der Revolver in die Hände
und eine Anzahl Patronen, die dabeilagen. Er legte beides auf einen
Stuhl. Aber die Schatten waren fort.
Lieblich strahlten die Fenster in
zartem Rosa, aus dem sich der junge Sommertag erhob, klar und ruhig,
in majestätischer Größe. Hei, da pfiffen die lieben Vöglein wieder
und lärmten im Licht.
VIII
Tobias richtete sich auf und
wandte sich dem Fenster zu.
Sprachlos stand er in dem
gewaltsamen Licht, das sich im Osten gebar und auf ihn hereinbrach,
auf diesen geschändeten, blutig zerfetzten Körper, der sich ihm
unbewußt hingab wie einem himmlischen Bade. Tobias öffnete das
Fenster und erschauerte unter dem frischen Hauch, der ihn traf.
Marion, der goldene Engel, schlief
fest. Tobias ging in das Badezimmer nebenan und ließ warmes Wasser
in die Wanne laufen. Er wusch seine Wunden und den ganzen Leib, der
hie und da nervös zuckte unter der Berührung seiner Hände. Dann
hüllte er sich in sein blutiges Hemd und kleidete sich an. Die
kleine Weckuhr zeigte fast sieben Uhr.
Er trat an Marions Bett und
schaute lange die Schlafende an. Schließlich beugte er sich nieder
und küßte sie auf die Stirn.
Sie erwachte.
»Marion«, sagte er, ich muß gehen.
Hast du ein Stückchen Brot da? Mich hungert.«
»Bleib hier«, sagte sie, »ich
werde aufstehen und etwas kochen.«
Er trat zurück, hinter den
Wandschirm, und setzte sich auf sein Lager. Große Blutflecken waren
im Kopfkissen und in den Laken, die ganz zerknüllt über das Bett und
den Fußboden verstreut lagen. Auf dem Stuhl neben dem Bett fand
Tobias noch den Revolver. Er lud die sechs Lager der Trommel und
steckte den Revolver zu sich.
Er war ganz ruhig geworden und
unendlich müde. Marion hatte sich angezogen und war ins Badezimmer
gegangen, um die Suppe auf dem Gasofen anzurichten.
Tobias starrte wortlos durchs
Fenster in das Brachfeld der Vorstadt hinab.
Hier wurde noch gebaut.
Grundstücke, mit Drahtgittern umhegt und mit schmutzigem Gras
bewachsen, lagen da. Asphaltierte Straßen, in denen noch keine
Häuser standen, kreuzten sich und liefen geruhsam im Glanz der
Morgensonne hin. Vögelfangen mild. Ein tiefes Blau stand am Himmel
und sandte linden Hauch. Schäfchenwolken wanderten langsam im Azur.
Marion brachte die Suppe, die dick
und nahrhaft war und ihm wohl mundete. Einige Scheiben trockenen
Brotes, die sie ihm gab, aß er dazu. Wie immer, nachdem die
magennervenlähmende Wirkung des Giftes aufhörte, regte sich ein
mächtiger Hunger und Durst. Er aß zwei Teller der Suppe aus. Marion
war freundlich und gut und plauderte mit ihm. Sie bat ihn nicht, vom
Kokain zu lassen. Sie wußte, daß es vergebens war.
In ihm war eine große Dankbarkeit
für dies milde Geschöpf, das einzige, das ihn nicht verstieß, ihn,
den Paria ohne Freunde, den jedes Haus ausspie wie einen eklen
Auswurf.
»Hast du Geld?« fragte sie ihn.
Er schüttelte stumm den Kopf.
»Ich habe noch eine Mark, davon
kann ich dir fünfzig Pfennige geben. Und hier: Speisemarken für die
Volksküche.«
Sie gab es ihm.
Da legte er den Kopf auf den
Tischrand und begann zu weinen. Ein tiefes Schluchzen brach aus ihm
hervor. Er ergriff die gute Mädchenhand und legte sein irres Antlitz
hinein. Tränen netzten sie. Marion strich ihm leise übers Haar:
»Armer Tobias!«
IX
Eine Zeitlang saß er noch. Dann
ergriff er seinen Hut, küßte ihr die Hand und ging.
Im Treppenhaus achtete er darauf,
daß ihn niemand sah. Seltsam war es, hier hinabzusteigen, wo die
Gespenster ihr Wesen mit ihm getrieben hatten. Er fühlte einen
schalen Geschmack im Munde.
Unten, vor der Haustür, begrüßte
ihn ein klarer und heiterer Sonnenschein
Tobias streifte in das Gelände
hinaus, ging ziellos durch die leeren Straßen. Nur selten begegnete
ihm jemand zu dieser frühen Morgenstunde.
Da begannen die Glocken der
umliegenden Kirchen zu schwingen, es war ein beständiges, lang
hinhallendes Singen in der Luft, die feiner und durchsichtiger war,
als er es je erlebt hatte.
Über schön angelegte Plätze
wanderte er und bewunderte die farbigen Häuser, die unbegreiflich
ruhig, wie geschliffen, sich zu diesem Himmel voll Gesang erhoben.
Es war Sonntag. Wolken, klein und strahlend weiß, segelten langsam
hoch im Blauen dahin und sammelten sich im Hafen des Horizonts.
Tobias kam zur Kaiserallee.
Trams klingelten heran und jagten
tobend an ihm vorbei, in einem Wirbel von Leben und Bewegung.
Am Friedrich-Wilhelm-Platz strich
Tobias um die rote Kirche herum. Er wollte hineingehen. Aber als er
sich dem Eingang näherte, spürte er die Gegenwart von Menschen.
Wieder befiel ihn diese düstere
Scheu, diese aus Nacht und Qual geborene Angst, die ihn von allen
Tischen, von allen Menschen und aus allen Räumen forttrieb.
Nichts blieb ihm!
Er blieb stehen und öffnete die
Hand. Er schaute seine Hand an, lange und wie in tiefem Sinnen. Dann
betrachtete er seinen schmierigen Anzug, die schadhaften Stiefel.
Durch die Ärmel des hellen Jacketts drangen Blutflecke, auch die
Hose zeigte Spuren.
Als Schritte hinter ihm ertönten,
fuhr er zusammen.
Es war der Priester, der zur
Kirche ging.
Tobias ging langsam weiter, an den
Vorgärten der Allee entlangschlendernd.
Da saßen auf den kleinen Balkonen
Vater, Mutter und Kinder und frühstückten. Heiteres Lachen erklang,
Tobias starrte verstohlen hin. Hunger regte sich neu
... Da wußte er, daß er den Abend
dieses Sonntags nicht erleben würde.
Nicht mehr würde ihn der mächtige
Dämon ergreifen und ihn in die Düsternis stoßen.
Er hatte nichts, daran er sich
erfreuen konnte. Besitzlos, verstoßen, krank und verflucht war er.
Kein Essen, kein Geld, keine Kleidung, keine Wohnung, keinen Freund
und keinen Mitmenschen hatte er. Und nicht den Willen, nicht die
Kraft, es zu erwerben.
Das Gift nur, das sein Schicksal
war, lagerte wie ein riesiges Tier über der ganzen Stadt, über den
Horizonten und über seinem, Dasein: – unentrinnbar, Charybdis, die
ihn schlürfte.
Ausgefetzt würde er sich
hinstehlen sein Leben lang, vom Morgen bis zum Abend, der ihm einst
den Wahnsinn bringen würde.
Er trat in einen Hausflur und zog
den Revolver hervor. Er entsicherte ihn und überlegte den besten
Schuß. Schließlich öffnete er den Mund und preßte die Mündung der
Waffe an den Gaumen. So war es gut.
Er drückte ab. Dröhnend hallte der
Schuß durchs Haus. Tobias stürzte zusammen wie in einem Kniefall.
Herbeigeeilte Hausbewohner fanden
ihn tot. Teile seines Gehirns hingen überall, an den Wänden, am
Geländer und auf den Stufen der Treppe.
Draußen pfiffen die Vöglein, und
eine Straßenbahn lärmte durch den Morgen hin, die Allee hinab, nach
Berlin zu.
- ENDE
-
Quelle :
Gutenberg
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