news visuels textes traduction deutsch english interact archiv/es messages guestbook bureau links contact home

 

Rainer Maria Rilke

 


Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge

 

(Erzählung)

 

 

 



clicken Sie hier um die Datei im .pdf-Format zu laden




11. September, rue Toullier.

So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen,
es stürbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen:
Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und
umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest.
Ich habe eine schwangere Frau gesehen. Sie schob sich schwer an
einer hohen, warmen Mauer entlang, nach der sie manchmal tastete, wie
um sich zu überzeugen, ob sie noch da sei. Ja, sie war noch da.
Dahinter? Ich suchte auf meinem Plan: Maison d'Accouchement. Gut.
Man wird sie entbinden - man kann das. Weiter, rue Saint-Jacques, ein
großes Gebäude mit einer Kuppel. Der Plan gab an Val-de-grâce,
Hôspital militaire. Das brauchte ich eigentlich nicht zu wissen, aber
es schadet nicht. Die Gasse begann von allen Seiten zu riechen. Es
roch, soviel sich unterscheiden ließ, nach Jodoform, nach dem Fett von
pommes frites, nach Angst. Alle Städte riechen im Sommer. Dann habe
ich ein eigentümlich starblindes Haus gesehen, es war im Plan nicht zu
finden, aber über der Tür stand noch ziemlich leserlich: Asyle de nuit.
Neben dem Eingang waren die Preise. Ich habe sie gelesen. Es war
nicht teuer.

Und sonst? ein Kind in einem stehenden Kinderwagen: es war dick,
grünlich und hatte einen deutlichen Ausschlag auf der Stirn. Er
heilte offenbar ab und tat nicht weh. Das Kind schlief, der Mund war
offen, atmete Jodoform, pommes frites, Angst. Das war nun mal so.
Die Hauptsache war, daß man lebte. Das war die Hauptsache.

Daß ich es nicht lassen kann, bei offenen Fenster zu schlafen.
Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen
über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe
herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter
kichern. Dann plötzlich dumpfer, eingeschlossener Lärm von der
anderen Seite, innen im Hause. Jemand steigt die Treppe. Kommt,
kommt unaufhörlich. Ist da, ist lange da, geht vorbei. Und wieder
die Straße. Ein Mädchen kreischt: Ah tais-toi, je ne veux plus. Die
Elektrische rennt ganz erregt heran, darüber fort, fort über alles.
Jemand ruft. Leute laufen, überholen sich. Ein Hund bellt. Was für
eine Erleichterung: ein Hund. Gegen Morgen kräht sogar ein Hahn, und
das ist Wohltun ohne Grenzen. Dann schlafe ich plötzlich ein.

Das sind die Geräusche. Aber es giebt hier etwas, was furchtbarer ist:
die Stille. Ich glaube, bei großen Bränden tritt manchmal so ein
Augenblick äußerster Spannung ein, die Wasserstrahlen fallen ab, die
Feuerwehrleute klettern nicht mehr, niemand rührt sich. Lautlos
schiebt sich ein schwarzes Gesimse voroben, und eine hohe Mauer,
hinter welcher das Feuer auffährt, neigt sich, lautlos. Alles steht
und wartet mit hochgeschobenen Schultern, die Gesichter über die Augen
zusammengezogen, auf den schrecklichen Schlag. So ist hier die Stille.


Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer
in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer
zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wußte. Alles
geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.

Ich habe heute einen Brief geschrieben, dabei ist es mir aufgefallen,
daß ich erst drei Wochen hier bin. Drei Wochen anderswo, auf dem Lande zum
Beispiel, das konnte sein wie ein Tag, hier sind es Jahre. Ich will auch
keinen Brief mehr schreiben. Wozu soll ich jemandem sagen, daß ich mich
verändere, bleibe ich ja doch nicht der, der ich war, und bin ich etwas
anderes als bisher, so ist klar, daß ich keine Bekannten habe. Und an
fremde Leute, an Leute, die mich nicht kennen, kann ich unmöglich schreiben.


Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen - ja, ich fange an. Es geht
noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen.

Daß es mir zum Beispiel niemals zum Bewußtsein gekommen ist, wieviel
Gesichter es giebt. Es giebt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr
Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein
Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es
bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf
der Reise getragen hat. Das sind sparsame, einfache Leute; sie
wechseln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. Es sei gut
genug, behaupten sie, und wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen?
Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun
sie mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen.
Aber es kommt auch vor, daß ihre Hunde damit ausgehen. Weshalb auch
nicht? Gesicht ist Gesicht.

Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins nach
dem andern, und tragen sie ab. Es scheint ihnen zuerst, sie hätten
für immer, aber sie sind kaum vierzig; da ist schon das letzte. Das
hat natürlich seine Tragik. Sie sind nicht gewohnt, Gesichter zu
schonen, ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat Löcher, ist an
vielen Stellen dünn wie Papier, und da kommt dann nach und nach die
Unterlage heraus, das Nichtgesicht, und sie gehen damit herum.

Aber die Frau, die Frau: sie war ganz in sich hineingefallen, vornüber
in ihre Hände. Es war an der Ecke rue Notre-Dame-des-Champs. Ich
fing an, leise zu gehen, sowie ich sie gesehen hatte. Wenn arme Leute
nachdenken, soll man sie nicht stören. Vielleicht fällt es ihnen doch
ein.

Die Straße war zu leer, ihre Leere langweilte sich und zog mir den
Schritt unter den Füßen weg und klappte mit ihm herum, drüben und da,
wie mit einem Holzschuh. Die Frau erschrak und hob sich aus sich ab,
zu schnell, zu heftig, so daß das Gesicht in den zwei Händen blieb.
Ich konnte es darin liegen sehen, seine hohle Form. Es kostete mich
unbeschreibliche Anstrengung, bei diesen Händen zu bleiben und nicht
zu schauen, was sich aus ihnen abgerissen hatte. Mir graute, ein
Gesicht von innen zu sehen, aber ich fürchtete mich doch noch viel
mehr vor dem bloßen wunden Kopf ohne Gesicht.

Ich fürchte mich. Gegen die Furcht muß man etwas tun, wenn man sie
einmal hat. Es wäre sehr häßlich, hier krank zu werden, und fiele es
jemandem ein, mich ins Hôtel-Dieu zu schaffen, so würde ich dort gewiß
sterben. Dieses Hôtel ist ein angenehmes Hôtel, ungeheuer besucht.
Man kann kaum die Fassade der Kathedrale von Paris betrachten ohne
Gefahr, von einem der vielen Wagen, die so schnell wie möglich über
den freien Plan dort hinein müssen, überfahren zu werden. Das sind
kleine Omnibusse, die fortwährend läuten, und selbst der Herzog von
Sagan müßte sein Gespann halten lassen, wenn so ein kleiner Sterbender
es sich in den Kopf gesetzt hat, geradenwegs in Gottes Hôtel zu wollen.
Sterbende sind starrköpfig, und ganz Paris stockt, wenn Madame
Legrand, brocanteuse aus der rue des Martyrs, nach einem gewissen
Platz der Cité gefahren kommt. Es ist zu bemerken, daß diese
verteufelten kleinen Wagen ungemein anregende Milchglasfenster haben,
hinter denen man sich die herrlichsten Agonien vor stellen kann; dafür
genügt die Phantasie einer Concierge. Hat man noch mehr
Einbildungskraft und schlägt sie nach anderen Richtungen hin, so sind
die Vermutungen geradezu unbegrenzt. Aber ich habe auch offene
Droschken ankommen sehen, Zeitdroschken mit aufgeklapptem Verdeck, die
nach der üblichen Taxe fuhren: Zwei Francs für die Sterbestunde.

Dieses ausgezeichnete Hôtel ist sehr alt, schon zu König Chlodwigs
Zeiten starb man darin in einigen Betten. Jetzt wird in 559 Betten
gestorben. Natürlich fabrikmäßig. Bei so enormer Produktion ist der
einzelne Tod nicht so gut ausgeführt, aber darauf kommt es auch nicht
an. Die Masse macht es. Wer giebt heute noch etwas für einen gut
ausgearbeiteten Tod? Niemand. Sogar die Reichen, die es sich doch
leisten könnten, ausführlich zu sterben, fangen an, nachlässig und
gleichgültig zu werden; der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird
immer seltener. Eine Weile noch, und er wird ebenso selten sein wie
ein eigenes Leben. Gott; das ist alles da. Man kommt, man findet ein
Leben, fertig, man hat es nur anzuziehen. Man will gehen oder man ist
dazu gezwungen: nun, keine Anstrengung: Voilà votre mort, monsieur.
Man stirbt, wie es gerade kommt; man stirbt den Tod, der zu der
Krankheit gehört, die man hat (denn seit man alle Krankheiten kennt,
weiß man auch, daß die verschiedenen letalen Abschlüsse zu den
Krankheiten gehören und nicht zu den Menschen; und der Kranke hat
sozusagen nichts zu tun).

In den Sanatorien, wo ja so gern und mit so viel Dankbarkeit gegen
Ärzte und Schwestern gestorben wird, stirbt man einen von den an der
Anstalt angestellten Toden; das wird gerne gesehen. Wenn man aber zu
Hause stirbt, ist es natürlich, jenen höflichen Tod der guten Kreise
zu wählen, mit dem gleichsam das Begräbnis erster Klasse schon anfängt
und die ganze Folge seiner wunderschönen Gebräuche. Da stehen dann
die Armen vor so einem Haus und sehen sich satt. Ihr Tod ist
natürlich banal, ohne alle Umstände. Sie sind froh, wenn sie einen
finden, der ungefähr paßt. Zu weit darf er sein: man wächst immer
noch ein bißchen. Nur wenn er nicht zugeht über der Brust oder würgt,
dann hat es seine Not.

Wenn ich nach Hause denke, wo nun niemand mehr ist, dann glaube ich,
das muß früher anders gewesen sein. Früher wußte man (oder vielleicht
man ahnte es), daß man den Tod in sich hatte wie die Frucht den Kern.
Die Kinder hatten einen kleinen in sich und die Erwachsenen einen
großen. Die Frauen hatten ihn im Schooß und die Männer in der Brust.
Den hatte man, und das gab einem eine eigentümliche Würde und einen
stillen Stolz.

Meinem Großvater noch, dem alten Kammerherrn Brigge, sah man es an,
daß er einen Tod in sich trug. Und was war das für einer: zwei Monate
lang und so laut, daß man ihn hörte bis aufs Vorwerk hinaus.

Das lange, alte Herrenhaus war zu klein für diesen Tod, es schien, als
müßte man Flügel anbauen, denn der Körper des Kammerherrn wurde immer
größer, und er wollte fortwährend aus einem Raum in den anderen
getragen sein und geriet in fürchterlichen Zorn, wenn der Tag noch
nicht zu Ende war und es gab kein Zimmer mehr, in dem er nicht schon
gelegen hatte. Dann ging es mit dem ganzen Zuge von Dienern, Jungfern
und Hunden, die er immer um sich hatte, die Treppe hinauf und, unter
Vorantritt des Haushofmeisters, in seiner hochseligen Mutter
Sterbezimmer, das ganz in dem Zustande, in dem sie es vor
dreiundzwanzig Jahren verlassen hatte, erhalten worden war und das
sonst nie jemand betreten durfte. Jetzt brach die ganze Meute dort
ein. Die Vorhänge wurden zurückgezogen, und das robuste Licht eines
Sommernachmittags untersuchte alle die scheuen, erschrockenen
Gegenstände und drehte sich ungeschickt um in den aufgerissenen
Spiegeln. Und die Leute machten es ebenso. Es gab da Zofen, die vor
Neugierde nicht wußten, wo ihre Hände sich gerade aufhielten, junge
Bediente, die alles anglotzten, und ältere Dienstleute, die
herumgingen und sich zu erinnern suchten, was man ihnen von diesem
verschlossenen Zimmer, in dem sie sich nun glücklich befanden, alles
erzählt hatte.

Vor allem aber schien den Hunden der Aufenthalt in einem Raum, wo alle
Dinge rochen, ungemein anregend. Die großen, schmalen russischen
Windhunde liefen beschäftigt hinter den Lehnstühlen hin und her,
durchquerten in langem Tanzschritt mit wiegender Bewegung das Gemach,
hoben sich wie Wappenhunde auf und schauten, die schmalen Pfoten auf
das weißgoldene Fensterbrett gestützt, mit spitzem, gespanntem Gesicht
und zurückgezogener Stirn nach rechts und nach links in den Hof.
Kleine, handschuhgelbe Dachshunde saßen, mit Gesichtern, als wäre
alles ganz in der Ordnung, in dem breiten, seidenen Polstersessel am
Fenster, und ein stichelhaariger, mürrisch aussehender Hühnerhund rieb
seinen Rücken an der Kante eines goldbeinigen Tisches, auf dessen
gemalter Platte die Sèvrestassen zitterten.

Ja, es war für diese geistesabwesenden, verschlafenen Dinge eine
schreckliche Zeit. Es passierte, daß aus Büchern, die irgendeine
hastige Hand ungeschickt geöffnet hatte, Rosenblätter heraustaumelten,
die zertreten wurden; kleine, schwächliche Gegenstände wurden
ergriffen und, nachdem sie sofort zerbrochen waren, schnell wieder
hingelegt, manches Verbogene auch unter Vorhänge gesteckt oder gar
hinter das goldene Netz des Kamingitters geworfen. Und von Zeit zu
Zeit fiel etwas, fiel verhüllt auf Teppich, fiel hell auf das harte
Parkett, aber es zerschlug da und dort, zersprang scharf oder brach
fast lautlos auf, denn diese Dinge, verwöhnt wie sie waren, vertrugen
keinerlei Fall.

Und wäre es jemandem eingefallen zu fragen, was die Ursache von
alledem sei, was über dieses ängstlich gehütete Zimmer alles
Untergangs Fülle herabgerufen habe, - so hätte es nur eine Antwort
gegeben: der Tod.

Der Tod des Kammerherrn Christoph Detlev Brigge auf Ulsgaard. Denn
dieser lag, groß über seine dunkelblaue Uniform hinausquellend, mitten
auf dem Fußboden und rührte sich nicht. In seinem großen, fremden,
niemandem mehr bekannten Gesicht waren die Augen zugefallen: er sah
nicht, was geschah. Man hatte zuerst versucht, ihn auf das Bett zu
legen, aber er hatte sich dagegen gewehrt, denn er haßte Betten seit
jenen ersten Nächten, in denen seine Krankheit gewachsen war. Auch
hatte sich das Bett da oben als zu klein erwiesen, und da war nichts
anderes übrig geblieben, als ihn so auf den Teppich zu legen; denn
hinunter hatte er nicht gewollt.

Da lag er nun, und man konnte denken, daß er gestorben sei. Die Hunde
hatten sich, da es langsam zu dämmern begann, einer nach dem anderen
durch die Türspalte gezogen, nur der Harthaarige mit dem mürrischen
Gesicht saß bei seinem Herrn, und eine von seinen breiten, zottigen
Vorderpfoten lag auf Christoph Detlevs großer, grauer Hand. Auch von
der Dienerschaft standen jetzt die meisten draußen in dem weißen Gang,
der heller war als das Zimmer; die aber, welche noch drinnen geblieben
waren, sahen manchmal heimlich nach dem großen, dunkelnden Haufen in
der Mitte, und sie wünschten, daß das nichts mehr wäre als ein großer
Anzug über einem verdorbenen Ding.

Aber es war noch etwas. Es war eine Stimme, die Stimme, die noch vor
sieben Wochen niemand gekannt hatte: denn es war nicht die Stimme des
Kammerherrn. Nicht Christoph Detlev war es, welchem diese Stimme
gehörte, es war Christoph Detlevs Tod.

Christoph Detlevs Tod lebte nun schon seit vielen, vielen Tagen auf
Ulsgaard und redete mit allen und verlangte. Verlangte, getragen zu
werden, verlangte das blaue Zimmer, verlangte den kleinen Salon,
verlangte den Saal. Verlangte die Hunde, verlangte, daß man lache,
spreche, spiele und still sei und alles zugleich. Verlangte Freunde
zu sehen, Frauen und Verstorbene, und verlangte selber zu sterben:
verlangte. Verlangte und schrie.

Denn, wenn die Nacht gekommen war und die von den übermüden
Dienstleuten, welche nicht Wache hatten, einzuschlafen versuchten,
dann schrie Christoph Detlevs Tod, schrie und stöhnte, brüllte so
lange und anhaltend, daß die Hunde, die zuerst mitheulten, verstummten
und nicht wagten sich hinzulegen und, auf ihren langen, schlanken,
zitternden Beinen stehend, sich fürchteten. Und wenn sie es durch die
weite, silberne, dänische Sommernacht im Dorfe hörten, daß er brüllte,
so standen sie auf wie beim Gewitter, kleideten sich an und blieben
ohne ein Wort um die Lampe sitzen, bis es vorüber war. Und die Frauen,
welche nahe vor dem Niederkommen waren, wurden in die entlegensten
Stuben gelegt und in die dichtesten Bettverschläge; aber sie hörten es,
sie hörten es, als ob es in ihrem eigenen Leibe wäre, und sie flehten,
auch aufstehen zu dürfen, und kamen, weiß und weit, und setzten sich
zu den andern mit ihren verwischten Gesichtern. Und die Kühe, welche
kalbten in dieser Zeit, waren hülflos und verschlossen, und einer riß
man die tote Frucht mit allen Eingeweiden aus dem Leibe, als sie gar
nicht kommen wollte. Und alle taten ihr Tagwerk schlecht und vergaßen
das Heu hereinzubringen, weil sie sich bei Tage ängstigten vor der
Nacht und weil sie vom vielen Wachsein und vom erschreckten Aufstehen
so er mattet waren, daß sie sich auf nichts besinnen konnten. Und
wenn sie am Sonntag in die weiße, friedliche Kirche gingen, so beteten
sie, es möge keinen Herrn mehr auf Ulsgaard geben: denn dieser war ein
schrecklicher Herr. Und was sie alle dachten und beteten, das sagte
der Pfarrer laut von der Kanzel herab, denn auch er hatte keine Nächte
mehr und konnte Gott nicht begreifen. Und die Glocke sagte es, die
einen furchtbaren Rivalen bekommen hatte, der die ganze Nacht dröhnte
und gegen den sie, selbst wenn sie aus allem Metall zu läuten begann,
nichts vermochte. Ja, alle sagten es, und es gab einen unter den
jungen Leuten, der geträumt hatte, er wäre ins Schloß gegangen und
hätte den gnädigen Herrn erschlagen mit seiner Mistforke, und so
aufgebracht war man, so zu Ende, so überreizt, daß alle zuhörten, als
er seinen Traum erzählte, und ihn, ganz ohne es zu wissen, daraufhin
ansahen, ob er solcher Tat wohl gewachsen sei. So fühlte und sprach
man in der ganzen Gegend, in der man den Kammerherrn noch vor einigen
Wochen geliebt und bedauert hatte. Aber obwohl man so sprach,
veränderte sich nichts. Christoph Detlevs Tod, der auf Ulsgaard
wohnte, ließ sich nicht drängen. Er war für zehn Wochen gekommen, und
die blieb er. Und während dieser Zeit war er mehr Herr, als Christoph
Detlev Brigge es je gewesen war, er war wie ein König, den man den
Schrecklichen nennt, später und immer.

Das war nicht der Tod irgendeines Wassersüchtigen, das war der böse,
fürstliche Tod, den der Kammerherr sein ganzes Leben lang in sich
getragen und aus sich genährt hatte. Alles Übermaß an Stolz, Willen
und Herrenkraft, das er selbst in seinen ruhigen Tagen nicht hatte
verbrauchen können, war in seinen Tod eingegangen, in den Tod, der nun
auf Ulsgaard saß und vergeudete.

Wie hätte der Kammerherr Brigge den angesehen, der von ihm verlangt
hätte, er solle einen anderen Tod sterben als diesen. Er starb seinen
schweren Tod.

Und wenn ich an die andern denke, die ich gesehen oder von denen ich
gehört habe: es ist immer dasselbe. Sie alle haben einen eigenen Tod
gehabt. Diese Männer, die ihn in der Rüstung trugen, innen, wie einen
Gefangenen, diese Frauen, die sehr alt und klein wurden und dann auf
einem ungeheueren Bett, wie auf einer Schaubühne, vor der ganzen
Familie, dem Gesinde und den Hunden diskret und herrschaftlich
hinübergingen. Ja die Kinder, sogar die ganz kleinen, hatten nicht
irgendeinen Kindertod, sie nahmen sich zusammen und starben das, was
sie schon waren, und das, was sie geworden wären.

Und was gab das den Frauen für eine wehmütige Schönheit, wenn sie
schwanger waren und standen, und in ihrem großen Leib, auf welchem die
schmalen Hände unwillkürlich liegen blieben, waren zwei Früchte: ein
Kind und ein Tod. Kam das dichte, beinah nahrhafte Lächeln in ihrem
ganz ausgeräumten Gesicht nicht davon her, daß sie manchmal meinten,
es wüchsen beide?

Ich habe etwas getan gegen die Furcht. Ich habe die ganze Nacht
gesessen und geschrieben, und jetzt bin ich so gut müde wie nach einem
weiten Weg über die Felder von Ulsgaard. Es ist doch schwer zu denken,
daß alles das nicht mehr ist, daß fremde Leute wohnen in dem alten
langen Herrenhaus. Es kann sein, daß in dem weißen Zimmer oben im
Giebel jetzt die Mägde schlafen, ihren schweren, feuchten Schlaf
schlafen von Abend bis Morgen.

Und man hat niemand und nichts und fährt in der Welt herum mit einem
Koffer und mit einer Bücherkiste und eigentlich ohne Neugierde. Was
für ein Leben ist das eigentlich: ohne Haus, ohne ererbte Dinge, ohne
Hunde. Hätte man doch wenigstens seine Erinnerungen. Aber wer hat
die? Wäre die Kindheit da, sie ist wie vergraben. Vielleicht muß man
alt sein, um an das alles heranreichen zu können. Ich denke es mir
gut, alt zu sein.

Heute war ein schöner, herbstlicher Morgen. Ich ging durch die
Tuilerien. Alles, was gegen Osten lag, vor der Sonne, blendete. Das
Angeschienene war vom Nebel verhangen wie von einem lichtgrauen
Vorhang. Grau im Grauen sonnten sich die Statuen in den noch nicht
enthüllten Gärten. Einzelne Blumen in den langen Beeten standen auf
und sagten: Rot, mit einer erschrockenen Stimme. Dann kam ein sehr
großer, schlanker Mann um die Ecke, von den Champs-Elysées her; er
trug eine Krücke, aber nicht mehr unter die Schulter geschoben, - er
hielt sie vor sich her, leicht, und von Zeit zu Zeit stellte er sie
fest und laut auf wie einen Heroldstab. Er konnte ein Lächeln der
Freude nicht unterdrücken und lächelte, an allem vorbei, der Sonne,
den Bäumen zu. Sein Schritt war schüchtern wie der eines Kindes, aber
ungewöhnlich leicht, voll von Erinnerung an früheres Gehen.

Was so ein kleiner Mond alles vermag. Da sind Tage, wo alles um einen
licht ist, leicht, kaum angegeben in der hellen Luft und doch deutlich.
Das Nächste schon hat Töne der Ferne, ist weggenommen und nur
gezeigt, nicht hergereicht; und was Beziehung zur Weite hat: der Fluß,
die Brücken, die langen Straßen und die Plätze, die sich verschwenden,
das hat diese Weite eingenommen hinter sich, ist auf ihr gemalt wie
auf Seide. Es ist nicht zu sagen, was dann ein lichtgrüner Wagen sein
kann auf dem Pont-neuf oder irgendein Rot, das nicht zu halten ist,
oder auch nur ein Plakat an der Feuermauer einer perlgrauen
Häusergruppe. Alles ist vereinfacht, auf einige richtige, helle plans
gebracht wie das Gesicht in einem Manetschen Bildnis. Und nichts ist
gering und überflüssig. Die Bouquinisten am Quai tun ihre Kästen auf,
und das frische oder vernutzte Gelb der Bücher, das violette Braun der
Bände, das größere Grün einer Mappe: alles stimmt, gilt, nimmt teil
und bildet eine Vollzähligkeit, in der nichts fehlt.

Unten ist folgende Zusammenstellung: ein kleiner Handwagen, von einer
Frau geschoben; vorn darauf ein Leierkasten, der Länge nach. Dahinter
quer ein Kinderkorb, in dem ein ganz Kleines auf festen Beinen steht,
vergnügt in seiner Haube, und sich nicht mag setzen lassen. Von Zeit
zu Zeit dreht die Frau am Orgelkasten. Das ganz Kleine stellt sich
dann sofort stampfend in seinem Korbe wieder auf, und ein kleines
Mädchen in einem grünen Sonntagskleid tanzt und schlägt Tamburin zu
den Fenstern hinauf.

Ich glaube, ich müßte anfangen, etwas zu arbeiten, jetzt, da ich sehen
lerne. Ich bin achtundzwanzig, und es ist so gut wie nichts geschehen.
Wiederholen wir: ich habe eine Studie über Carpaccio geschrieben,
die schlecht ist, ein Drama, das 'Ehe' heißt und etwas Falsches mit
zweideutigen Mitteln beweisen will, und Verse. Ach, aber mit Versen
ist so wenig getan, wenn man sie früh schreibt. Man sollte warten
damit und Sinn und Süßigkeit sammeln ein ganzes Leben lang und ein
langes womöglich, und dann, ganz zum Schluß, vielleicht könnte man
dann zehn Zeilen schreiben, die gut sind. Denn Verse sind nicht, wie
die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug), - es sind
Erfahrungen. Um eines Verses willen muß man viele Städte sehen,
Menschen und Dinge, man muß die Tiere kennen, man muß fühlen, wie die
Vögel fliegen, und die Gebärde wissen, mit welcher die kleinen Blumen
sich auftun am Morgen. Man muß zurückdenken können an Wege in
unbekannten Gegenden, an unerwartete Begegnungen und an Abschiede, die
man lange kommen sah, - an Kindheitstage, die noch unaufgeklärt sind,
an die Eltern, die man kränken mußte, wenn sie einem eine Freude
brachten und man begriff sie nicht (es war eine Freude für einen
anderen - ), an Kinderkrankheiten, die so seltsam anheben mit so vielen
tiefen und schweren Verwandlungen, an Tage in stillen, verhaltenen
Stuben und an Morgen am Meer, an das Meer überhaupt, an Meere, an
Reisenächte, die hoch dahinrauschten und mit allen Sternen flogen,
- und es ist noch nicht genug, wenn man an alles das denken darf. Man
muß Erinnerungen haben an viele Liebesnächte, von denen keine der
andern glich, an Schreie von Kreißenden und an leichte, weiße,
schlafende Wöchnerinnen, die sich schließen. Aber auch bei Sterbenden
muß man gewesen sein, muß bei Toten gesessen haben in der Stube mit
dem offenen Fenster und den stoßweisen Geräuschen. Und es genügt auch
noch nicht, daß man Erinnerungen hat. Man muß sie vergessen können,
wenn es viele sind, und man muß die große Geduld haben, zu warten, daß
sie wiederkommen. Denn die Erinnerungen selbstes noch nicht. Erst
wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde, namenlos und nicht
mehr zu unterscheiden von uns selbst, erst dann kann es geschehen, daß
in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in
ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht.

Alle meine Verse aber sind anders entstanden, also sind es keine. - Und
als ich mein Drama schrieb, wie irrte ich da. War ich ein Nachahmer
und Narr, daß ich eines Dritten bedurfte, um von dem Schicksal zweier
Menschen zu erzählen, die es einander schwer machten? Wie leicht ich
in die Falle fiel. Und ich hätte doch wissen müssen, daß dieser
Dritte, der durch alle Leben und Literaturen geht, dieses Gespenst
eines Dritten, der nie gewesen ist, keine Bedeutung hat, daß man ihn
leugnen muß. Er gehört zu den Vorwänden der Natur, welche immer
bemüht ist, von ihren tiefsten Geheimnissen die Aufmerksamkeit der
Menschen abzulenken. Er ist der Wandschirm, hinter dem ein Drama sich
abspielt. Er ist der Lärm am Eingang zu der stimmlosen Stille eines
wirklichen Konfliktes. Man möchte meinen, es wäre allen bisher zu
schwer gewesen, von den Zweien zu reden, um die es sich handelt; der
Dritte, gerade weil er so unwirklich ist, ist das Leichte der Aufgabe,
ihn konnten sie alle. Gleich am Anfang ihrer Dramen merkt man die
Ungeduld, zu dem Dritten zu kommen, sie könnten ihn kaum erwarten.
Sowie er da ist, ist alles gut. Aber wie langweilig, wenn er sich
verspätet, es kann rein nichts geschehen ohne ihn, alles steht, stockt,
wartet. Ja und wie, wenn es bei diesem Stauen und Anstehn bliebe?
Wie, Herr Dramatiker, und du, Publikum, welches das Leben kennt, wie,
wenn er verschollen wäre, dieser beliebte Lebemann oder dieser
anmaßende junge Mensch, der in allen Ehen schließt wie ein
Nachschlüssel? Wie, wenn ihn, zum Beispiel, der Teufel geholt hätte?
Nehmen wirs an. Man merkt auf einmal die künstliche Leere der Theater,
sie werden vermauert wie gefährliche Löcher, nur die Motten aus den
Logenrändern taumeln durch den haltlosen Hohlraum. Die Dramatiker
genießen nicht mehr ihre Villenviertel. Alle öffentlichen
Aufpassereien suchen für sie in entlegenen Weltteilen nach dem
Unersetzlichen, der die Handlung selbst war.

Und dabei leben sie unter den Menschen, nicht diese 'Dritten', aber
die Zwei, von denen so unglaublich viel zu sagen wäre, von denen noch
nie etwas gesagt worden ist, obwohl sie leiden und handeln und sich
nicht zu helfen wissen.

Es ist lächerlich. Ich sitze hier in meiner kleinen Stube, ich,
Brigge, der achtundzwanzig Jahre alt geworden ist und von dem niemand
weiß. Ich sitze hier und bin nichts. Und dennoch, dieses Nichts
fängt an zu denken und denkt, fünf Treppen hoch, an einem grauen
Pariser Nachmittag diesen Gedanken:

Ist es möglich, denkt es, daß man noch nichts Wirkliches und Wichtiges
gesehen, erkannt und gesagt hat? Ist es möglich, daß man Jahrtausende
Zeit gehabt hat, zu schauen, nachzudenken und aufzuzeichnen, und daß
man die Jahrtausende hat vergehen lassen wie eine Schulpause, in der
man sein Butterbrot ißt und einen Apfel?

Ja, es ist möglich.

Ist es möglich, daß man trotz Erfindungen und Fortschritten, trotz
Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens
geblieben ist? Ist es möglich, daß man sogar diese Oberfläche, die
doch immerhin etwas gewesen wäre, mit einem unglaublich langweiligen
Stoff überzogen hat, so daß sie aussieht, wie die Salonmöbel in den
Sommerferien?

Ja, es ist möglich.

Ist es möglich, daß die ganze Weltgeschichte mißverstanden worden ist?
Ist es möglich, daß die Vergangenheit falsch ist, weil man immer von
ihren Massen gesprochen hat, gerade, als ob man von einem Zusammenlauf
vieler Menschen erzählte, statt von dem Einen zu sagen, um den sie
herumstanden, weil er fremd war und starb?

Ja, es ist möglich.

Ist es möglich, daß man glaubte, nachholen zu müssen, was sich
ereignet hat, ehe man geboren war? Ist es möglich, daß man jeden
einzelnen erinnern müßte, er sei ja aus allen Früheren entstanden,
wüßte es also und sollte sich nichts einreden lassen von den anderen,
die anderes wüßten?

Ja, es ist möglich.

Ist es möglich, daß alle diese Menschen eine Vergangenheit, die nie
gewesen ist, ganz genau kennen? Ist es möglich, daß alle
Wirklichkeiten nichts sind für sie; daß ihr Leben abläuft, mit nichts
verknüpft, wie eine Uhr in einem leeren Zimmer - ?

Ja, es ist möglich.

Ist es möglich, daß man von den Mädchen nichts weiß, die doch leben?
Ist es möglich, daß man 'die Frauen' sagt, 'die Kinder', 'die Knaben'
und nicht ahnt (bei aller Bildung nicht ahnt), daß diese Worte längst
keine Mehrzahl mehr haben, sondern nur unzählige Einzahlen?

Ja, es ist möglich.

Ist es möglich, daß es Leute giebt, welche 'Gott' sagen und meinen,
das wäre etwas Gemeinsames? - Und sieh nur zwei Schulkinder: Es kauft
sich der eine ein Messer, und sein Nachbar kauft sich ein ganz
gleiches am selben Tag. Und sie zeigen einander nach einer Woche die
beiden Messer, und es ergiebt sich, daß sie sich nur noch ganz
entfernt ähnlich sehen, - so verschieden haben sie sich in
verschiedenen Händen entwickelt. (Ja, sagt des einen Mutter dazu:
wenn ihr auch gleich immer alles abnutzen müßt. - ) Ach so: Ist es
möglich, zu glauben, man könne einen Gott haben, ohne ihn zu
gebrauchen?

Ja, es ist möglich.

Wenn aber dieses alles möglich ist, auch nur einen Schein von
Möglichkeit hat, - dann muß ja, um alles in der Welt, etwas geschehen.
Der Nächstbeste, der, welcher diesen beunruhigenden Gedanken gehabt
hat, muß anfangen, etwas von dem Versäumten zu tun; wenn es auch nur
irgend einer ist, durchaus nicht der Geeignetste: es ist eben kein
anderer da. Dieser junge, belanglose Ausländer, Brigge, wird sich
fünf Treppen hoch hinsetzen müssen und schreiben, Tag und Nacht. Ja
er wird schreiben müssen, das wird das Ende sein.

Zwölf Jahre oder höchstens dreizehn muß ich damals gewesen sein. Mein
Vater hatte mich nach Urnekloster mitgenommen. Ich weiß nicht, was
ihn veranlaßte, seinen Schwiegervater aufzusuchen. Die beiden Männer
hatten sich jahrelang, seit dem Tode meiner Mutter, nicht gesehen, und
mein Vater selbst war noch nie in dem alten Schlosse gewesen, in
welches der Graf Brahe sich erst spät zurückgezogen hatte. Ich habe
das merkwürdige Haus später nie wiedergesehen, das, als mein Großvater
starb, in fremde Hände kam. So wie ich es in meiner kindlich
gearbeiteten Erinnerung wiederfinde, ist es kein Gebäude; es ist ganz
aufgeteilt in mir; da ein Raum, dort ein Raum und hier ein Stück Gang,
das diese beiden Räume nicht verbindet, sondern für sich, als Fragment,
aufbewahrt ist. In dieser Weise ist alles in mir verstreut, - die
Zimmer, die Treppen, die mit so großer Umständlichkeit sich
niederließen, und andere enge, rundgebaute Stiegen, in deren Dunkel
man ging wie das Blut in den Adern; die Turmzimmer, die hoch
aufgehängten Balkone, die unerwarteten Altane, auf die man von einer
kleinen Tür hinausgedrängt wurde: - alles das ist noch in mir und wird
nie aufhören, in mir zu sein. Es ist, als wäre das Bild dieses Hauses
aus unendlicher Höhe in mich hineingestürzt und auf meinem Grunde
zerschlagen.


Ganz erhalten ist in meinem Herzen, so scheint es mir, nur jener Saal,
in dem wir uns zum Mittagessen zu versammeln pflegten, jeden Abend um
sieben Uhr. Ich habe diesen Raum niemals bei Tage gesehen, ich
erinnere mich nicht einmal, ob er Fenster hatte und wohin sie aussahen;
jedes mal, so oft die Familie eintrat, brannten die Kerzen in den
schweren Armleuchtern, und man vergaß in einigen Minuten die Tageszeit
und alles, was man draußen gesehen hatte. Dieser hohe, wie ich
vermute, gewölbte Raum war stärker als alles; er saugte mit seiner
dunkelnden Höhe, mit seinen niemals ganz aufgeklärten Ecken alle
Bilder aus einem heraus, ohne einem einen bestimmten Ersatz dafür zu
geben. Man saß da wie aufgelöst; völlig ohne Willen, ohne Besinnung,
ohne Lust, ohne Abwehr. Man war wie eine leere Stelle. Ich erinnere
mich, daß dieser vernichtende Zustand mir zuerst fast Übelkeit
verursachte, eine Art Seekrankheit, die ich nur dadurch überwand, daß
ich mein Bein ausstreckte, bis ich mit dem Fuß das Knie meines Vaters
berührte, der mir gegenübersaß. Erst später fiel es mir auf, daß er
dieses merkwürdige Benehmen zu begreifen oder doch zu dulden schien,
obwohl zwischen uns ein fast kühles Verhältnis bestand, aus dem ein
solches Gebaren nicht erklärlich war. Es war indessen jene leise
Berührung, welche mir die Kraft gab, die langen Mahlzeiten auszuhalten.
Und nach einigen Wochen krampfhaften Ertragens hatte ich, mit der
fast unbegrenzten Anpasssung des Kindes, mich so sehr an das
Unheimliche jener Zusammenkünfte gewöhnt, daß es mich keine
Anstrengung mehr kostete, zwei Stunden bei Tische zu sitzen; jetzt
vergingen sie sogar verhältnismäßig schnell, weil ich mich damit
beschäftigte, die Anwesenden zu beobachten.

Mein Großvater nannte es die Familie, und ich hörte auch die andern
diese Bezeichnung gebrauchen, die ganz willkürlich war. Denn obwohl
diese vier Menschen miteinander in entfernten verwandtschaftlichen
Beziehungen standen, so gehörten sie doch in keiner Weise zusammen.
Der Oheim, welcher neben mir saß, war ein alter Mann, dessen hartes
und verbranntes Gesicht einige schwarze Flecke zeigte, wie ich erfuhr,
die Folgen einer explodierten Pulverladung; mürrisch und malkontent
wie er war, hatte er als Major seinen Abschied genommen, und nun
machte er in einem mir unbekannten Raum des Schlosses alchymistische
Versuche, war auch, wie ich die Diener sagen hörte, mit einem
Stockhause in Verbindung, von wo man ihm ein- oder zweimal jährlich
Leichen zusandte, mit denen er sich Tage und Nächte einschloß und die
er zerschnitt und auf eine geheimnisvolle Art zubereitete, so daß sie
der Verwesung widerstanden. Ihm gegenüber war der Platz des Fräuleins
Mathilde Brahe. Es war das eine Person von unbestimmtem Alter, eine
entfernte Cousine meiner Mutter, von der nichts bekannt war, als daß
sie eine sehr rege Korrespondenz mit einem österreichischen
Spiritisten unterhielt, der sich Baron Nolde nannte und dem sie
vollkommen ergeben war, so daß sie nicht das geringste unternahm, ohne
vorher seine Zustimmung oder vielmehr etwas wie seinen Segen
einzuholen. Sie war zu jener Zeit außerordentlich stark, von einer
weichen, trägen Fülle, die gleichsam achtlos in ihre losen, hellen
Kleider hineingegossen war; ihre Bewegungen waren müde und unbestimmt,
und ihre Augen flossen beständig über. Und trotzdem war etwas in ihr,
das mich an meine zarte und schlanke Mutter erinnerte.

Ich fand, je länger ich sie betrachtete, alle die feinen und leisen
Züge in ihrem Gesichte, an die ich mich seit meiner Mutter Tode nie
mehr recht hatte erinnern können; nun erst, seit ich Mathilde Brahe
täglich sah, wußte ich wieder, wie die Verstorbene ausgesehen hatte;
ja, ich wußte es vielleicht zum erstenmal. Nun erst setzte sich aus
hundert und hundert Einzelheiten ein Bild der Toten in mir zusammen,
jenes Bild, das mich überall begleitet. Später ist es mir klar
geworden, daß in dem Gesicht des Fräuleins Brahe wirklich alle
Einzelheiten vorhanden waren, die die Züge meiner Mutter bestimmten,
- sie waren nur, als ob ein fremdes Gesicht sich dazwischen geschoben
hätte, auseinandergedrängt, verbogen und nicht mehr in Verbindung
miteinander.

Neben dieser Dame saß der kleine Sohn einer Cousine, ein Knabe, etwa
gleichaltrig mit mir, aber kleiner und schwächlicher. Aus einer
gefältelten Krause stieg sein dünner, blasser Hals und verschwand
unter einem langen Kinn. Seine Lippen waren schmal und fest
geschlossen, seine Nasenflügel zitterten leise, und von seinen schönen
dunkelbraunen Augen war nur das eine beweglich. Es blickte manchmal
ruhig und traurig zu mir herüber, während das andere immer in dieselbe
Ecke gerichtet blieb, als wäre es verkauft und käme nicht mehr in
Betracht.

Am oberen Ende der Tafel stand der ungeheure Lehnsessel meines
Großvaters, den ein Diener, der nichts anderes zu tun hatte, ihm
unterschob und in dem der Greis nur einen geringen Raum einnahm. Es
gab Leute, die diesen schwerhörigen und herrischen alten Herrn
Exzellenz und Hofmarschall nannten, andere gaben ihm den Titel General.
Und er besaß gewiß auch alle diese Würden, aber es war so lange her,
seit er Ämter bekleidet hatte, daß diese Benennungen kaum mehr
verständlich waren. Mir schien es überhaupt, als ob an seiner in
gewissen Momenten so scharfen und doch immer wieder aufgelösten
Persönlichkeit kein bestimmter Name haften könne. Ich konnte mich nie
entschließen, ihn Großvater zu nennen, obwohl er bisweilen freundlich
zu mir war, ja mich sogar zu sich rief, wobei er meinem Namen eine
scherzhafte Betonung zu geben versuchte. Übrigens zeigte die ganze
Familie ein aus Ehrfurcht und Scheu gemischtes Benehmen dem Grafen
gegenüber, nur der kleine Erik lebte in einer gewissen Vertraulichkeit
mit dem greisen Hausherrn; sein bewegliches Auge hatte zuzeiten rasche
Blicke des Einverständnisses mit ihm, die ebensorasch von dem
Großvater erwidert wurden; auch konnte man sie zuweilen in den langen
Nachmittagen am Ende der tiefen Galerie auftauchen sehen und
beobachten, wie sie, Hand in Hand, die dunklen alten Bildnisse entlang
gingen, ohne zu sprechen, offenbar auf eine andere Weise sich
verständigend.

Ich befand mich fast den ganzen Tag im Parke und draußen in den
Buchenwäldern oder auf der Heide; und es gab zum Glück Hunde auf
Urnekloster, die mich begleiteten; es gab da und dort ein Pächterhaus
oder einen Meierhof, wo ich Milch und Brot und Früchte bekommen konnte,
und ich glaube, daß ich meine Freiheit ziemlich sorglos genoß, ohne
mich, wenigstens in den folgenden Wochen, von dem Gedanken an die
abendlichen Zusammenkünfte ängstigen zu lassen. Ich sprach fast mit
niemandem, denn es war meine Freude, einsam zu sein; nur mit den
Hunden hatte ich kurze Gespräche dann und wann: mit ihnen verstand ich
mich ausgezeichnet. Schweigsamkeit war übrigens eine Art
Familieneigenschaft; ich kannte sie von meinem Vater her, und es
wunderte mich nicht, daß während der Abendtafel fast nichts gesprochen
wurde.

In den ersten Tagen nach unserer Ankunft allerdings benahm sich
Mathilde Brahe äußerst gesprächig. Sie fragte den Vater nach früheren
Bekannten in ausländischen Städten, sie erinnerte sich entlegener
Eindrücke, sie rührte sich selbst bis zu Tränen, indem sie
verstorbener Freundinnen und eines gewissen jungen Mannes gedachte,
von dem sie andeutete, daß er sie geliebt habe, ohne daß sie seine
inständige und hoffnungslose Neigung hätte erwidern mögen. Mein Vater
hörte höflich zu, neigte dann und wann zustimmend sein Haupt und
antwortete nur das Nötigste. Der Graf, oben am Tisch, lächelte
beständig mit herabgezogenen Lippen, sein Gesicht erschien größer als
sonst, es war, als trüge er eine Maske. Er ergriff übrigens selbst
manchmal das Wort, wobei seine Stimme sich auf niemanden bezog, aber,
obwohl sie sehr leise war, doch im ganzen Saal gehört werden konnte;
sie hatte etwas von dem gleichmäßigen unbeteiligten Gang einer Uhr;
die Stille um sie schien eine eigene leere Resonanz zu haben, für jede
Silbe die gleiche.

Graf Brahe hielt es für eine besondere Artigkeit meinem Vater
gegenüber, von dessen verstorbener Gemahlin, meiner Mutter, zu
sprechen. Er nannte sie Gräfin Sibylle, und alle seine Sätze
schlossen, als fragte er nach ihr. Ja es kam mir, ich weiß nicht
weshalb, vor, als handle es sich um ein ganz junges Mädchen in Weiß,
das jeden Augenblick bei uns eintreten könne. In demselben Tone hörte
ich ihn auch von 'unserer kleinen Anna Sophie' reden. Und als ich
eines Tages nach diesem Fräulein fragte, das dem Großvater besonders
lieb zu sein schien, erfuhr ich, daß er des Großkanzlers Conrad
Reventlow Tochter meinte, weiland Friedrichs des Vierten Gemahlin zur
linken Hand, die seit nahezu anderthalb hundert Jahren zu Roskilde
ruhte. Die Zeitfolgen spielten durchaus keine Rolle für ihn, der Tod
war ein kleiner Zwischenfall, den er vollkommen ignorierte, Personen,
die er einmal in seine Erinnerung aufgenommen hatte, existierten, und
daran konnte ihr Absterben nicht das geringste ändern. Mehrere Jahre
später, nach dem Tode des alten Herrn, erzählte man sich, wie er auch
das Zukünftige mit demselben Eigensinn als gegenwärtig empfand. Er
soll einmal einer gewissen jungen Frau von ihren Söhnen gesprochen
haben, von den Reisen eines dieser Söhne insbesondere, während die
junge Dame, eben im dritten Monate ihrer ersten Schwangerschaft, fast
besinnungslos vor Entsetzen und Furcht neben dem unablässig redenden
Alten saß.

Aber es begann damit, daß ich lachte. Ja ich lachte laut und ich
konnte mich nicht beruhigen. Eines Abends fehlte nämlich Mathilde
Brahe. Der alte, fast ganz erblindete Bediente hielt, als er zu ihrem
Platze kam, dennoch die Schüssel anbietend hin. Eine Weile verharrte
er so; dann ging er befriedigt und würdig und als ob alles in Ordnung
wäre weiter. Ich hatte diese Szene beobachtet, und sie kam mir, im
Augenblick da ich sie sah, durchaus nicht komisch vor. Aber eine
Weile später, als ich eben einen Bissen in den Mund steckte, stieg mir
das Gelächter mit solcher Schnelligkeit in den Kopf, daß ich mich
verschluckte und großen Lärm verursachte. Und trotzdem diese
Situation mir selber lästig war, trotzdem ich mich auf alle mögliche
Weise anstrengte, ernst zu sein, kam das Lachen stoßweise immer wieder
und behielt völlig die Herrschaft über mich.

Mein Vater, gleichsam um mein Benehmen zu verdecken, fragte mit seiner
breiten gedämpften Stimme: "Ist Mathilde krank?" Der Großvater
lächelte in seiner Art und antwortete dann mit einem Satze, auf den
ich, mit mir selber beschäftigt, nicht achtgab und der etwa lautete:
Nein, sie wünscht nur, Christinen nicht zu begegnen. Ich sah es also
auch nicht als Wirkung dieser Worte an, daß mein Nachbar, der braune
Major, sich erhob und, mit einer undeutlich gemurmelten Entschuldigung
und einer Verbeugung gegen den Grafen hin, den Saal verließ. Es fiel
mir nur auf, daß er sich hinter dem Rücken des Hausherrn in der Tür
nochmals umdrehte und dem kleinen Erik und zu meinem größten Erstaunen
plötzlich auch mir winkende und nickende Zeichen machte, als forderte
er uns auf, ihm zu folgen. Ich war so überrascht, daß mein Lachen
aufhörte, mich zu bedrängen. Im übrigen schenkte ich dem Major weiter
keine Aufmerksamkeit; er war mir unangenehm, und ich bemerkte auch,
daß der kleine Erik ihn nicht beachtete.

Die Mahlzeit schleppte sich weiter wie immer, und man war gerade beim
Nachtisch angelangt, als meine Blicke von einer Bewegung ergriffen und
mitgenommen wurden, die im Hintergrund des Saales, im Halbdunkel, vor
sich ging. Dort war nach und nach eine, wie ich meinte, stets
verschlossene Türe, von welcher man mir gesagt hatte, daß sie in das
Zwischengeschoß führe, aufgegangen, und jetzt, während ich mit einem
mir ganz neuen Gefühl von Neugier und Bestürzung hinsah, trat in das
Dunkel der Türöffnung eine schlanke, hellgekleidete Dame und kam
langsam auf uns zu. Ich weiß nicht, ob ich eine Bewegung machte oder
einen Laut von mir gab, der Lärm eines umstürzenden Stuhles zwang mich,
meine Blicke von der merkwürdigen Gestalt abzureißen, und ich sah
meinen Vater, der aufgesprungen war und nun, totenbleich im Gesicht,
mit herabhängenden geballten Händen, auf die Dame zuging. Sie bewegte
sich indessen, von dieser Szene ganz unberührt, auf uns zu, Schritt
für Schritt, und sie war schon nicht mehr weit von dem Platze des
Grafen, als dieser sich mit einem Ruck erhob, meinen Vater beim Arme
faßte, ihn an den Tisch zurückzog und festhielt, während die fremde
Dame, langsam und teilnahmlos, durch den nun freigewordenen Raum
vorüberging, Schritt für Schritt, durch unbeschreibliche Stille, in
der nur irgendwo ein Glas zitternd klirrte, und in einer Tür der
gegenüberliegenden Wand des Saales verschwand.

In diesem Augenblick bemerkte ich, daß es der kleine Erik war, der mit
einer tiefen Verbeugung diese Türe hinter der Fremden schloß.

Ich war der einzige, der am Tische sitzengeblieben war; ich hatte mich
so schwer gemacht in meinem Sessel, mir schien, ich könnte allein nie
wieder auf. Eine Weile sah ich, ohne zu sehen. Dann fiel mir mein
Vater ein, und ich gewahrte, daß der Alte ihn noch immer am Arme
festhielt. Das Gesicht meines Vaters war jetzt zornig, voller Blut,
aber der Großvater, dessen Finger wie eine weiße Kralle meines Vaters
Arm umklammerten, lächelte sein maskenhaftes Lächeln. Ich hörte dann,
wie er etwas sagte, Silbe für Silbe, ohne daß ich den Sinn seiner
Worte verstehen konnte. Dennoch fielen sie mir tief ins Gehör, denn
vor etwa zwei Jahren fand ich sie eines Tages unten in meiner
Erinnerung, und seither weiß ich sie. Er sagte: "Du bist heftig,
Kammerherr, und unhöflich. Was läßt du die Leute nicht an ihre
Beschäftigungen gehn?" "Wer ist das?" schrie mein Vater dazwischen.
"Jemand, der wohl das Recht hat, hier zu sein. Keine Fremde.
Christine Brahe." - Da entstand wieder jene merkwürdig dünne Stille,
und wieder fing das Glas an zu zittern. Dann aber riß sich mein Vater
mit einer Bewegung los und stürzte aus dem Saale.

Ich hörte ihn die ganze Nacht in seinem Zimmer auf und ab gehen; denn
auch ich konnte nicht schlafen. Aber plötzlich gegen Morgen erwachte
ich doch aus irgend etwas Schlafähnlichem und sah mit einem Entsetzen,
daß mich bis ins Herz hinein lähmte, etwas Weißes, das an meinem Bette
saß. Meine Verzweiflung gab mir schließlich die Kraft, den Kopf unter
die Decke zu stecken, und dort begann ich aus Angst und Hülflosigkeit
zu weinen. Plötzlich wurde es kühl und hell über meinen weinenden
Augen; ich drückte sie, um nichts sehen zu müssen, über den Tränen zu.
Aber die Stimme, die nun von ganz nahe auf mich einsprach, kam lau
und süßlich an mein Gesicht, und ich erkannte sie: es war Fräulein
Mathildes Stimme. Ich beruhigte mich sofort und ließ mich trotzdem,
auch als ich schon ganz ruhig war, immer noch weiter trösten; ich
fühlte zwar, daß diese Güte zu weichlich sei, aber ich genoß sie
dennoch und meinte sie irgendwie verdient zu haben. "Tante", sagte
ich schließlich und versuchte in ihrem zerflossenen Gesicht die Züge
meiner Mutter zusammenzufassen: "Tante, wer war die Dame?"

"Ach", antwortete das Fräulein Brahe mit einem Seufzer, der mir
komisch vorkam, "eine Unglückliche, mein Kind, eine Unglückliche."

Am Morgen dieses Tages bemerkte ich in einem Zimmer einige Bediente,
die mit Packen beschäftigt waren. Ich dachte, daß wir reisen würden,
ich fand es ganz natürlich, daß wir nun reisten. Vielleicht war das
auch meines Vaters Absicht. Ich habe nie erfahren, was ihn bewog,
nach jenem Abend noch auf Urnekloster zu bleiben. Aber wir reisten
nicht. Wir hielten uns noch acht Wochen oder neun in diesem Hause auf,
wir ertrugen den Druck seiner Seltsamkeiten, und wir sahen noch
dreimal Christine Brahe.

Ich wußte damals nichts von ihrer Geschichte. Ich wußte nicht, daß
sie vor langer, langer Zeit in ihrem zweiten Kindbett gestorben war,
einen Knaben gebährend, der zu einem bangen und grausamen Schicksal
heranwuchs, - ich wußte nicht, daß sie eine Gestorbene war. Aber mein
Vater wußte es. Hatte er, der leidenschaftlich war und auf Konsequenz
und Klarheit angelegt, sich zwingen wollen, in Fassung und ohne zu
fragen, dieses Abenteuer auszuhalten? Ich sah, ohne zu begreifen, wie
er mit sich kämpfte, ich erlebte es, ohne zu verstehen, wie er sich
endlich bezwang.

Das war, als wir Christine Brahe zum letztenmal sahen. Dieses Mal war
auch Fräulein Mathilde zu Tische erschienen; aber sie war anders als
sonst. Wie in den ersten Tagen nach unserer Ankunft sprach sie
unaufhörlich ohne bestimmten Zusammenhang und fortwährend sich
verwirrend, und dabei war eine körperliche Unruhe in ihr, die sie
nötigte, sich beständig etwas am Haar oder am Kleide zu richten, - bis
sie unvermutet mit einem hohen klagenden Schrei aufsprang und
verschwand.

In demselben Augenblick wandten sich meine Blicke unwillkürlich nach
der gewissen Türe, und wirklich: Christine Brahe trat ein. Mein
Nachbar, der Major, machte eine heftige, kurze Bewegung, die sich in
meinen Körper fortpflanzte, aber er hatte offenbar keine Kraft mehr,
sich zu erheben. Sein braunes, altes, fleckiges Gesicht wendete sich
von einem zum andern, sein Mund stand offen, und die Zunge wand sich
hinter den verdorbenen Zähnen; dann auf einmal war dieses Gesicht fort,
und sein grauer Kopf lag auf dem Tische, und seine Arme lagen wie in
Stücken darüber und darunter, und irgendwo kam eine welke, fleckige
Hand hervor und bebte.

Und nun ging Christine Brahe vorbei, Schritt für Schritt, langsam wie
eine Kranke, durch unbeschreibliche Stille, in die nur ein einziger
wimmernder Laut hineinklang wie eines alten Hundes. Aber da schob
sich links von dem großen silbernen Schwan, der mit Narzissen gefüllt
war, die große Maske des Alten hervor mit ihrem grauen Lächeln. Er
hob sein Weinglas meinem Vater zu. Und nun sah ich, wie mein Vater,
gerade als Christine Brahe hinter seinem Sessel vorüberkam, nach
seinem Glase griff und es wie etwas sehr Schweres eine Handbreit über
den Tisch hob. Und noch in dieser Nacht reisten wir.




Bibliothèque Nationale.

Ich sitze und lese einen Dichter. Es sind viele Leute im Saal aber
man spürt sie nicht. Sie sind in den Büchern. Manchmal bewegen sie
sich in den Blättern, wie Menschen, die schlafen und sich umwenden
zwischen zwei Träumen. Ach, wie gut ist es doch, unter lesenden
Menschen zu sein. Warum sind sie nicht immer so? Du kannst hingehen
zu einem und ihn leise anrühren: er fühlt nichts. Und stößt du einen
Nachbar beim Aufstehen ein wenig an und entschuldigst dich, so nickt
er nach der Seite, auf der er deine Stimme hört, sein Gesicht wendet
sich dir zu und sieht dich nicht, und sein Haar ist wie das Haar eines
Schlafenden. Wie wohl das tut. Und ich sitze und habe einen Dichter.
Was für ein Schicksal. Es sind jetzt vielleicht dreihundert Leute im
Saale, die lesen; aber es ist unmöglich, daß sie jeder einzelne einen
Dichter haben. (Weiß Gott, was sie haben.) Dreihundert Dichter giebt
es nicht. Aber sieh nur, was für ein Schicksal, ich, vielleicht der
armsäligste von diesen Lesenden, ein Ausländer: ich habe einen Dichter.
Obwohl ich arm bin. Obwohl mein Anzug, den ich täglich trage,
anfängt, gewisse Stellen zu bekommen, obwohl gegen meine Schuhe sich
das und jenes einwenden ließe. Zwar mein Kragen ist rein, meine
Wäsche auch, und ich könnte, wie ich bin, in eine beliebige Konditorei
gehen, womöglich auf den großen Boulevards, und könnte mit meiner Hand
getrost in einen Kuchenteller greifen und etwas nehmen. Man würde
nichts Auffälliges darin finden und mich nicht schelten und
hinausweisen, denn es ist immerhin eine Hand aus den guten Kreisen,
eine Hand, die vier- bis fünfmal täglich gewaschen wird. Ja, es ist
nichts hinter den Nägeln, der Schreibfinger ist ohne Tinte, und
besonders die Gelenke sind tadellos. Bis dorthin waschen arme Leute
sich nicht, das ist eine bekannte Tatsache. Man kann also aus ihrer
Reinlichkeit gewisse Schlüsse ziehen. Man zieht sie auch. In den
Geschäften zieht man sie. Aber es giebt doch ein paar Existenzen, auf
dem Boulevard Saint-Michel zum Beispiel und in der rue Racine, die
lassen sich nicht irremachen, die pfeifen auf die Gelenke. Die sehen
mich an und wissen es. Die wissen, daß ich eigentlich zu ihnen gehöre,
daß ich nur ein bißchen Komödie spiele. Es ist ja Fasching. Und sie
wollen mir den Spaß nicht verderben; sie grinsen nur so ein bißchen
und zwinkern mit den Augen. Kein Mensch hats gesehen. Im übrigen
behandeln sie mich wie einen Herrn. Es muß nur jemand in der Nähe
sein, dann tun sie sogar untertänig. Tun, als ob ich einen Pelz
anhätte und mein Wagen hinter mir herführe. Manchmal gebe ich ihnen
zwei Sous und zittere, sie könnten sie abweisen; aber sie nehmen sie
an. Und es wäre alles in Ordnung, wenn sie nicht wieder ein wenig
gegrinst und gezwinkert hätten. Wer sind diese Leute? Was wollen sie
von mir? Warten sie auf mich? Woran erkennen sie mich? Es ist wahr,
mein Bart sieht etwas vernachlässigt aus, ein ganz, ganz klein wenig
erinnert er an ihre kranken, alten, verblichenen Bärte, die mir immer
Eindruck gemacht haben. Aber habe ich nicht das Recht, meinen Bart zu
vernachlässigen? Viele beschäftigte Menschen tun das, und es fällt
doch niemandem ein, sie deshalb gleich zu den Fortgeworfenen zu zählen.
Denn das ist mir klar, daß das die Fortgeworfenen sind, nicht nur
Bettler; nein, es sind eigentlich keine Bettler, man muß Unterschiede
machen. Es sind Abfälle, Schalen von Menschen, die das Schicksal
ausgespieen hat. Feucht vom Speichel des Schicksals kleben sie an
einer Mauer, an einer Laterne, an einer Plakatsäule, oder sie rinnen
langsam die Gasse herunter mit einer dunklen, schmutzigen Spur hinter
sich her. Was in aller Welt wollte diese Alte von mir, die, mit einer
Nachttischschublade, in der einige Knöpfe und Nadeln herumrollten, aus
irgendeinem Loch herausgekrochen war? Weshalb ging sie immer neben
mir und beobachtete mich? Als ob sie versuchte, mich zu erkennen mit
ihren Triefaugen, die aussahen, als hätte ihr ein Kranker grünen
Schleim in die blutigen Lider gespuckt. Und wie kam damals jene graue,
kleine Frau dazu, eine Viertelstunde lang vor einem Schaufenster an
meiner Seite zu stehen, während sie mir einen alten, langen Bleistift
zeigte, der unendlich langsam aus ihren schlechten, geschlossenen
Händen sich herausschob. Ich tat, als betrachtete ich die ausgelegten
Sachen und merkte nichts. Sie aber wußte, daß ich sie gesehen hatte,
sie wußte, daß ich stand und nachdachte, was sie eigentlich täte.
Denn daß es sich nicht um den Bleistift handeln konnte, begriff ich
wohl: ich fühlte, daß das ein Zeichen war, ein Zeichen für Eingeweihte,
ein Zeichen, das die Fortgeworfenen kennen; ich ahnte, sie bedeutete
mir, ich müßte irgendwohin kommen oder etwas tun. Und das Seltsamste
war, daß ich immerfort das Gefühl nicht los wurde, es bestünde
tatsächlich eine gewisse Verabredung, zu der dieses Zeichen gehörte,
und diese Szene wäre im Grunde etwas, was ich hätte erwarten müssen.

Das war vor zwei Wochen. Aber nun vergeht fast kein Tag ohne eine
solche Begegnung. Nicht nur in der Dämmerung, am Mittag in den
dichtesten Straßen geschieht es, daß plötzlich ein kleiner Mann oder
eine alte Frau da ist, nickt, mir etwas zeigt und wieder verschwindet,
als wäre nun alles Nötige getan. Es ist möglich, daß es ihnen eines
Tages einfällt, bis in meine Stube zu kommen, sie wissen bestimmt, wo
ich wohne, und sie werden es schon einrichten, daß der Concierge sie
nicht aufhält. Aber hier, meine Lieben, hier bin ich sicher vor euch.
Man muß eine besondere Karte haben, um in diesen Saal eintreten zu
können. Diese Karte habe ich vor euch voraus. Ich gehe ein wenig
scheu, wie man sich denken kann, durch die Straßen, aber schließlich
stehe ich vor einer Glastür, öffne sie, als ob ich zuhause wäre, weise
an der nächsten Tür meine Karte vor (ganz genau wie ihr mir eure Dinge
zeigt, nur mit dem Unterschiede, daß man mich versteht und begreift,
was ich meine - ), und dann bin ich zwischen diesen Büchern, bin euch
weggenommen, als ob ich gestorben wäre, und sitze und lese einen
Dichter.

Ihr wißt nicht, was das ist, ein Dichter? - Verlaine... Nichts? Keine
Erinnerung? Nein. Ihr habt ihn nicht unterschieden unter denen, die
ihr kanntet? Unterschiede macht ihr keine, ich weiß. Aber es ist ein
anderer Dichter, den ich lese, einer, der nicht in Paris wohnt, ein
ganz anderer. Einer, der ein stilles Haus hat im Gebirge. Der klingt
wie eine Glocke in reiner Luft. Ein glücklicher Dichter, der von
seinem Fenster erzählt und von den Glastüren seines Bücherschrankes,
die eine liebe, einsame Weite nachdenklich spiegeln. Gerade der
Dichter ist es, der ich hätte werden wollen; denn er weiß von den
Mädchen so viel, und ich hätte auch viel von ihnen gewußt. Er weiß
von Mädchen, die vor hundert Jahren gelebt haben; es tut nichts mehr,
daß sie tot sind, denn er weiß alles. Und das ist die Hauptsache. Er
spricht ihre Namen aus, diese leisen, schlankgeschriebenen Namen mit
den altmodischen Schleifen in den langen Buchstaben und die
erwachsenen Namen ihrer älteren Freundinnen, in denen schon ein klein
wenig Schicksal mitklingt, ein klein wenig Enttäuschung und Tod.
Vielleicht liegen in einem Fach seines Mahagonischreibtisches ihre
verblichenen Briefe und die gelösten Blätter ihrer Tagebücher, in
denen Geburtstage stehen, Sommerpartien, Geburtstage. Oder es kann
sein, daß es in der bauchigen Kommode im Hintergrunde seines
Schlafzimmers eine Schublade giebt, in der ihre Frühjahrskleider
aufgehoben sind; weiße Kleider, die um Ostern zum erstenmal angezogen
wurden, Kleider aus getupftem Tüll, die eigentlich in den Sommer
gehören, den man nicht erwarten konnte. O was für ein glückliches
Schicksal, in der stillen Stube eines ererbten Hauses zu sitzen unter
lauter ruhigen, seßhaften Dingen und draußen im leichten, lichtgrünen
Garten die ersten Meisen zu hören, die sich versuchen, und in der
Ferne die Dorfuhr. Zu sitzen und auf einen warmen Streifen
Nachmittagssonne zu sehen und vieles von vergangenen Mädchen zu wissen
und ein Dichter zu sein. Und zu denken, daß ich auch so ein Dichter
geworden wäre, wenn ich irgendwo hätte wohnen dürfen, irgendwo auf der
Welt, in einem von den vielen verschlossenen Landhäusern, um die sich
niemand bekümmert. Ich hätte ein einziges Zimmer gebraucht (das
lichte Zimmer im Giebel). Da hätte ich drinnen gelebt mit meinen
alten Dingen, den Familienbildern, den Büchern. Und einen Lehnstuhl
hätte ich gehabt und Blumen und Hunde und einen starken Stock für die
steinigen Wege. Und nichts sonst. Nur ein Buch in gelbliches,
elfenbeinfarbiges Leder gebunden mit einem alten blumigen Muster als
Vorsatz: dahinein hätte ich geschrieben. Ich hätte viel geschrieben,
denn ich hätte viele Gedanken gehabt und Erinnerungen von Vielen.
Aber es ist anders gekommen, Gott wird wissen, warum. Meine alten
Möbel faulen in einer Scheune, in die ich sie habe stellen dürfen, und
ich selbst, ja, mein Gott, ich habe kein Dach über mir, und es regnet
mir in die Augen.

Manchmal gehe ich an kleinen Läden vorbei in der rue de Seine etwa.
Händler mit Altsachen oder kleine Buchantiquare oder
Kupferstichverkäufer mit überfüllten Schaufenstern. Nie tritt jemand
bei ihnen ein, sie machen offenbar keine Geschäfte. Sieht man aber
hinein, so sitzen sie, sitzen und lesen, unbesorgt; sorgen nicht um
morgen, ängstigen sich nicht um ein Gelingen, haben einen Hund, der
vor ihnen sitzt, gut aufgelegt, oder eine Katze, die die Stille noch
größer macht, indem sie die Bücherreihen entlang streicht, als wischte
sie die Namen von den Rücken.

Ach, wenn das genügte: ich wünschte manchmal, mir so ein volles
Schaufenster zu kaufen und mich mit einem Hund dahinterzusetzen für
zwanzig Jahre.

Es ist gut, es laut zu sagen: "Es ist nichts geschehen." Noch einmal:
"Es ist nichts geschehen." Hilft es?

Daß mein Ofen wieder einmal geraucht hat und ich ausgehen mußte, das
ist doch wirklich kein Unglück. Daß ich mich matt und erkältet fühle,
hat nichts zu bedeuten. Daß ich den ganzen Tag in den Gassen
umhergelaufen bin, ist meine eigene Schuld. Ich hätte ebensogut im
Louvre sitzen können. Oder nein, das hätte ich nicht. Dort sind
gewisse Leute, die sich wärmen wollen. Sie sitzen auf den Samtbänken,
und ihre Füße stehen wie große leere Stiefel nebeneinander auf den
Gittern der Heizungen. Es sind äußerst bescheidene Männer, die
dankbar sind, wenn die Diener in den dunklen Uniformen mit den vielen
Orden sie dulden. Aber wenn ich eintrete, so grinsen sie. Grinsen
und nicken ein wenig. Und dann, wenn ich vor den Bildern hin und her
gehe, behalten sie mich im Auge, immer im Auge, immer in diesem
umgerührten, zusammengeflossenen Auge. Es war also gut, daß ich nicht
ins Louvre gegangen bin. Ich bin immer unterwegs gewesen. Weiß der
Himmel in wie vielen Städten, Stadtteilen, Friedhöfen, Brücken und
Durchgängen. Irgendwo habe ich einen Mann gesehen, der einen
Gemüsewagen vor sich herschob. Er schrie: Choufleur, Chou-fleur, das
fleur mit eigentümlich trübem eu. Neben ihm ging eine eckige,
häßliche Frau, die ihn von Zeit zu Zeit anstieß. Und wenn sie ihn
anstieß, so schrie er. Manchmal schrie er auch von selbst, aber dann
war es umsonst gewesen, und er mußte gleich darauf wieder schreien,
weil man vor einem Hause war, welches kaufte. Habe ich schon gesagt,
daß er blind war? Nein? Also er war blind. Er war blind und schrie.
Ich fälsche, wenn ich das sage, ich unterschlage den Wagen, den er
schob, ich tue, als hätte ich nicht bemerkt, daß er Blumenkohl ausrief.
Aber ist das wesentlich? Und wenn es auch wesentlich wäre, kommt es
nicht darauf an, was die ganze Sache für mich gewesen ist? Ich habe
einen alten Mann gesehen, der blind war und schrie. Das habe ich
gesehen. Gesehen.

Wird man es glauben, daß es solche Häuser giebt? Nein, man wird sagen,
ich fälsche. Diesmal ist es Wahrheit, nichts weggelassen, natürlich
auch nichts hinzugetan. Woher sollte ich es nehmen? Man weiß, daß
ich arm bin. Man weiß es. Häuser? Aber, um genau zu sein, es waren
Häuser, die nicht mehr da waren. Häuser, die man abgebrochen hatte
von oben bis unten. Was da war, das waren die anderen Häuser, die
danebengestanden hatten, hohe Nachbarhäuser. Offenbar waren sie in
Gefahr, umzufallen, seit man nebenan alles weggenommen hatte; denn ein
ganzes Gerüst von langen, geteerten Mastbäumen war schräg zwischen den
Grund des Schuttplatzes und die bloßgelegte Mauer gerammt. Ich weiß
nicht, ob ich schon gesagt habe, daß ich diese Mauer meine. Aber es
war sozusagen nicht die erste Mauer der vorhandenen Häuser (was man
doch hätte annehmen müssen), sondern die letzte der früheren. Man sah
ihre Innenseite. Man sah in den verschiedenen Stockwerken Zimmerwände,
an denen noch die Tapeten klebten, da und dort den Ansatz des
Fußbodens oder der Decke. Neben den Zimmerwänden blieb die ganze
Mauer entlang noch ein schmutzigweißer Raum, und durch diesen kroch in
unsäglich widerlichen, wurmweichen, gleichsam verdauenden Bewegungen
die offene, rostfleckige Rinne der Abortröhre. Von den Wegen, die das
Leuchtgas gegangen war, waren graue, staubige Spuren am Rande der
Decken geblieben, und sie bogen da und dort, ganz unerwartet, rund um
und kamen in die farbige Wand hineingelaufen und in ein Loch hinein,
das schwarz und rücksichtslos ausgerissen war. Am unvergeßlichsten
aber waren die Wände selbst. Das zähe Leben dieser Zimmer hatte sich
nicht zertreten lassen. Es war noch da, es hielt sich an den Nägeln,
die geblieben waren, es stand auf dem bandbreiten Rest der Fußböden,
es war unter den Ansätzen der Ecken, wo es noch ein klein wenig
Innenraum gab, zusammengekrochen. Man konnte sehen, daß es in der
Farbe war, die es langsam, Jahr um Jahr, verwandelt hatte: Blau in
schimmliches Grün, Grün in Grau und Gelb in ein altes, abgestandenes
Weiß, das fault. Aber es war auch in den frischeren Stellen, die sich
hinter Spiegeln, Bildern und Schränken erhalten hatten; denn es hatte
ihre Umrisse gezogen und nachgezogen und war mit Spinnen und Staub
auch auf diesen versteckten Plätzen gewesen, die jetzt bloßlagen. Es
war in jedem Streifen, der abgeschunden war, es war in den feuchten
Blasen am unteren Rande der Tapeten, es schwankte in den abgerissenen
Fetzen, und aus den garstigen Flecken, die vor langer Zeit entstanden
waren, schwitzte es aus. Und aus diesen blau, grün und gelb gewesenen
Wänden, die eingerahmt waren von den Bruchbahnen der zerstörten
Zwischenmauern, stand die Luft dieser Leben heraus, die zähe, träge,
stockige Luft, die kein Wind noch zerstreut hatte. Da standen die
Mittage und die Krankheiten und das Ausgeatmete und der jahrealte
Rauch und der Schweiß, der unter den Schultern ausbricht und die
Kleider schwer macht, und das Fade aus den Munden und der Fuselgeruch
gärender Füße. Da stand das Scharfe vom Urin und das Brennen vom Ruß
und grauer Kartoffeldunst und der schwere, glatte Gestank von
alterndem Schmalze. Der süße, lange Geruch von vernachlässigten
Säuglingen war da und der Angstgeruch der Kinder, die in die Schule
gehen, und das Schwüle aus den Betten mannbarer Knaben. Und vieles
hatte sich dazugesellt, was von unten gekommen war, aus dem Abgrund
der Gasse, die verdunstete, und anderes war von oben herabgesickert
mit dem Regen, der über den Städten nicht rein ist. Und manches hatte
die schwachen, zahm gewordenen Hauswinde, die immer in derselben
Straße bleiben, zugetragen, und es war noch vieles da, wovon man den
Ursprung nicht wußte. Ich habe doch gesagt, daß man alle Mauern
abgebrochen hatte bis auf die letzte - ? Nun von dieser Mauer spreche
ich fortwährend. Man wird sagen, ich hätte lange davorgestanden; aber
ich will einen Eid geben dafür, daß ich zu laufen begann, sobald ich
die Mauer erkannt hatte. Denn das ist das Schreckliche, daß ich sie
erkannt habe. Ich erkenne das alles hier, und darum geht es so ohne
weiteres in mich ein: es ist zu Hause in mir.

Ich war etwas erschöpft nach alledem, man kann wohl sagen angegriffen,
und darum war es zuviel für mich, daß auch er noch auf mich warten
mußte. Er wartete in der kleinen Crémerie, wo ich zwei Spiegeleier
essen wollte; ich war hungrig, ich war den ganzen Tag nicht dazu
gekommen zu essen. Aber ich konnte auch jetzt nichts zu mir nehmen;
ehe die Eier noch fertig waren, trieb es mich wieder hinaus in die
Straßen, die ganz dickflüssig von Menschen mir entgegenrannen. Denn
es war Fasching und Abend, und die Leute hatten alle Zeit und trieben
umher und rieben sich einer am andern. Und ihre Gesichter waren voll
von dem Licht, das aus den Schaubuden kam, und das Lachen quoll aus
ihren Munden wie Eiter aus offenen Stellen. Sie lachten immer mehr
und drängten sich immer enger zusammen, je ungeduldiger ich versuchte
vorwärts zu kommen. Das Tuch eines Frauenzimmers hakte sich irgendwie
an mir fest, ich zog sie hinter mir her, und die Leute hielten mich
auf und lachten, und ich fühlte, daß ich auch lachen sollte, aber ich
konnte es nicht. Jemand warf mir eine Hand Confetti in die Augen, und
es brannte wie eine Peitsche. An den Ecken waren die Menschen
festgekeilt, einer in den andern geschoben, und es war keine
Weiterbewegung in ihnen, nur ein leises, weiches Auf und Ab, als ob
sie sich stehend paarten. Aber obwohl sie standen und ich am Rande
der Fahrbahn, wo es Risse im Gedränge gab, hinlief wie ein Rasender,
war es in Wahrheit doch so, daß sie sich bewegten und ich mich nicht
rührte. Denn es veränderte sich nichts; wenn ich aufsah, gewahrte ich
immer noch dieselben Häuser auf der einen Seite und auf der anderen
die Schaubuden. Vielleicht auch stand alles fest, und es war nur ein
Schwindel in mir und ihnen, der alles zu drehen schien. Ich hatte
keine Zeit, darüber nachzudenken, ich war schwer von Schweiß, und es
kreiste ein betäubender Schmerz in mir, als ob in meinem Blute etwas
zu Großes mittriebe, das die Adern ausdehnte, wohin es kam. Und dabei
fühlte ich, daß die Luft längst zu Ende war und daß ich nur mehr
Ausgeatmetes einzog, das meine Lungen stehen ließen.

Aber nun ist es vorbei; ich habe es überstanden. Ich sitze in meinem
Zimmer bei der Lampe; es ist ein wenig kalt, denn ich wage es nicht,
den Ofen zu versuchen; was, wenn er rauchte und ich müßte wieder
hinaus? Ich sitze und denke: wenn ich nicht arm wäre, würde ich mir
ein anderes Zimmer mieten, ein Zimmer mit Möbeln, die nicht so
aufgebraucht sind, nicht so voll von früheren Mietern wie diese hier.
Zuerst war es mir wirklich schwer, den Kopf in diesen Lehnstuhl zu
legen; es ist da nämlich eine gewisse schmierig-graue Mulde in seinem
grünen Bezug, in die alle Köpfe zu passen scheinen. Längere Zeit
gebrauchte ich die Vorsicht, ein Taschentuch unter meine Haare zu
legen, aber jetzt bin ich zu müde dazu; ich habe gefunden, daß es auch
so geht und daß die kleine Vertiefung genau für meinen Hinterkopf
gemacht ist, wie nach Maß. Aber ich würde mir, wenn ich nicht arm
wäre, vor allem einen guten Ofen kaufen, und ich würde das reine,
starke Holz heizen, welches aus dem Gebirge kommt, und nicht diese
trostlosen têtes-de-moineau, deren Dunst das Atmen so bang macht und
den Kopf so wirr. Und dann müßte jemand da sein, der ohne grobes
Geräusch aufräumt und der das Feuer besorgt, wie ich es brauche; denn
oft, wenn ich eine Viertelstunde vor dem Ofen knien muß und rütteln,
die Stirnhaut gespannt von der nahen Glut und mit Hitze in den offenen
Augen, gebe ich alles aus, was ich für den Tag an Kraft habe, und wenn
ich dann unter die Leute komme, haben sie es natürlich leicht. Ich
würde manchmal, wenn großes Gedränge ist, einen Wagen nehmen,
vorbeifahren, ich würde täglich in einem Duval essen... und nicht mehr
in die Crémerien kriechen... Ob er wohl auch in einem Duval gewesen
wäre? Nein. Dort hätte er nicht auf mich warten dürfen. Sterbende
läßt man nicht hinein. Sterbende? Ich sitze ja jetzt in meiner Stube;
ich kann ja versuchen, ruhig über das nachzudenken, was mir begegnet
ist. Es ist gut, nichts im Ungewissen zu lassen. Also ich trat ein
und sah zuerst nur, daß der Tisch, an dem ich öfters zu sitzen pflegte,
von jemandem anderen eingenommen war. Ich grüßte nach dem kleinen
Buffet hin, bestellte und setzte mich nebenan. Aber da fühlte ich ihn,
obwohl er sich nicht rührte. Gerade seine Regungslosigkeit fühlte
ich und begriff sie mit einem Schlage. Die Verbindung zwischen uns
war hergestellt, und ich wußte, daß er erstarrt war vor Entsetzen.
Ich wußte, daß das Entsetzen ihn gelähmt hatte, Entsetzen über etwas,
was in ihm geschah. Vielleicht brach ein Gefäß in ihm, vielleicht
trat ein Gift, das er lange gefürchtet hatte, gerade jetzt in seine
Herzkammer ein, vielleicht ging ein großes Geschwür auf in seinem
Gehirn wie eine Sonne, die ihm die Welt verwandelte. Mit
unbeschreiblicher Anstrengung zwang ich mich, nach ihm hinzusehen,
denn ich hoffte noch, daß alles Einbildung sei. Aber es geschah, daß
ich aufsprang und hinausstürzte; denn ich hatte mich nicht geirrt. Er
saß da in einem dicken, schwarzen Wintermantel, und sein graues,
gespanntes Gesicht hing tief in ein wollenes Halstuch. Sein Mund war
geschlossen, als wäre er mit großer Wucht zugefallen, aber es war
nicht möglich zu sagen, ob seine Augen noch schauten: beschlagene,
rauchgraue Brillengläser lagen davor und zitterten ein wenig. Seine
Nasenflügel waren aufgerissen, und das lange Haar über seinen Schläfen,
aus denen alles weggenommen war, welkte wie in zu großer Hitze.
Seine Ohren waren lang, gelb, mit großen Schatten hinter sich. Ja, er
wußte, daß er sich jetzt von allem entfernte, nicht nur von den
Menschen. Ein Augenblick noch, und alles wird seinen Sinn verloren
haben, und dieser Tisch und die Tasse und der Stuhl, an den er sich
klammert, alles Tägliche und Nächste wird unverständlich geworden sein,
fremd und schwer. So saß er da und wartete, bis es geschehen sein
würde. Und wehrte sich nicht mehr.

Und ich wehre mich noch. Ich wehre mich, obwohl ich weiß, daß mir das
Herz schon heraushängt und daß ich doch nicht mehr leben kann, auch
wenn meine Quäler jetzt von mir abließen. Ich sage mir: es ist nichts
geschehen, und doch habe ich jenen Mann nur begreifen können, weil
auch in mir etwas vor sich geht, das anfängt, mich von allem zu
entfernen und abzutrennen. Wie graute mir immer, wenn ich von einem
Sterbenden sagen hörte: er konnte schon niemanden mehr erkennen. Dann
stellte ich mir ein einsames Gesicht vor, das sich aufhob aus Kissen
und suchte, nach etwas Bekanntem suchte, nach etwas schon einmal
Gesehenem suchte, aber es war nichts da. Wenn meine Furcht nicht so
groß wäre, so würde ich mich damit trösten, daß es nicht unmöglich ist,
alles anders zu sehen und doch zu leben. Aber ich fürchte mich, ich
fürchte mich namenlos vor dieser Veränderung. Ich bin ja noch gar
nicht in dieser Welt eingewöhnt gewesen, die mir gut scheint. Was
soll ich in einer anderen? Ich würde so gerne unter den Bedeutungen
bleiben, die mir lieb geworden sind, und wenn schon etwas sich
verändern muß, so möchte ich doch wenigstens unter den Hunden leben
dürfen, die eine verwandte Welt haben und dieselben Dinge.

Noch eine Weile kann ich das alles aufschreiben und sagen. Aber es
wird ein Tag kommen, da meine Hand weit von mir sein wird, und wenn
ich sie schreiben heißen werde, wird sie Worte schreiben, die ich
nicht meine. Die Zeit der anderen Auslegung wird anbrechen, und es
wird kein Wort auf dem anderen bleiben, und jeder Sinn wird wie Wolken
sich auflösen und wie Wasser niedergehen. Bei aller Furcht bin ich
schließlich doch wie einer, der vor etwas Großem steht, und ich
erinnere mich, daß es früher oft ähnlich in mir war, eh ich zu
schreiben begann. Aber diesmal werde ich geschrieben werden. Ich bin
der Eindruck, der sich verwandeln wird. Oh, es fehlt nur ein kleines,
und ich könnte das alles begreifen und gutheißen. Nur ein Schritt,
und mein tiefes Elend würde Seligkeit sein. Aber ich kann diesen
Schritt nicht tun, ich bin gefallen und kann mich nicht mehr aufheben,
weil ich zerbrochen bin. Ich habe ja immer noch geglaubt, es könnte
eine Hülfe kommen. Da liegt es vor mir in meiner eigenen Schrift, was
ich gebetet habe, Abend für Abend. Ich habe es mir aus den Büchern,
in denen ich es fand, abgeschrieben, damit es mir ganz nahe wäre und
aus meiner Hand entsprungen wie Eigenes. Und ich will es jetzt noch
einmal schreiben, hier vor meinem Tisch kniend will ich es schreiben;
denn so habe ich es länger, als wenn ich es lese, und jedes Wort
dauert an und hat Zeit zu verhallen.

'Mécontent de tous et mécontent de moi, je voudrais bien me racheter
et m'enorgueillir un peu dans le silence et la solitude de la nuit.
Âmes de ceux que j'ai aimés, âmes de ceux que j'ai chantés,
fortifiez-moi, soutenez-moi, éloignez de moi le mensonge et les
vapeurs corruptrices du monde; et vous, Seigneur mon Dieu!
accordez-moi la grâce de produire quelques beaux vers qui me prouvent
à moi-même que je ne suis pas le dernier des hommes, que je ne suis
pas inférieur à ceux que je méprise.'

'Die Kinder loser und verachteter Leute, die die Geringsten im Lande
waren. Nun bin ich ihr Saitenspiel worden und muß ihr Märlein sein.

... sie haben über mich einen Weg gemacht...

... es war ihnen so leicht, mich zu beschädigen, daß sie keiner Hülfe
dazu durften.

... nun aber geußet sich aus meiner Seele über mich, und mich hat
ergriffen die elende Zeit.

Des Nachts wird mein Gebein durchbohret allenthalben; und die mich
jagen, legen sich nicht schlafen.

Durch die Menge der Kraft werde ich anders und anders gekleidet; und
man gürtet mich damit wie mit dem Loch meines Rocks...

Meine Eingeweide sieden und hören nicht auf; mich hat überfallen die
elende Zeit...

Meine Harfe ist eine Klage worden, und meine Pfeife ein Weinen.'

Der Arzt hat mich nicht verstanden. Nichts. Es war ja auch schwer zu
erzählen. Man wollte einen Versuch machen mit dem Elektrisieren. Gut.
Ich bekam einen Zettel: ich sollte um ein Uhr in der Salpêtrère sein.
Ich war dort. Ich mußte lange an verschiedenen Baracken vorüber,
durch mehrere Höfe gehen, in denen da und dort Leute mit weißen Hauben
wie Sträflinge unter den leeren Bäumen standen. Endlich kam ich in
einen langen, dunklen, gangartigen Raum, der auf der einen Seite vier
Fenster aus mattem, grünlichem Glase hatte, eines vom anderen durch
eine breite, schwarze Zwischenwand getrennt. Davor lief eine Holzbank
hin, an allem vorbei, und auf dieser Bank saßen sie, die mich kannten,
und warteten. Ja, sie waren alle da. Als ich mich an die Dämmerung
des Raumes gewöhnt hatte, merkte ich, daß unter denen, welche Schulter
an Schulter in endloser Reihe dasaßen, auch einige andere Leute sein
konnten, kleine Leute, Handwerker, Bedienernnen und Lastkutscher.
Unten an der Schmalseite des Ganges auf besonderen Stühlen hatten sich
zwei dicke Frauen ausgebreitet, die sich unterhielten, vermutlich
Conciergen. Ich sah nach der Uhr; es war fünf Minuten vor Eins. Nun
in fünf, sagen wir in zehn Minuten, mußte ich drankommen; es war also
nicht so schlimm. Die Luft war schlecht, schwer, voll Kleider und
Atem. An einer gewissen Stelle schlug die starke, steigernde Kühle
von Äther aus einer Türspalte. Ich begann auf und ab zu gehen. Es
kam mir in den Sinn, daß man mich hierher gewiesen hatte, unter diese
Leute, in diese überfüllte, allgemeine Sprechstunde. Es war sozusagen
die erste öffentliche Bestätigung, daß ich zu den Fortgeworfenen
gehörte; hatte der Arzt es mir angesehen? Aber ich hatte meinen
Besuch in einem leidlich guten Anzuge gemacht, ich hatte meine Karte
hineingeschickt. Trotzdem, er mußte es irgendwie erfahren haben,
vielleicht hatte ich mich selbst verraten. Nun, da es einmal Tatsache
war, fand ich es auch gar nicht so arg; die Leute saßen still und
achteten nicht auf mich. Einige hatten Schmerzen und schwenkten ein
wenig das eine Bein, um sie leichter auszuhalten. Verschiedene Männer
hatten den Kopf in die flachen Hände gelegt, andere schliefen tief mit
schweren, verschütteten Gesichtern. Ein dicker Mann mit rotem,
angeschwollenem Halse saß vorübergebeugt da, stierte auf den Fußboden
und spie von Zeit zu Zeit klatschend auf einen Fleck, der ihm dazu
passend schien. Ein Kind schluchzte in einer Ecke; die langen magern
Beine hatte es zu sich auf die Bank gezogen, und nun hielt es sie
umfaßt und an sich gepreßt, als müßte es von ihnen Abschied nehmen.
Eine kleine, blasse Frau, der ein mit runden, schwarzen Blumen
geputzter Krepphut schief auf den Haaren saß, hatte die Grimasse eines
Lächelns um die dürftigen Lippen, aber ihre wunden Lider gingen
beständig über. Nicht weit von ihr hatte man ein Mädchen hingesetzt
mit rundem glatten Gesicht und herausgedrängten Augen, die ohne
Ausdruck waren; sein Mund stand offen, so daß man das weiße,
schleimige Zahnfleisch sah mit den alten, verkümmerten Zähnen. Und
viele Verbände gab es. Verbände, die den ganzen Kopf Schichte um
Schichte umzogen, bis nur noch ein einziges Auge da war, das niemandem
mehr gehörte. Verbände, die verbargen, und Verbände, die zeigten, was
darunter war. Verbände, die man geöffnet hatte und in denen nun, wie
in einem schmutzigen Bett, eine Hand lag, die keine mehr war; und ein
eingebundenes Bein, das aus der Reihe herausstand, groß wie ein ganzer
Mensch. Ich ging auf und ab und gab mir Mühe, ruhig zu sein. Ich
beschäftigte mich viel mit der gegenüberliegenden Wand. Ich bemerkte,
daß sie eine Anzahl einflügeliger Türen enthielt und nicht bis an die
Decke reichte, so daß dieser Gang von den Räumen, die daneben liegen
mußten, nicht ganz abgetrennt war. Ich sah nach der Uhr; ich war eine
Stunde auf und ab gegangen. Eine Weile später kamen die Ärzte.
Zuerst ein paar junge Leute, die mit gleichgültigen Gesichtern
vorbeigingen, schließlich der, bei dem ich gewesen war, in lichten
Handschuhen, Chapeau ähuit reflets, tadellosem Überzieher. Als er
mich sah, hob er ein wenig den Hut und lächelte zerstreut. Ich hatte
nun Hoffnung, gleich gerufen zu werden, aber es verging wieder eine
Stunde. Ich kann mich nicht erinnern, womit ich sie verbrachte. Sie
verging. Ein alter Mann kam in einer fleckigen Schürze, eine Art
Wärter, und berührte mich an der Schulter. Ich trat in eines der
Nebenzimmer. Der Arzt und die jungen Leute saßen um einen Tisch und
sahen mich an, man gab mir einen Stuhl. So. Und nun sollte ich
erzählen, wie das eigentlich mit mir wäre. Möglichst kurz, s'il vous
plaît. Denn viel Zeit hätten die Herren nicht. Mir war seltsam zumut.
Die jungen Leute saßen und sahen mich an mit jener überlegenen,
fachlichen Neugier, die sie gelernt hatten. Der Arzt, den ich kannte,
strich seinen schwarzen Spitzbart und lächelte zerstreut. Ich dachte,
daß ich in Weinen ausbrechen würde, aber ich hörte mich französisch
sagen: "Ich hatte bereits die Ehre, Ihnen, mein Herr, alle Auskünfte
zu geben, die ich geben kann. Halten Sie es für nötig, daß diese
Herren eingeweiht werden, so sind Sie nach unserer Unterredung gewiß
imstande, dies mit einigen Worten zu tun, während es mir sehr schwer
fällt." Der Arzt erhob sich mit höflichem Lächeln, trat mit den
Assistenten ans Fenster und sagte ein paar Worte, die er mit einer
waagerechten, schwankenden Handbewegung begleitete. Nach drei Minuten
kam einer von den jungen Leuten, kurzsichtig und fahrig, an den Tisch
zurück und sagte, indem er versuchte, mich strenge anzusehen: "Sie
schlafen gut, mein Herr?" "Nein, schlecht." Worauf er wieder zu der
Gruppe zurück sprang. Dort verhandelte man noch eine Weile, dann
wandte sich der Arzt an mich und teilte mir mit, daß man mich rufen
lassen würde. Ich erinnerte ihn, daß ich auf ein Uhr bestellt worden
sei. Er lächelte und machte ein paar schnelle, sprunghafte Bewegungen
mit seinen kleinen weißen Händen, die bedeuten wollten, daß er
ungemein beschäftigt sei. Ich kehrte also in meinen Gang zurück, in
dem die Luft viel lastender geworden war, und fing wieder an, hin und
her zu gehen, obwohl ich mich todmüde fühlte. Schließlich machte der
feuchte, angehäufte Geruch mich schwindlig; ich blieb an der
Eingangstür stehen und öffnete sie ein wenig. Ich sah, daß draußen
noch Nachmittag und etwas Sonne war, und das tat mir unsagbar wohl.
Aber ich hatte kaum eine Minute so gestanden, da hörte ich, daß man
mich rief. Eine Frauenperson, die zwei Schritte entfernt bei einem
kleinen Tische saß, zischte mir etwas zu. Wer mich geheißen hätte,
die Türe öffnen. Ich sagte, ich könnte die Luft nicht vertragen. Gut,
das sei meine Sache, aber die Türe müsse geschlossen bleiben. Ob es
denn nicht anginge, ein Fenster aufzumachen. Nein, das sei verboten.
Ich beschloß, das Aufundabgehen wieder aufzunehmen, weil es
schließlich eine Art Betäubung war und niemanden kränkte. Aber der
Frau an dem kleinen Tische mißfiel jetzt auch das. Ob ich denn keinen
Platz hätte. Nein, den hätte ich nicht. Das Herumgehen sei aber
nicht gestattet; ich müßte mir einen Platz suchen. Es würde schon
noch einer da sein. Die Frau hatte recht. Es fand sich wirklich
sogleich ein Platz neben dem Mädchen mit den herausdrängenden Augen.
Da saß ich nun in dem Gefühle, daß dieser Zustand unbedingt auf etwas
Fürchterliches vorbereiten müsse. Links war also das Mädchen mit dem
faulenden Zahnfleisch; was rechts von mir war, konnte ich erst nach
einer Weile erkennen. Es war eine ungeheuere, unbewegliche Masse, die
ein Gesicht hatte und eine große, schwere, reglose Hand. Die Seite
des Gesichtes, die ich sah, war leer, ganz ohne Züge und ohne
Erinnerungen, und es war un heimlich, daß der Anzug wie der einer
Leiche war, die man für den Sarg angekleidet hatte. Die schmale,
schwarze Halsbinde war in derselben losen unpersönlichen Weise um den
Kragen geschnallt, und dem Rock sah man es an, daß er von anderen über
diesen willenlosen Körper gezogen worden war. Die Hand hatte man auf
diese Hose gelegt, dorthin wo sie lag, und sogar das Haar war wie von
Leichenwäscherinnen gekämmt und war, wie das Haar ausgestopfter Tiere,
steif geordnet. Ich betrachtete das alles mit Aufmerksamkeit, und es
fiel mir ein, daß dies also der Platz sei, der für mich bestimmt
gewesen war, denn ich glaubte nun endlich an diejenige Stelle meines
Lebens gekommen zu sein, an der ich bleiben würde. Ja, das Schicksal
geht wunderbare Wege.

Plötzlich erhoben sich ganz in der Nähe rasch hintereinander die
erschreckten, abwehrenden Schreie eines Kindes, denen ein leises,
zugehaltenes Weinen folgte. Während ich mich anstrengte,
herauszufinden, wo das könnte gewesen sein, verzitterte wieder ein
kleiner, unterdrückter Schrei, und ich hörte Stimmen, die fragten,
eine Stimme, die halblaut befahl, und dann schnurrte irgend eine
gleichgültige Maschine los und kümmerte sich um nichts. Jetzt
erinnerte ich mich jener halben Wand, und es war mir klar, daß das
alles von jenseits der Türen kam und daß man dort an der Arbeit war.
Wirklich erschien von Zeit zu Zeit der Wärter mit der fleckigen
Schürze und winkte. Ich dachte gar nicht mehr daran, daß er mich
meinen könnte. Galt es mir? Nein. Zwei Männer waren da mit einem
Rollstuhl; sie hoben die Masse hinein, und ich sah jetzt, daß es ein
alter, lahmer Mann war, der noch eine andere, kleinere, vom Leben
abgenutzte Seite hatte mit einem offenen, trüben, traurigen Auge. Sie
fuhren ihn hinein, und neben mir entstand eine Menge Platz. Und ich
saß und dachte, was sie wohl dem blöden Mädchen tun wollten und ob es
auch schreien würde. Die Maschinen dahinten schnurrten so angenehm
fabrikmäßig, es hatte gar nichts Beunruhigendes.

Plötzlich aber war alles still, und in die Stille sagte eine
überlegene, selbstgefällige Stimme, die ich zu kennen glaubte:

"Riez!" Pause. "Riez. Mais riez, riez." Ich lachte schon. Es war
unerklärlich, weshalb der Mann da drüben nicht lachen wollte. Eine
Maschine ratterte los, verstummte aber sofort wieder, Worte wurden
gewechselt, dann erhob sich wieder dieselbe energische Stimme und
befahl: "Dites-nous le mot: avant." Buchstabierend: "a-v-a-n-t"...
Stille. "On n'entend rien. Encore une fois:... "

Und da, als es drüben so warm und schwammig lallte: da zum erstenmal
seit vielen, vielen Jahren war es wieder da. Das, was mir das erste,
tiefe Entsetzen eingejagt hatte, wenn ich als Kind im Fieber lag: das
Große. Ja, so hatte ich immer gesagt, wenn sie alle um mein Bett
standen und mir den Puls fühlten und mich fragten, was mich erschreckt
habe: Das Große. Und wenn sie den Doktor holten und er war da und
redete mir zu, so bat ich ihn, er möchte nur machen, daß das Große
wegginge, alles andere wäre nichts. Aber er war wie die andern. Er
konnte es nicht fortnehmen, obwohl ich damals doch klein war und mir
leicht zu helfen gewesen wäre. Und jetzt war es wieder da. Es war
später einfach ausgeblieben, auch in Fiebernächten war es nicht
wiedergekommen, aber jetzt war es da, obwohl ich kein Fieber hatte.
Jetzt war es da. Jetzt wuchs es aus mir heraus wie eine Geschwulst,
wie ein zweiter Kopf, und war ein Teil von mir, obwohl es doch gar
nicht zu mir gehören konnte, weil es so groß war. Es war da, wie ein
großes totes Tier, das einmal, als es noch lebte, meine Hand gewesen
war oder mein Arm. Und mein Blut ging durch mich und durch es, wie
durch einen und denselben Körper. Und mein Herz mußte sich sehr
anstrengen, um das Blut in das Große zu treiben: es war fast nicht
genug Blut da. Und das Blut trat ungern ein in das Große und kam
krank und schlecht zurück. Aber das Große schwoll an und wuchs mir
vor das Gesicht wie eine warme bläuliche Beule und wuchs mir vor den
Mund, und über meinem letzten Auge war schon der Schatten von seinem
Rande.

Ich kann mich nicht erinnern, wie ich durch die vielen Höfe
hinausgekommen war. Es war Abend, und ich verirrte mich in der
fremden Gegend und ging Boulevards mit endlosen Mauern in einer
Richtung hinauf und, wenn dann kein Ende da war, in der
entgegengesetzten Richtung zurück bis an irgendeinen Platz. Dort
begann ich eine Straße zu gehen, und es kamen andere Straßen, die ich
nie gesehen hatte, und wieder andere. Elektrische Bahnen rasten
manchmal überhell und mit hartem, klopfendem Geläute heran und vorbei.
Aber auf ihren Tafeln standen Namen, die ich nicht kannte. Ich wußte
nicht, in welcher Stadt ich war und ob ich hier irgendwo eine Wohnung
hatte und was ich tun mußte, um nicht mehr gehen zu müssen.

Und jetzt auch noch diese Krankheit, die mich immer schon so
eigentümlich berührt hat. Ich bin sicher, daß man sie unterschätzt.
Genau wie man die Bedeutung anderer Krankheiten übertreibt. Diese
Krankheit hat keine bestimmten Eigenheiten, sie nimmt die Eigenheiten
dessen an, den sie ergreift. Mit einer somnambulen Sicherheit holt
sie aus einem jeden seine tiefste Gefahr heraus, die vergangen schien,
und stellt sie wieder vor ihn hin, ganz nah, in die nächste Stunde.
Männer, die einmal in der Schulzeit das hülflose Laster versucht haben,
dessen betrogene Vertraute die armen, harten Knabenhände sind, finden
sich wieder darüber, oder es fängt eine Krankheit, die sie als Kinder
überwunden haben, wieder in ihnen an; oder eine verlorene Gewohnheit
ist wieder da, ein gewisses zögerndes Wenden des Kopfes, das ihnen vor
Jahren eigen war. Und mit dem, was kommt, hebt sich ein ganzes Gewirr
irrer Erinnerungen, das daranhängt wie nasser Tang an einer
versunkenen Sache. Leben, von denen man nie erfahren hätte, tauchen
empor und mischen sich unter das, was wirklich gewesen ist, und
verdrängen Vergangenes, das man zu kennen glaubte: denn in dem, was
aufsteigt, ist eine ausgeruhte, neue Kraft, das aber, was immer da war,
ist müde von zu oftem Erinnern.

Ich liege in meinem Bett, fünf Treppen hoch, und mein Tag, den nichts
unterbricht, ist wie ein Zifferblatt ohne Zeiger. Wie ein Ding, das
lange verloren war, eines Morgens auf seiner Stelle liegt, geschont
und gut, neuer fast als zur Zeit des Verlustes, ganz als ob es bei
irgend jemandem in Pflege gewesen wäre - : so liegt da und da auf
meiner Bettdecke Verlorenes aus der Kindheit und ist wie neu. Alle
verlorenen Ängste sind wieder da.

Die Angst, daß ein kleiner Wollfaden, der auf dem Saum der Decke
heraussteht, hart sei, hart und scharf wie eine stählerne Nadel; die
Angst, daß dieser kleine Knopf meines Nachthemdes größer sei als mein
Kopf, groß und schwer; die Angst, daß dieses Krümchen Brot, das jetzt
von meinem Bette fällt, gläsern und zerschlagen unten ankommen würde,
und die drückende Sorge, daß damit eigentlich alles zerbrochen sei,
alles für immer; die Angst, daß der Streifen Rand eines aufgerissenen
Briefes etwas Verbotenes sei, das niemand sehen dürfe, etwas
unbeschreiblich Kostbares, für das keine Stelle in der Stube sicher
genug sei; die Angst, daß ich, wenn ich einschliefe, das Stück Kohle
verschlucken würde, das vor dem Ofen liegt; die Angst, daß irgendeine
Zahl in meinem Gehirn zu wachsen beginnt, bis sie nicht mehr Raum hat
in mir; die Angst, daß das Granit sei, worauf ich liege, grauer Granit;
die Angst, daß ich schreien könnte und daß man vor meiner Türe
zusammenliefe und sie schließlich aufbräche, die Angst, daß ich mich
verraten könnte und alles das sagen, wovor ich mich fürchte, und die
Angst, daß ich nichts sagen könnte, weil alles unsagbar ist, - und die
anderen Ängste... die Ängste.

Ich habe um meine Kindheit gebeten, und sie ist wiedergekommen, und
ich fühle, daß sie immer noch so schwer ist wie damals und daß es
nichts genützt hat, älter zu werden.

Gestern war mein Fieber besser, und heute fängt der Tag wie Frühling
an, wie Frühling in Bildern. Ich will versuchen, auszugehen in die
Bibliothèque Nationale zu meinem Dichter, den ich so lange nicht
gelesen habe, und vielleicht kann ich später langsam durch die Gärten
gehen. Vielleicht ist Wind über dem großen Teich, der so wirkliches
Wasser hat, und es kommen Kinder, die ihre Schiffe mit den roten
Segeln hineinlassen und zuschauen.

Heute habe ich es nicht erwartet, ich bin so mutig ausgegangen, als
wäre das das Natürlichste und Einfachste. Und doch, es war wieder
etwas da, das mich nahm wie Papier, mich zusammenknüllte und fortwarf,
es war etwas Unerhörtes da.

Der Boulevard St-Michel war leer und weit, und es ging sich leicht auf
seiner leisen Neigung. Fensterflügel oben öffneten sich mit gläsernem
Aufklang, und ihr Glänzen flog wie ein weißer Vogel über die Straße.
Ein Wagen mit hellroten Rädern kam vorüber, und weiter unten trug
jemand etwas Lichtgrünes. Pferde liefen in blinkernden Geschirren auf
dem dunkel gespritzten Fahrdamm, der rein war. Der Wind war erregt,
neu, mild, und alles stieg auf: Gerüche, Rufe, Glocken.

Ich kam an einem der Caféhäuser vorbei, in denen am Abend die falschen
roten Zigeuner spielen. Aus den offenen Fenstern kroch mit schlechtem
Gewissen die übernächtige Luft. Glattgekämmte Kellner waren dabei,
vor der Türe zu scheuern. Der eine stand gebückt und warf, handvoll
nach handvoll, gelblichen Sand unter die Tische. Da stieß ihn einer
von den Vorübergehenden an und zeigte die Straße hinunter. Der
Kellner, der ganz rot im Gesicht war, schaute eine Weile scharf hin,
dann verbreitete sich ein Lachen auf seinen bartlosen Wangen, als wäre
es darauf verschüttet worden. Er winkte den andern Kellnern, drehte
das lachende Gesicht ein paarmal schnell von rechts nach links, um
alle herbeizurufen und selbst nichts zu versäumen. Nun standen alle
und blickten hinuntersehend oder -suchend, lächelnd oder ärgerlich,
daß sie noch nicht entdeckt hatten, was Lächerliches es gäbe.

Ich fühlte, daß ein wenig Angst in mir anfing. Etwas drängte mich auf
die andere Seite hinüber; aber ich begann nur schneller zu gehen und
überblickte unwillkürlich die wenigen Leute vor mir, an denen ich
nichts Besonderes bemerkte. Doch ich sah, daß der eine, ein
Laufbursche mit einer blauen Schürze und einem leeren Henkelkorb über
der einen Schulter, jemandem nachschaute. Als er genug hatte, drehte
er sich auf derselben Stelle nach den Häusern um und machte zu einem
lachenden Kommis hinüber die schwankende Bewegung vor der Stirne, die
allen geläufig ist. Dann blitzte er mit den schwarzen Äugen und kam
mir befriedigt und sich wiegend entgegen.

Ich erwartete, sobald mein Auge Raum hatte, irgendeine ungewöhnliche
und auffallende Figur zu sehen, aber es zeigte sich, daß vor mir
niemand ging, als ein großer hagerer Mann in einem dunklen Überzieher
und mit einem weichen, schwarzen Hut auf dem kurzen, fahlblonden Haar.
Ich vergewisserte mich, daß weder an der Kleidung, noch in dem
Benehmen dieses Mannes etwas Lächerliches sei, und versuchte schon, an
ihm vorüber den Boulevard hinunter zu schauen, als er über irgend
etwas stolperte. Da ich nahe hinter ihm folgte, nahm ich mich in acht,
aber als die Stelle kam, war da nichts, rein nichts. Wir gingen
beide weiter, er und ich, der Abstand zwischen uns blieb derselbe.
Jetzt kam ein Straßenübergang, und da geschah es, daß der Mann vor mir
mit ungleichen Beinen die Stufen des Gangsteigs hinunterhüpfte in der
Art etwa, wie Kinder manchmal während des Gehens aufhüpfen oder
springen, wenn sie sich freuen. Auf den jenseitigen Gangsteig kam er
einfach mit einem langen Schritt hinauf. Aber kaum war er oben, zog
er das eine Bein ein wenig an und hüpfte auf dem anderen einmal hoch
und gleich darauf wieder und wieder. Jetzt konnte man diese
plötzliche Bewegung wieder ganz gut für ein Stolpern halten, wenn man
sich einredete, es wäre da eine Kleinigkeit gewesen, ein Kern, die
glitschige Schale einer Frucht, irgend etwas; und das Seltsame war,
daß der Mann selbst an das Vorhandensein eines Hindernisses zu glauben
schien, denn er sah sich jedesmal mit jenem halb ärgerlichen, halb
vorwurfsvollen Blick, den die Leute in solchen Augenblicken haben,
nach der lästigen Stelle um. Noch einmal rief mich etwas Warnendes
auf die andere Seite der Straße, aber ich folgte nicht und blieb
immerfort hinter diesem Manne, indem ich meine ganze Aufmerksamkeit
auf seine Beine richtete. Ich muß gestehen, daß ich mich merkwürdig
erleichtert fühlte, als etwa zwanzig Schritte lang jenes Hüpfen nicht
wiederkam, aber da ich nun meine Äugen aufhob, bemerkte ich, daß dem
Manne ein anderes Ärgernis entstanden war. Der Kragen seines
Überziehers hatte sich aufgestellt; und wie er sich auch, bald mit
einer Hand, bald mit beiden umständlich bemühte, ihn niederzulegen, es
wollte nicht gelingen. Das kam vor. Es beunruhigte mich nicht. Aber
gleich darauf gewahrte ich mit grenzenloser Verwunderung, daß in den
beschäftigten Händen dieses Menschen zwei Bewegungen waren: eine
heimliche, rasche, mit welcher er den Kragen unmerklich hochklappte,
und jene andere ausführliche, anhaltende, gleichsam übertrieben
buchstabierte Bewegung, die das Umlegen des Kragens bewerkstelligen
sollte. Diese Beobachtung verwirrte mich so sehr, daß zwei Minuten
vergingen, ehe ich erkannte, daß im Halse des Mannes, hinter dem
hochgeschobenen Überzieher und den nervös agierenden Händen dasselbe
schreckliche, zweisilbige Hüpfen war, das seine Beine eben verlassen
hatte. Von diesem Augenblick an war ich an ihn gebunden. Ich begriff,
daß dieses Hüpfen in seinem Körper herumirrte, daß es versuchte, hier
und da auszubrechen. Ich verstand seine Angst vor den Leuten, und ich
begann selber vorsichtig zu prüfen, ob die Vorübergehenden etwas
merkten. Ein kalter Stich fuhr mir durch den Rücken, als seine Beine
plötzlich einen kleinen, zuckenden Sprung machten, aber niemand hatte
es gesehen, und ich dachte mir aus, daß auch ich ein wenig stolpern
wollte, im Falle jemand aufmerksam wurde. Das wäre gewiß ein Mittel,
Neugierige glauben zu machen, es hätte da doch ein kleines,
unscheinbares Hindernis im Wege gelegen, auf das wir zufällig beide
getreten hätten. Aber während ich so auf Hülfe sann, hatte er selbst
einen neuen, ausgezeichneten Ausweg gefunden. Ich habe vergessen zu
sagen, daß er einen Stock trug, nun, es war ein einfacher Stock, aus
dunklem Holze mit einem schlichten, rund gebogenen Handgriff. Und es
war ihm in seiner suchenden Angst in den Sinn gekommen, diesen Stock
zunächst mit einer Hand (denn wer weiß, wozu die zweite noch nötig
sein würde) auf den Rücken zu halten, gerade über die Wirbelsäule, ihn
fest ins Kreuz zu drücken und das Ende der runden Krücke in den Kragen
zu schieben, so daß man es hart und wie einen Halt hinter dem
Halswirbel und dem ersten Rückenwirbel spürte. Das war eine Haltung,
die nicht auffällig, höchstens ein wenig übermütig war; der
unerwartete Frühlingstag konnte das entschuldigen. Niemandem fiel es
ein, sich umzusehen, und nun ging es. Es ging vortrefflich. Freilich
beim nächsten Straßenübergange kamen zwei Hüpfer aus, zwei kleine,
halbunterdrückte Hüpfer, die vollkommen belanglos waren; und der eine,
wirklich sichtbare Sprung war so geschickt angebracht (es lag gerade
ein Spritzschlauch quer über dem Weg), daß nichts zu befürchten war.
Ja, noch ging alles gut; von Zeit zu Zeit griff auch die zweite Hand
an den Stock und preßte ihn fester an, und die Gefahr war gleich
wieder überstanden. Ich konnte nichts dagegen tun, daß meine Angst
dennoch wuchs. Ich wußte, daß, während er ging und mit unendlicher
Anstrengung versuchte, gleichgültig und zerstreut auszusehen, das
furchtbare Zucken in seinem Körper sich anhäufte; auch in mir war die
Angst, mit der er es wachsen und wachsen fühlte, und ich sah, wie er
sich an den Stock klammerte, wenn es innen in ihm zu rütteln begann.
Dann war der Ausdruck dieser Hände so unerbittlich und streng, daß ich
alle Hoffnung in seinen Willen setzte, der groß sein mußte. Aber was
war da ein Wille. Der Augenblick mußte kommen, da seine Kraft zu Ende
war, er konnte nicht weit sein. Und ich, der ich hinter ihm herging
mit stark schlagendem Herzen, ich legte mein bißchen Kraft zusammen
wie Geld, und indem ich auf seine Hände sah, bat ich ihn, er möchte
nehmen, wenn er es brauchte.

Ich glaube, daß er es genommen hat; was konnte ich dafür, daß es nicht
mehr war.

Auf der Place St-Michel waren viele Fahrzeuge und hin und her eilende
Leute, wir waren oft zwischen zwei Wagen und dann holte er Atem und
ließ sich ein wenig gehen, wie um auszuruhen, und ein wenig hüpfte es
und nickte ein wenig. Vielleicht war das die List, mit der die
gefangene Krankheit ihn überwinden wollte. Der Wille war an zwei
Stellen durchbrochen, und das Nachgeben hatte in den besessenen
Muskeln einen leisen, lockenden Reiz zurückgelassen und den zwingenden
Zweitakt. Aber der Stock war noch an seinem Platz, und die Hände
sahen böse und zornig aus; so betraten wir die Brücke, und es ging.
Es ging. Nun kam etwas Unsicheres in den Gang, nun lief er zwei
Schritte, und nun stand er. Stand. Die linke Hand löste sich leise
vom Stock ab und hob sich so langsam empor, daß ich sie vor der Luft
zittern sah; er schob den Hut ein wenig zurück und strich sich über
die Stirn. Er wandte ein wenig den Kopf, und sein Blick schwankte
über Himmel, Häuser und Wasser hin, ohne zu fassen, und dann gab er
nach. Der Stock war fort, er spannte die Arme aus, als ob er
auffliegen wollte, und es brach aus ihm aus wie eine Naturkraft und
bog ihn vor und riß ihn zurück und ließ ihn nicken und neigen und
schleuderte Tanzkraft aus ihm heraus unter die Menge. Denn schon
waren viele Leute um ihn, und ich sah ihn nicht mehr.

Was hätte es für einen Sinn gehabt, noch irgendwohin zu gehen, ich war
leer. Wie ein leeres Papier trieb ich an den Häusern entlang, den
Boulevard wieder hinauf.




Ein Briefentwurf.

Ich versuche es, Dir zu schreiben, obwohl es eigentlich nichts giebt
nach einem notwendigen Abschied. Ich versuche es dennoch, ich glaube,
ich muß es tun, weil ich die Heilige gesehen habe im Pantheon, die
einsame, heilige Frau und das Dach und die Tür und drin die Lampe mit
dem bescheidnen Lichtkreis und drüben die schlafende Stadt und den
Fluß und die Ferne im Mondschein. Die Heilige wacht über der
schlafenden Stadt. Ich habe geweint. Ich habe geweint, weil das
alles auf einmal so unerwartet da war. Ich habe davor geweint, ich
wußte mir nicht zu helfen.


Ich bin in Paris, die es hören freuen sich, die meisten beneiden mich.
Sie haben recht. Es ist eine große Stadt, groß, voll merkwürdiger
Versuchungen. Was mich betrifft, ich muß zugeben, daß ich ihnen in
gewisser Beziehung erlegen bin. Ich glaube, es läßt sich nicht anders
sagen. Ich bin diesen Versuchungen erlegen, und das hat gewisse
Veränderungen zur Folge gehabt, wenn nicht in meinem Charakter, so
doch in meiner Weltanschauung, jedenfalls in meinem Leben. Eine
vollkommen andere Auffassung aller Dinge hat sich unter diesen
Einflüssen in mir herausgebildet, und es sind gewisse Unterschiede da,
die mich von den Menschen mehr als alles Bisherige abtrennen. Eine
veränderte Welt. Ein neues Leben voll neuer Bedeutungen. Ich habe es
augenblicklich etwas schwer, weil alles zu neu ist. Ich bin ein
Anfänger in meinen eigenen Verhältnissen.

Ob es nicht möglich wäre, einmal das Meer zu sehen?

Ja, aber denke nur, ich bildete mir ein, Du könntest kommen. Hättest
Du mir vielleicht sagen können, ob es einen Arzt giebt? Ich habe
vergessen, mich danach zu erkundigen. Übrigens brauche ich es jetzt
nicht mehr.

Erinnerst Du Dich an Baudelaires unglaubliches Gedicht 'Une Charogne'?
Es kann sein, daß ich es jetzt verstehe. Abgesehen von der letzten
Strophe war er im Recht. Was sollte er tun, da ihm das widerfuhr? Es
war seine Aufgabe, in diesem Schrecklichen, scheinbar nur
Widerwärtigen das Seiende zu sehen, das unter allem Seienden gilt.
Auswahl und Ablehnung giebt es nicht. Hältst Du es für einen Zufall,
daß Flaubert seinen Saint-Julien-l'Hospitalier geschrieben hat? Es
kommt mir vor, als wäre das das Entscheidende: ob einer es über sich
bringt, sich zu dem Aussätzigen zu legen und ihn zu erwärmen mit der
Herzwärme der Liebesnächte, das kann nicht anders als gut ausgehen.

Glaube nur nicht, daß ich hier an Enttäuschungen leide, im Gegenteil.
Es wundert mich manchmal, wie bereit ich alles Erwartete aufgebe für
das Wirkliche, selbst wenn es arg ist.

Mein Gott, wenn etwas davon sich teilen ließe. Aber wäre es dann,
wäre es dann? Nein, es ist nur um den Preis des Alleinseins.

Die Existenz des Entsetzlichen in jedem Bestandteil der Luft. Du
atmest es ein mit Durchsichtigem; in dir aber schlägt es sich nieder,
wird hart, nimmt spitze, geometrische Formen an zwischen den Organen;
denn alles, was sich an Qual und Grauen begeben hat auf den Richt
plätzen, in den Folterstuben, den Tollhäusern, den Operationssälen,
unter den Brückenbögen im Nachherbst: alles das ist von einer zähen
Unvergänglichkeit, alles das besteht auf sich und hängt, eifersüchtig
auf alles Seiende, an seiner schrecklichen Wirklichkeit. Die Menschen
möchten vieles davon vergessen dürfen; ihr Schlaf feilt sanft über
solche Furchen im Gehirn, aber Träume drängen ihn ab und ziehen die
Zeichnungen nach. Und sie wachen auf und keuchen und lassen einer
Kerze Schein sich auflösen in der Finsternis und trinken, wie
gezuckertes Wasser, die halbhelle Beruhigung. Aber, ach, auf welcher
Kante hält sich diese Sicherheit. Nur eine geringste Wendung, und
schon wieder steht der Blick über Bekanntes und Freundliches hinaus,
und der eben noch so tröstliche Kontur wird deutlicher als ein Rand
von Grauen. Hüte dich vor dem Licht, das den Raum hohler macht; sieh
dich nicht um, ob nicht vielleicht ein Schatten hinter deinem
Aufsitzen aufsteht wie dein Herr. Besser vielleicht, du wärest in der
Dunkelheit geblieben und dein unabgegrenztes Herz hätte versucht, all
des Ununterscheidbaren schweres Herz zu sein. Nun hast du dich
zusammengenommen in dich, siehst dich vor dir aufhören in deinen
Händen, ziehst von Zeit zu Zeit mit einer ungenauen Bewegung dein
Gesicht nach. Und in dir ist beinah kein Raum; und fast stillt es
dich, daß in dieser Engheit in dir unmöglich sehr Großes sich
aufhalten kann; daß auch das Unerhörte binnen werden muß und sich
beschränken den Verhältnissen nach. Aber draußen, draußen ist es ohne
Absehen; und wenn es da draußen steigt, so füllt es sich auch in dir,
nicht in den Gefäßen, die teilweise in deiner Macht sind, oder im
Phlegma deiner gleichmütigen Organe: im Kapillaren nimmt es zu, röhrig
aufwärts gesaugt in die äußersten Verästelungen deines
zahlloszweigigen Daseins. Dort hebt es sich, dort übersteigt es dich,
kommt höher als dein Atem, auf den du dich hinaufflüchtest wie auf
deine letzte Stelle. Ach, und wohin dann, wohin dann? Dein Herz
treibt dich aus dir hinaus, dein Herz ist hinter dir her, und du
stehst fast schon außer dir und kannst nicht mehr zurück. Wie ein
Käfer, auf den man tritt, so quillst du aus dir hinaus, und dein
bißchen obere Härte und Anpassung ist ohne Sinn.

O Nacht ohne Gegenstände. O stumpfes Fenster hinaus, O sorgsam
verschlossene Türen; Einrichtungen von alters her, übernommen,
beglaubigt, nie ganz verstanden. O Stille im Stiegenhaus. Stille aus
den Nebenzimmern, Stille hoch oben an der Decke. O Mutter: o du
Einzige, die alle diese Stille verstellt hat, einst in der Kindheit.
Die sie auf sich nimmt, sagt: erschrick nicht, ich bin es. Die den
Mut hat, ganz in der Nacht diese Stille zu sein für das, was sich
fürchtet, was verkommt vor Furcht. Du zündest ein Licht an, und schon
das Geräusch bist du. Und du hälst es vor dich und sagst: ich bin es,
erschrick nicht. Und du stellst es hin, langsam, und es ist kein
Zweifel: du bist es, du bist das Licht um die gewohnten herzlichen
Dinge, die ohne Hintersinn da sind, gut, einfältig, eindeutig. Und
wenn es unruhigt in der Wand irgendwo, oder einen Schritt macht in den
Dielen: so lächelst du nur, lächelst, lächelst durchsichtig auf hellem
Grund in das bangsame Gesicht, das an dir forscht, als wärst du eins
und unterm Geheimnis mit jedem Halblaut, abgeredet mit ihm und
einverstanden. Gleicht eine Macht deiner Macht in der irdischen
Herrschaft? Sieh, Könige liegen und starren, und der
Geschichtenerzähler kann sie nicht ablenken. An den seligen Brüsten
ihrer Lieblingin überkriecht sie das Grauen und macht sie schlottrig
und lustlos. Du aber kommst und hältst das Ungeheuere hinter dir und
bist ganz und gar vor ihm; nicht wie ein Vorhang, den es da oder da
aufschlagen kann. Nein, als hättest du es überholt auf den Ruf hin,
der dich bedurfte. Als wärest du weit allem zuvorgekommen, was kommen
kann, und hättest im Rücken nur dein Hereilen, deinen ewigen Weg, den
Flug deiner Liebe.

Der Mouleur, an dem ich jeden Tag vorüberkomme, hat zwei Masken neben
seiner Tür ausgehängt. Das Gesicht der jungen Ertränkten, das man in
der Morgue abnahm, weil es schön war, weil es lächelte, weil es so
täuschend lächelte, als wüßte es. Und darunter sein wissendes Gesicht.
Diesen harten Knoten aus fest zusammengezogenen Sinnen. Diese
unerbittliche Selbstverdichtung fortwährend ausdampfen wollender Musik.
Das Antlitz dessen, dem ein Gott das Gehör verschlossen hat, damit
es keine Klänge gäbe, außer seinen. Damit er nicht beirrt würde durch
das Trübe und Hinfällige der Geräusche. Er, in dem ihre Klarheit und
Dauer war; damit nur die tonlosen Sinne ihm Welt eintrügen, lautlos,
eine gespannte, wartende Welt, unfertig, vor der Erschaffung des
Klanges.

Weltvollendender: wie, was als Regen fällt über die Erde und an die
Gewässer, nachlässig niederfällt, zufällig fallend, - unsichtbarer und
froh von Gesetz wieder aufstehend aus allem und steigt und schwebt und
die Himmel bildet: so erhob sich aus dir der Aufstieg unserer
Niederschläge und umwölbte die Welt mit Musik.

Deine Musik: daß sie hätte um die Welt sein dürfen; nicht um uns. Daß
man dir ein Hammerklavier erbaut hätte in der Thebaïs; und ein Engel
hätte dich hingeführt vor das einsame Instrument, durch die Reihen der
Wüstengebirge, in denen Könige ruhen und Hetären und Anachoreten. Und
er hätte sich hoch geworfen und fort, ängstlich, daß du begännest.

Und dann hättest du ausgeströmt, Strömender, ungehört; an das All
zurückgebend, was nur das All erträgt. Die Beduinen wären in der
Ferne vorbeigejagt, abergläubisch; die Kaufleute aber hätten sich
hingeworfen am Rande deiner Musik, als wärst du der Sturm. Einzelne
Löwen nur hätten dich weit bei Nacht umkreist, erschrocken vor sich
selbst, von ihrem bewegten Blute bedroht.

Denn wer holt dich jetzt aus den Ohren zurück, die lüstern sind? Wer
treibt sie aus den Musiksälen, die Käuflichen mit dem unfruchtbaren
Gehör, das hurt und niemals empfängt? Da strahlt Samen aus, und sie
halten sich unter wie Dirnen und spielen damit, oder er fällt, während
sie daliegen in ihren ungetanen Befriedigungen, wie Samen Onans
zwischen sie alle.

Wo aber, Herr, ein Jungfräulicher unbeschlafenen Ohrs läge bei deinem
Klang: er stürbe an Seligkeit oder er trüge Unendliches aus und sein
befruchtetes Hirn müßte bersten an lauter Geburt.

Ich unterschätze es nicht. Ich weiß, es gehört Mut dazu. Aber nehmen
wir für einen Augenblick an, es hätte ihn einer, diesen Courage de
luxe, ihnen nachzugehen, um dann für immer (denn wer könnte das wieder
vergessen oder verwechseln?) zu wissen, wo sie hernach hineinkriechen
und was sie den vielen übrigen Tag beginnen und ob sie schlafen bei
Nacht. Dies ganz besonders wäre festzustellen: ob sie schlafen. Aber
mit dem Mut ist es noch nicht getan. Denn sie kommen und gehen nicht
wie die übrigen Leute, denen zu folgen eine Kleinigkeit wäre. Sie
sind da und wieder fort, hingestellt und weggenommen wie Bleisoldaten.
Es sind ein wenig abgelegene Stellen, wo man sie findet, aber
durchaus nicht versteckte. Die Büsche treten zurück, der Weg wendet
sich ein wenig um den Rasenplatz herum: da stehen sie und haben eine
Menge durchsichtigen Raumes um sich, als ob sie unter einem Glassturz
stünden. Du könntest sie für nachdenkliche Spaziergänger halten,
diese unscheinbaren Männer von kleiner, in jeder Beziehung
bescheidener Gestalt. Aber du irrst. Siehst du die linke Hand, wie
sie nach etwas greift in der schiefen Tasche des alten Überziehers;
wie sie es findet und herausholt und den kleinen Gegenstand linkisch
und auffällig in die Luft hält? Es dauert keine Minute, so sind zwei,
drei Vögel da, Spatzen, die neugierig heranhüpfen. Und wenn es dem
Manne gelingt, ihrer sehr genauen Auffassung von Unbeweglichkeit zu
entsprechen, so ist kein Grund, warum sie nicht noch näher kommen
sollen. Und schließlich steigt der erste und schwirrt eine Weile
nervös in der Höhe jener Hand, die (weiß Gott) ein kleines Stück
abgenutzten süßen Brotes mit anspruchslosen, ausdrücklich
verzichtenden Fingern hinbietet. Und je mehr Menschen sich um ihn
sammeln, in entsprechendem Abstand natürlich, desto weniger hat er mit
ihnen gemein. Wie ein Leuchter steht er da, der ausbrennt, und
leuchtet mit dem Rest von Docht und ist ganz warm davon und hat sich
nie gerührt. Und wie er lockt, wie er anlockt, das können die vielen,
kleinen, dummen Vögel gar nicht beurteilen. Wenn die Zuschauer nicht
wären und man ließe ihn lange genug dastehen, ich bin sicher, daß auf
einmal ein Engel käme und überwände sich und äße den alten, süßlichen
Bissen aus der verkümmerten Hand. Dem sind nun, wie immer, die Leute
im Wege. Sie sorgen dafür, daß nur Vögel kommen; sie finden das
reichlich, und sie behaupten, er erwarte sich nichts anderes. Was
sollte sie auch erwarten, diese alte, verregnete Puppe, die ein wenig
schräg in der Erde steckt wie die Schiffsfiguren in den kleinen Gärten
zuhause; kommt auch bei ihr diese Haltung davon her, daß sie einmal
irgendwo vorne gestanden hat auf ihrem Leben, wo die Bewegung am
größten ist? Ist sie nun so verwaschen, weil sie einmal bunt war?
Willst du sie fragen?

Nur die Frauen frag nichts, wenn du eine füttern siehst. Denen könnte
man sogar folgen; sie tun es so im Vorbeigehen; es wäre ein Leichtes.
Aber laß sie. Sie wissen nicht, wie es kam. Sie haben auf einmal
eine Menge Brot in ihrem Handsack, und sie halten große Stücke hinaus
aus ihrer dünnen Mantille, Stücke, die ein bißchen gekaut sind und
feucht. Das tut ihnen wohl, daß ihr Speichel ein wenig in die Welt
kommt, daß die kleinen Vögel mit diesem Beigeschmack herumfliegen,
wenn sie ihn natürlich auch gleich wieder vergessen.

Da saß ich an deinen Büchern, Eigensinniger, und versuchte sie zu
meinen wie die andern, die dich nicht beisammen lassen und sich ihren
Anteil genommen haben, befriedigt. Denn da begriff ich noch nicht den
Ruhm, diesen öffentlichen Abbruch eines Werdenden, in dessen Bauplatz
die Menge einbricht, ihm die Steine verschiebend.

Junger Mensch irgendwo, in dem etwas aufsteigt, was ihn erschauern
macht, nütz es, daß dich keiner kennt. Und wenn sie dir widersprechen,
die dich für nichts nehmen, und wenn sie dich ganz aufgeben, die, mit
denen du umgehst, und wenn sie dich ausrotten wollen, um deiner lieben
Gedanken willen, was ist diese deutliche Gefahr, die dich zusammenhält
in dir, gegen die listige Feindschaft später des Ruhms, die dich
unschädlich macht, indem sie dich ausstreut.

Bitte keinen, daß er von dir spräche, nicht einmal verächtlich. Und
wenn die Zeit geht und du merkst, wie dein Name herumkommt unter den
Leuten, nimm ihn nicht ernster als alles, was du in ihrem Munde
findest. Denk: er ist schlecht geworden, und tu ihn ab. Nimm einen
andern an, irgendeinen, damit Gott dich rufen kann in der Nacht. Und
verbirg ihn vor allen.

Du Einsamster, Abseitiger, wie haben sie dich eingeholt auf deinem
Ruhm. Wie lang ist es her, da waren sie wider dich von Grund aus, und
jetzt gehen sie mit dir um, wie mit ihresgleichen. Und deine Worte
führen sie mit sich in den Käfigen ihres Dünkels und zeigen sie auf
den Plätzen und reizen sie ein wenig von ihrer Sicherheit aus. Alle
deine schrecklichen Raubtiere.

Da las ich dich erst, da sie mir ausbrachen und mich anfielen in
meiner Wüste, die Verzweifelten. Verzweifelt, wie du selber warst am
Schluß, du, dessen Bahn falsch eingezeichnet steht in allen Karten.
Wie ein Sprung geht sie durch die Himmel, diese hoffnungslose Hyperbel
deines Weges, die sich nur einmal heranbiegt an uns und sich entfernt
voll Entsetzen. Was lag dir daran, ob eine Frau bleibt oder fortgeht
und ob einen der Schwindel ergreift und einen der Wahnsinn und ob Tote
lebendig sind und Lebendige scheintot: was lag dir daran? Dies alles
war so natürlich für dich; da gingst du durch, wie man durch einen
Vorraum geht, und hieltst dich nicht auf. Aber dort weiltest du und
warst gebückt, wo unser Geschehen kocht und sich niederschlägt und die
Farbe verändert, innen. Innerer als dort, wo je einer war; eine Tür
war dir aufgesprungen, und nun warst du bei den Kolben im Feuerschein.
Dort, wohin du nie einen mitnahmst, Mißtrauischer, dort saßest du und
unterschiedest Übergänge. Und dort, weil das Aufzeigen dir im Blute
war und nicht das Bilden oder das Sagen, dort faßtest du den
ungeheuren Entschluß, dieses Winzige, das du selber zuerst nur durch
Gläser gewahrtest, ganz allein gleich so zu vergrößern, daß es vor
Tausenden sei, riesig, vor allen. Dein Theater entstand. Du konntest
nicht warten, daß dieses fast raumlose von den Jahrhunderten zu
Tropfen zusammengepreßte Leben von den anderen Künsten gefunden und
allmählich versichtbart werde für einzelne, die sich nach und nach
zusammenfinden zur Einsicht und die endlich verlangen, gemeinsam die
erlauchten Gerüchte bestätigt zu sehen im Gleichnis der vor ihnen
aufgeschlagenen Szene. Dies konntest du nicht abwarten, du warst da,
du mußtest das kaum Meßbare: ein Gefühl, das um einen halben Grad
stieg, den Ausschlagswinkel eines von fast nichts beschwerten Willens,
den du ablasest von ganz nah, die leichte Trübung in einem Tropfen
Sehnsucht und dieses Nichts von Farbenwechsel in einem Atom von
Zutrauen: dieses mußtest du feststellen und aufbehalten; denn in
solchen Vorgängen war jetzt das Leben, unser Leben, das in uns
hineingeglitten war, das sich nach innen zurückgezogen hatte, so tief,
daß es kaum noch Vermutungen darüber gab.

So wie du warst, auf das Zeigen angelegt, ein zeitlos tragischer
Dichter, mußtest du dieses Kapillare mit einem Schlag umsetzen in die
überzeugendsten Gebärden, in die vorhandensten Dinge. Da gingst du an
die beispiellose Gewalttat deines Werkes, das immer ungeduldiger,
immer verzweifelter unter dem Sichtbaren nach den Äquivalenten suchte
für das innen Gesehene. Da war ein Kaninchen, ein Bodenraum, ein Saal,
in dem einer auf und nieder geht: da war ein Glasklirren im
Nebenzimmer, ein Brand vor den Fenstern, da war die Sonne. Da war
eine Kirche und ein Felsental, das einer Kirche glich. Aber das
reichte nicht aus; schließlich mußten die Türme herein und die ganzen
Gebirge; und die Lawinen, die die Landschaften begraben, verschütteten
die mit Greifbarem überladene Bühne um des Unfaßlichen willen. Da
konntst du nicht mehr. Die beiden Enden, die du zusammengebogen
hattest, schnellten aus einander; deine wahnsinnige Kraft entsprang
aus dem elastischen Stab, und dein Werk war wie nicht.

Wer begriffe es sonst, daß du zum Schluß nicht vom Fenster
fortwolltest, eigensinnig wie du immer warst. Die Vorübergehenden
wolltest du sehen; denn es war dir der Gedanke gekommen, ob man nicht
eines Tages etwas machen könnte aus ihnen, wenn man sich entschlösse
anzufangen.

Damals zuerst fiel es mir auf, daß man von einer Frau nichts sagen
könne; ich merkte, wenn sie von ihr erzählten, wie sie sie aussparten,
wie sie die anderen nannten und beschrieben, die Umgebungen, die
Örtlichkeiten, die Gegenstände bis an eine bestimmte Stelle heran, wo
das alles aufhörte, sanft und gleichsam vorsichtig aufhörte mit dem
leichten, niemals nachgezogenen Kontur, der sie einschloß. Wie war
sie? fragte ich dann. "Blond, ungefähr wie du", sagten sie und
zählten allerhand auf, was sie sonst noch wußten; aber darüber wurde
sie wieder ganz ungenau, und ich konnte mir nichts mehr vorstellen.
Sehen eigentlich konnte ich sie nur, wenn Maman mir die Geschichte
erzählte, die ich immer wieder verlangte - . - Dann pflegte sie
jedesmal, wenn sie zu der Szene mit dem Hunde kam, die Augen zu
schließen und das ganz verschlossene, aber überall durchscheinende
Gesicht irgendwie inständig zwischen ihre beiden Hände zu halten, die
es kalt an den Schläfen berührten. "Ich hab es gesehen, Malte",
beschwor sie: "Ich hab es gesehen." Das war schon in ihren letzten
Jahren, da ich dies von ihr gehört habe. In der Zeit, wo sie
niemanden mehr sehen wollte und wo sie immer, auch auf Reisen, das
kleine, dichte, silberne Sieb bei sich hatte, durch das sie alle
Getränke seihte. Speisen von fester Form nahm sie nie mehr zu sich,
es sei denn etwas Biskuit oder Brot, das sie, wenn sie allein war,
zerbröckelte und Krümel für Krümel aß, wie Kinder Krümel essen. Ihre
Angst vor Nadeln beherrschte sie damals schon völlig. Zu den anderen
sagte sie nur, um sich zu entschuldigen: "Ich vertrage rein nichts
mehr, aber es muß euch nicht stören, ich befinde mich ausgezeichnet
dabei." Zu mir aber konnte sie sich plötzlich hinwenden (denn ich war
schon ein bißchen erwachsen) und mit einem Lächeln, das sie sehr
anstrengte, sagen: "Was es doch für viele Nadeln giebt, Malte, und wo
sie überall herumliegen, und wenn man bedenkt, wie leicht sie
herausfallen..." Sie hielt darauf, es recht scherzend zu sagen; aber
das Entsetzen schüttelte sie bei dem Gedanken an alle die schlecht
befestigten Nadeln, die jeden Augenblick irgendwo hineinfallen konnten.


Wenn sie aber von Ingeborg erzählte, dann konnte ihr nichts geschehen;
dann schonte sie sich nicht; dann sprach sie lauter, dann lachte sie
in der Erinnerung an Ingeborgs Lachen, dann sollte man sehen, wie
schön Ingeborg gewesen war. "Sie machte uns alle froh", sagte sie,
"deinen Vater auch, Malte, buchstäblich froh. Aber dann, als es hieß,
daß sie sterben würde, obwohl sie doch nur ein wenig krank schien, und
wir gingen alle herum und verbargen es, da setzte sie sich einmal im
Bette auf und sagte so vor sich hin, wie einer, der hören will, wie
etwas klingt: 'Ihr müßt euch nicht so zusammennehmen; wir wissen es
alle, und ich kann euch beruhigen, es ist gut so wie es kommt, ich mag
nicht mehr.' Stell dir vor, sie sagte: 'Ich mag nicht mehr'; sie, die
uns alle froh machte. Ob du das einmal verstehen wirst, wenn du groß
bist, Malte? Denk daran später, vielleicht fällt es dir ein. Es wäre
ganz gut, wenn es jemanden gäbe, der solche Sachen versteht."

'Solche Sachen' beschäftigten Maman, wenn sie allein war, und sie war
immer allein diese letzten Jahre.

"Ich werde ja nie darauf kommen, Malte", sagte sie manchmal mit ihrem
eigentümlich kühnen Lächeln, das von niemandem gesehen sein wollte und
seinen Zweck ganz erfüllte, indem es gelächelt ward. "Aber daß es
keinen reizt, das herauszufinden; wenn ich ein Mann wäre, ja gerade
wenn ich ein Mann wäre, würde ich darüber nachdenken, richtig der
Reihe und Ordnung nach und von Anfang an. Denn einen Anfang muß es
doch geben, und wenn man ihn zu fassen bekäme, das wäre immer schon
etwas. Ach Malte, wir gehen so hin, und mir kommt vor, daß alle
zerstreut sind und beschäftigt und nicht recht achtgeben, wenn wir
hingehen. Als ob eine Sternschnuppe fiele und es sieht sie keiner und
keiner hat sich etwas gewünscht. Vergiß nie, dir etwas zu wünschen,
Malte. Wünschen, das soll man nicht aufgeben. Ich glaube, es giebt
keine Erfüllung, aber es giebt Wünsche, die lange vorhalten, das ganze
Leben lang, so daß man die Erfüllung doch gar nicht abwarten könnte."

Maman hatte Ingeborgs kleinen Sekretär hinauf in ihr Zimmer stellen
lassen, davor fand ich sie oft, denn ich durfte ohne weiteres bei ihr
eintreten. Mein Schritt verging völlig in dem Teppich, aber sie
fühlte mich und hielt mir eine ihrer Hände über die andere Schulter
hin. Diese Hand war ganz ohne Gewicht, und sie küßte sich fast wie
das elfenbeinerne Kruzifix, das man mir abends vor dem Einschlafen
reichte. An diesem niederen Schreibschrank, der mit einer Platte sich
vor ihr aufschlug, saß sie wie an einem Instrument. "Es ist so viel
Sonne drin", sagte sie, und wirklich, das Innere war merkwürdig hell,
von altem, gelbem Lack, auf dem Blumen gemalt waren, immer eine rote
und eine blaue. Und wo drei nebeneinanderstanden, gab es eine
violette zwischen ihnen, die die beiden anderen trennte. Diese Farben
und das Grün des schmalen, waagerechten Rankenwerks waren ebenso
verdunkelt in sich, wie der Grund strahlend war, ohne eigentlich klar
zu sein. Das ergab ein seltsam gedämpftes Verhältnis von Tönen, die
in innerlichen gegenseitigen Beziehungen standen, ohne sich über sie
auszusprechen.

Maman zog die kleinen Laden heraus, die alle leer waren.

"Ach, Rosen", sagte sie und hielt sich ein wenig vor in den trüben
Geruch hinein, der nicht alle wurde. Sie hatte dabei immer die
Vorstellung, es könnte sich plötzlich noch etwas finden in einem
geheimen Fach, an das niemand gedacht hatte und das nur dem Druck
irgendeiner versteckten Feder nachgab. "Auf einmal springt es vor, du
sollst sehen", sagte sie ernst und ängstlich und zog eilig an allen
Laden. Was aber wirklich an Papieren in den Fächern zurückgeblieben
war, das hatte sie sorgfältig zusammengelegt und eingeschlossen, ohne
es zu lesen. "Ich verstünde es doch nicht, Malte, es wäre sicher zu
schwer für mich." Sie hatte die Überzeugung, daß alles zu kompliziert
für sie sei. "Es giebt keine Klassen im Leben für Anfänger, es ist
immer gleich das Schwierigste, was von einem verlangt wird." Man
versicherte mir, daß sie erst seit dem schrecklichen Tode ihrer
Schwester so geworden sei, der Gräfin Öllegaard Skeel, die verbrannte,
da sie sich vor einem Balle am Leuchterspiegel die Blumen im Haar
anders anstecken wollte. Aber in letzter Zeit schien ihr doch
Ingeborg das, was am schwersten zu begreifen war.

Und nun will ich die Geschichte aufschreiben, so wie Maman sie erzählte,
wenn ich darum bat.

Es war mitten im Sommer, am Donnerstag nach Ingeborgs Beisetzung. Von
dem Platze auf der Terrasse, wo der Tee genommen wurde, konnte man den
Giebel des Erbbegräbnisses sehen zwischen den riesigen Ulmen hin. Es
war so gedeckt worden, als ob nie eine Person mehr an diesem Tisch
gesessen hätte, und wir saßen auch alle recht ausgebreitet herum. Und
jeder hatte etwas mitgebracht, ein Buch oder einen Arbeitskorb, so daß
wir sogar ein wenig beengt waren. Abelone (Mamans jüngste Schwester)
verteilte den Tee, und alle waren beschäftigt, etwas herumzureichen,
nur dein Großvater sah von seinem Sessel aus nach dem Hause hin. Es
war die Stunde, da man die Post erwartete, und es fügte sich meistens
so, daß Ingeborg sie brachte, die mit den Anordnungen für das Essen
länger drin zurückgehalten war. In den Wochen ihrer Krankheit hatten
wir nun reichlich Zeit gehabt, uns ihres Kommens zu entwöhnen; denn
wir wußten ja, daß sie nicht kommen könne. Aber an diesem Nachmittag,
Malte, da sie wirklich nicht mehr kommen konnte - : da kam sie.
Vielleicht war es unsere Schuld; vielleicht haben wir sie gerufen.
Denn ich erinnere mich, daß ich auf einmal dasaß und angestrengt war,
mich zu besinnen, was denn eigentlich nun anders sei. Es war mir
plötzlich nicht möglich zu sagen, was; ich hatte es völlig vergessen.
Ich blickte auf und sah alle andern dem Hause zugewendet, nicht etwa
auf eine besondere, auffällige Weise, sondern so recht ruhig und
alltäglich in ihrer Erwartung. Und da war ich daran - (mir wird ganz
kalt, Malte, wenn ich es denke) aber, Gott behüt mich, ich war daran
zu sagen: "Wo bleibt nur - " Da schoß schon Cavalier, wie er immer tat,
unter dem Tisch hervor und lief ihr entgegen. Ich hab es gesehen,
Malte, ich hab es gesehen. Er lief ihr entgegen, obwohl sie nicht kam;
für ihn kam sie. Wir begriffen, daß er ihr entgegenlief. Zweimal
sah er sich nach uns um, als ob er fragte. Dann raste er auf sie zu,
wie immer, Malte, genau wie immer, und erreichte sie; denn er begann
rund herum zu springen, Malte, um etwas, was nicht da war, und dann
hinauf an ihr, um sie zu lecken, gerade hinauf. Wir hörten ihn
winseln vor Freude, und wie er so in die Höhe schnellte, mehrmals
rasch hintereinander, hätte man wirklich meinen können, er verdecke
sie uns mit seinen Sprüngen. Aber da heulte es auf einmal, und er
drehte sich von seinem eigenen Schwunge in der Luft um und stürzte
zurück, merkwürdig ungeschickt, und lag ganz eigentümlich flach da und
rührte sich nicht. Von der andern Seite trat der Diener aus dem Hause
mit den Briefen. Er zögerte eine Weile; offenbar war es nicht ganz
leicht, auf unsere Gesichter zuzugehen. Und dein Vater winkte ihm
auch schon, zu bleiben. Dein Vater, Malte, liebte keine Tiere; aber
nun ging er doch hin, langsam wie mir schien, und bückte sich über den
Hund. Er sagte etwas zu dem Diener, irgend etwas Kurzes, Einsilbiges.
Ich sah, wie der Diener hinzusprang, um Cavalier aufzuheben. Aber da
nahm dein Vater selbst das Tier und ging damit, als wüßte er genau
wohin, ins Haus hinein.

Einmal, als es über dieser Erzählung fast dunkel geworden war, war ich
nahe daran, Maman von der 'Hand' zu erzählen: in diesem Augenblick
hätte ich es gekonnt. Ich atmete schon auf, um anzufangen, aber da
fiel mir ein, wie gut ich den Diener begriffen hatte, daß er nicht
hatte kommen können auf ihre Gesichter zu. Und ich fürchtete mich
trotz der Dunkelheit vor Mamans Gesicht, wenn es sehen würde, was ich
gesehen habe. Ich holte rasch noch einmal Atem, damit es den Anschein
habe, als hätte ich nichts anderes gewollt. Ein paar Jahre hernach,
nach der merkwürdigen Nacht in der Galerie auf Urnekloster, ging ich
tagelang damit um, mich dem kleinen Erik anzuvertrauen. Aber er hatte
sich nach unserem nächtlichen Gespräch wieder ganz vor mir
zugeschlossen, er vermied mich; ich glaube, daß er mich verachtete.
Und gerade deshalb wollte ich ihm von der 'Hand' erzählen. Ich
bildete mir ein, ich würde in seiner Meinung gewinnen (und das
wünschte ich dringend aus irgendeinem Grunde), wenn ich ihm
begreiflich machen könnte, daß ich das wirklich erlebt hatte. Erik
aber war so geschickt im Ausweichen, daß es nicht dazu kam. Und dann
reisten wir ja auch gleich. So ist es, wunderlich genug, das erstemal,
daß ich (und schließlich auch nur mir selber) eine Begebenheit
erzähle, die nun weit zurückliegt in meiner Kindheit.

Wie klein ich damals noch gewesen sein muß, sehe ich daran, daß ich
auf dem Sessel kniete, um bequem auf den Tisch hinaufzureichen, auf
dem ich zeichnete. Es war am Abend, im Winter, wenn ich nicht irre,
in der Stadtwohnung. Der Tisch stand in meinem Zimmer, zwischen den
Fenstern, und es war keine Lampe im Zimmer, als die, die auf meine
Blätter schien und auf Mademoiselles Buch; denn Mademoiselle saß neben
mir, etwas zurückgerückt, und las. Sie war weit weg, wenn sie las,
ich weiß nicht, ob sie im Buche war; sie konnte lesen, stundenlang,
sie blätterte selten um, und ich hatte den Eindruck, als würden die
Seiten immer voller unter ihr, als schaute sie Worte hinzu, bestimmte
Worte, die sie nötig hatte und die nicht da waren. Das kam mir so vor,
während ich zeichnete. Ich zeichnete langsam, ohne sehr entschiedene
Absicht, und sah alles, wenn ich nicht weiter wußte, mit ein wenig
nach rechts geneigtem Kopfe an; so fiel mir immer am raschesten ein,
was noch fehlte. Es waren Offiziere zu Pferd, die in die Schlacht
ritten, oder sie waren mitten drin, und das war viel einfacher, weil
dann fast nur der Rauch zu machen war, der alles einhüllte. Maman
freilich behauptet nun immer, daß es Inseln gewesen waren, was ich
malte; Inseln mit großen Bäumen und einem Schloß und einer Treppe und
Blumen am Rand, die sich spiegeln sollten im Wasser. Aber ich glaube,
das erfindet sie, oder es muß später gewesen sein.

Es ist ausgemacht, daß ich an jenem Abend einen Ritter zeichnete,
einen einzelnen, sehr deutlichen Ritter auf einem merkwürdig
bekleideten Pferd. Er wurde so bunt, daß ich oft die Stifte wechseln
mußte, aber vor allem kam doch der rote in Betracht, nach dem ich
immer wieder griff. Nun hatte ich ihn noch einmal nötig; da rollte er
(ich sehe ihn noch) quer über das beschienene Blatt an den Rand und
fiel, ehe ichs verhindern konnte, an mir vorbei hinunter und war fort.
Ich brauchte ihn wirklich dringend, und es war recht ärgerlich, ihm
nun nachzuklettern. Ungeschickt, wie ich war, kostete es mich
allerhand Veranstaltungen, hinunterzukommen; meine Beine schienen mir
viel zu lang, ich konnte sie nicht unter mir hervorziehen; die zu
lange ein gehaltene knieende Stellung hatte meine Glieder dumpf
gemacht; ich wußte nicht, was zu mir und was zum Sessel gehörte.
Endlich kam ich doch, etwas konfus, unten an und befand mich auf einem
Fell, das sich unter dem Tisch bis gegen die Wand hinzog. Aber da
ergab sich eine neue Schwierigkeit. Eingestellt auf die Helligkeit da
oben und noch ganz begeistert für die Farben auf dem weißen Papier,
vermochten meine Augen nicht das geringste unter dem Tisch zu erkennen,
wo mir das Schwarze so zugeschlossen schien, daß ich bange war, daran
zu stoßen. Ich verließ mich also auf mein Gefühl und kämmte, knieend
und auf die linke gestützt, mit der andern Hand in dem kühlen,
langhaarigen Teppich herum, der sich recht vertraulich anfühlte; nur
daß kein Bleistift zu spüren war. Ich bildete mir ein, eine Menge
Zeit zu verlieren, und wollte eben schon Mademoiselle anrufen und sie
bitten, mir die Lampe zu halten, als ich merkte, daß für meine
unwillkürlich angestrengten Augen das Dunkel nach und nach
durchsichtiger wurde. Ich konnte schon hinten die Wand unterscheiden,
die mit einer hellen Leiste abschloß; ich orientierte mich über die
Beine des Tisches; ich erkannte vor allem meine eigene, ausgespreizte
Hand, die sich ganz allein, ein bißchen wie ein Wassertier, da unten
bewegte und den Grund untersuchte. Ich sah ihr, weiß ich noch, fast
neugierig zu; es kam mir vor, als könnte sie Dinge, die ich sie nicht
gelehrt hatte, wie sie da unten so eigenmächtig herumtastete mit
Bewegungen, die ich nie an ihr beobachtet hatte. Ich verfolgte sie,
wie sie vordrang, es interessierte mich, ich war auf allerhand
vorbereitet. Aber wie hätte ich darauf gefaßt sein sollen, daß ihr
mit einem Male aus der Wand eine andere Hand entgegenkam, eine größere,
ungewöhnlich magere Hand, wie ich noch nie eine gesehen hatte. Sie
suchte in ähnlicher Weise von der anderen Seite her, und die beiden
gespreizten Hände bewegten sich blind aufeinander zu. Meine Neugierde
war noch nicht aufgebraucht, aber plötzlich war sie zu Ende, und es
war nur Grauen da. Ich fühlte, daß die eine von den Händen mir
gehörte und daß sie sich da in etwas einließ, was nicht wieder
gutzumachen war. Mit allem Recht, das ich auf sie hatte, hielt ich
sie an und zog sie flach und langsam zurück, indem ich die andere
nicht aus den Augen ließ, die weitersuchte. Ich begriff, daß sie es
nicht aufgeben würde, ich kann nicht sagen, wie ich wieder hinaufkam.
Ich saß ganz tief im Sessel, die Zähne schlugen mir aufeinander, und
ich hatte so wenig Blut im Gesicht, daß mir schien, es wäre kein Blau
mehr in meinen Augen. Mademoiselle - , wollte ich sagen und konnte es
nicht, aber da erschrak sie von selbst, sie warf ihr Buch hin und
kniete sich neben den Sessel und rief meinen Namen; ich glaube, daß
sie mich rüttelte. Aber ich war ganz bei Bewußtsein. Ich schluckte
ein paarmal; denn nun wollte ich es erzählen.

Aber wie? Ich nahm mich unbeschreiblich zusammen, aber es war nicht
auszudrücken, so daß es einer begriff. Gab es Worte für dieses
Ereignis, so war ich zu klein, welche zu finden. Und plötzlich
ergriff mich die Angst, sie könnten doch, über mein Alter hinaus, auf
einmal da sein, diese Worte, und es schien mir fürchterlicher als
alles, sie dann sagen zu müssen. Das Wirkliche da unten noch einmal
durchzumachen, anders, abgewandelt, von Anfang an; zu hören, wie ich
es zugebe, dazu hatte ich keine Kraft mehr.

Es ist natürlich Einbildung, wenn ich nun behaupte, ich hätte in jener
Zeit schon gefühlt, daß da etwas in mein Leben gekommen sei, geradeaus
in meines, womit ich allein würde herumgehen müssen, immer und immer.
Ich sehe mich in meinem kleinen Gitterbett liegen und nicht schlafen
und irgendwie ungenau voraussehen, daß so das Leben sein würde: voll
lauter besonderer Dinge, die nur für Einen gemeint sind und die sich
nicht sagen lassen. Sicher ist, daß sich nach und nach ein trauriger
und schwerer Stolz in mir erhob. Ich stellte mir vor, wie man
herumgehen würde, voll von Innerem und schweigsam. Ich empfand eine
ungestüme Sympathie für die Erwachsenen; ich bewunderte sie, und ich
nahm mir vor, ihnen zu sagen, daß ich sie bewunderte. Ich nahm mir
vor, es Mademoiselle zu sagen bei der nächsten Gelegenheit.

Und dann kam eine von diesen Krankheiten, die darauf ausgingen, mir zu
beweisen, daß dies nicht das erste eigene Erlebnis war. Das Fieber
wühlte in mir und holte von ganz unten Erfahrungen, Bilder, Tatsachen
heraus, von denen ich nicht gewußt hatte; ich lag da, überhäuft mit
mir, und wartete auf den Augenblick, da mir befohlen würde, dies alles
wieder in mich hineinzuschichten, ordentlich, der Reihe nach. Ich
begann, aber es wuchs mir unter den Händen, es sträubte sich, es war
viel zu viel. Dann packte mich die Wut, und ich warf alles in Haufen
in mich hinein und preßte es zusammen; aber ich ging nicht wieder
darüber zu. Und da schrie ich, halb offen wie ich war, schrie ich und
schrie. Und wenn ich anfing hinauszusehen aus mir, so standen sie
seit lange um mein Bett und hielten mir die Hände, und eine Kerze war
da, und ihre großen Schatten rührten sich hinter ihnen. Und mein
Vater befahl mir, zu sagen, was es gäbe. Es war ein freundlicher,
gedämpfter Befehl, aber ein Befehl war es immerhin. Und er wurde
ungeduldig, wenn ich nicht antwortete.

Maman kam nie in der Nacht - , oder doch, einmal kam sie. Ich hatte
geschrieen und geschrieen, und Mademoiselle war gekommen und Sieversen,
die Haushälterin, und Georg, der Kutscher; aber das hatte nichts
genutzt. Und da hatten sie endlich den Wagen nach den Eltern
geschickt, die auf einem großen Balle waren, ich glaube beim
Kronprinzen. Und auf einmal hörte ich ihn hereinfahren in den Hof,
und ich wurde still, saß und sah nach der Tür. Und da rauschte es ein
wenig in den anderen Zimmern, und Maman kam herein in der großen
Hofrobe, die sie gar nicht in acht nahm, und lief beinah und ließ
ihren weißen Pelz hinter sich fallen und nahm mich in die bloßen Arme.
Und ich befühlte, erstaunt und entzückt wie nie, ihr Haar und ihr
kleines, gepflegtes Gesicht und die kalten Steine an ihren Ohren und
die Seide am Rand ihrer Schultern, die nach Blumen dufteten. Und wir
blieben so und weinten zärtlich und küßten uns, bis wir fühlten, daß
der Vater da war und daß wir uns trennen mußten. "Er hat hohes
Fieber", hörte ich Maman schüchtern sagen, und der Vater griff nach
meiner Hand und zählte den Puls. Er war in der Jägermeisteruniform
mit dem schönen, breiten, gewässerten blauen Band des Elefanten. "Was
für ein Unsinn, uns zu rufen", sagte er ins Zimmer hinein, ohne mich
anzusehen. Sie hatten versprochen, zurückzukehren, wenn es nichts
Ernstliches wäre. Und Ernstliches war es ja nichts. Auf meiner Decke
aber fand ich Mamans Tanzkarte und weiße Kamelien, die ich noch nie
gesehen hatte und die ich mir auf die Augen legte, als ich merkte, wie
kühl sie waren.

Aber was lang war, das waren die Nachmittage in solchen Krankheiten.
Am Morgen nach der schlechten Nacht kam man immer in Schlaf, und wenn
man erwachte und meinte, nun wäre es wieder früh, so war es Nachmittag
und blieb Nachmittag und hörte nicht auf Nachtmittag zu sein. Da lag
man so in dem aufgeräumten Bett und wuchs vielleicht ein wenig in den
Gelenken und war viel zu müde, um sich irgend etwas vorzustellen. Der
Geschmack vom Apfelmus hielt lange vor, und das war schon alles
mögliche, wenn man ihn irgendwie auslegte, unwillkürlich, und die
reinliche Säure an Stelle von Gedanken in sich herumgehen ließ.
Später, wenn die Kräfte wiederkamen, wurden die Kissen hinter einem
aufgebaut, und man konnte aufsitzen und mit Soldaten spielen; aber sie
fielen so leicht um auf dem schiefen Bett-Tisch und dann immer gleich
die ganze Reihe; und man war doch noch nicht so ganz im Leben drin, um
immer wieder von vorn anzufangen. Plötzlich war es zuviel, und man
bat, alles recht rasch fortzunehmen, und es tat wohl, wieder nur die
zwei Hände zu sehen, ein bißchen weiter hin auf der leeren Decke.

Wenn Maman mal eine halbe Stunde kam und Märchen vorlas (zum richtigen,
langen Vorlesen war Sieversen da), so war das nicht um der Märchen
willen. Denn wir waren einig darüber, daß wir Märchen nicht liebten.
Wir hatten einen anderen Begriff vom Wunderbaren. Wir fanden, wenn
alles mit natürlichen Dingen zuginge, so wäre das immer am
wunderbarsten. Wir gaben nicht viel darauf, durch die Luft zu fliegen,
die Feen enttäuschten uns, und von den Verwandlungen in etwas anderes
erwarteten wir uns nur eine sehr oberflächliche Abwechslung. Aber wir
lasen doch ein bißchen, um beschäftigt auszusehen; es war uns nicht
angenehm, wenn irgend jemand eintrat, erst erklären zu müssen, was wir
gerade taten; besonders Vater gegenüber waren wir von einer
übertriebenen Deutlichkeit.

Nur wenn wir ganz sicher waren, nicht gestört zu sein, und es dämmerte
draußen, konnte es geschehen, daß wir uns Erinnerungen hingaben,
gemeinsamen Erinnerungen, die uns beiden alt schienen und über die wir
lächelten; denn wir waren beide groß geworden seither. Es fiel uns
ein, daß es eine Zeit gab, wo Maman wünschte, daß ich ein kleines
Mädchen wäre und nicht dieser Junge, der ich nun einmal war. Ich
hatte das irgendwie erraten, und ich war auf den Gedanken gekommen,
manchmal nachmittags an Mamans Türe zu klopfen. Wenn sie dann fragte,
wer da wäre, so war ich glücklich, draußen "Sophie" zu rufen, wobei
ich meine kleine Stimme so zierlich machte, daß sie mich in der Kehle
kitzelte. Und wenn ich dann eintrat (in dem kleinen, mädchenhaften
Hauskleid, das ich ohnehin trug, mit ganz hinaufgerollten Armeln), so
war ich einfach Sophie, Mamans kleine Sophie, die sich häuslich
beschäftigte und der Maman einen Zopf flechten mußte, damit keine
Verwechslung stattfinde mit dem bösen Malte, wenn er je wiederkäme.
Erwünscht war dies durchaus nicht; es war sowohl Maman wie Sophie
angenehm, daß er fort war, und ihre Unterhaltungen (die Sophie immerzu
mit der gleichen, hohen Stimme fortsetzte) bestanden meistens darin,
daß sie Maltes Unarten aufzählten und sich über ihn beklagten. "Ach
ja, dieser Malte", seufzte Maman. Und Sophie wußte eine Menge über
die Schlechtigkeiten der Jungen im allgemeinen, als kennte sie einen
ganzen Haufen.

"Ich möchte wohl wissen, was aus Sophie geworden ist", sagte Maman
dann plötzlich bei solchen Erinnerungen. Darüber konnte nun Malte
freilich keine Auskunft geben. Aber wenn Maman vorschlug, daß sie
gewiß gestorben sei, dann widersprach er eigensinnig und beschwor sie,
dies nicht zu glauben, so wenig sich sonst auch beweisen ließe.

Mich das jetzt überdenke, kann ich mich wundern, daß ich aus der Welt
dieser Fieber doch immer wieder ganz zurückkam und mich hineinfand in
das überaus gemeinsame Leben, wo jeder im Gefühl unterstützt sein
wollte, bei Bekanntem zu sein, und wo man sich so vorsichtig im
Verständlichen vertrug. Da wurde etwas erwartet, und es kam oder es
kam nicht, ein Drittes war ausgeschlossen. Da gab es Dinge, die
traurig waren, ein - für allemal, es gab angenehme Dinge und eine ganze
Menge nebensächlicher. Wurde aber einem eine Freude bereitet, so war
es eine Freude, und er hatte sich danach zu benehmen. Im Grunde war
das alles sehr einfach, und wenn man es erst heraus hatte, so machte
es sich wie von selbst. In diese verabredeten Grenzen ging denn auch
alles hinein; die langen, gleichmäßigen Schulstunden, wenn draußen der
Sommer war; die Spaziergänge, von denen man französisch erzählen mußte;
die Besuche, für die man hereingerufen wurde und die einen drollig
fanden, wenn man gerade traurig war, und sich an einem belustigten wie
an dem betrübten Gesicht gewisser Vögel, die kein anderes haben. Und
die Geburtstage natürlich, zu denen man Kinder eingeladen bekam, die
man kaum kannte, verlegene Kinder, die einen verlegen machten, oder
dreiste, die einem das Gesicht zerkratzten, und zerbrachen, was man
gerade bekommen hatte, und die dann plötzlich fortfuhren, wenn alles
aus Kästen und Laden herausgerissen war und zu Haufen lag. Wenn man
aber allein spielte, wie immer,so konnte es doch geschehen, daß man
diese vereinbarte, im ganzen harmlose Welt unversehens überschritt und
unter Verhältnisse geriet, die völlig verschieden waren und gar nicht
abzusehen.

Mademoiselle hatte zuzeiten ihre Migräne, die ungemein heftig auftrat,
und das waren die Tage, an denen ich schwer zu finden war. Ich weiß,
der Kutscher wurde dann in den Park geschickt, wenn es Vater einfiel,
nach mir zu fragen, und ich war nicht da. Ich konnte oben von einem
der Gastzimmer aus sehen, wie er hinauslief und am Anfang der langen
Allee nach mir rief. Diese Gastzimmer befanden sich, eines neben dem
anderen, im Giebel von Ulsgaard und standen, da wir in dieser Zeit
sehr selten Hausbesuch hatten, fast immer leer. Anschließend an sie
aber war jener große Eckraum, der eine so starke Verlockung für mich
hatte. Es war nichts darin zu finden als eine alte Büste, die, ich
glaube, den Admiral Juel darstellte, aber die Wände waren ringsum mit
tiefen grauen Wandschränken verschalt, derart, daß sogar das Fenster
erst über den Schränken angebracht war in der leeren, geweißten Wand.
Den Schlüssel hatte ich an einer der Schranktüren entdeckt, und er
schloß alle anderen. So hatte ich in kurzem alles untersucht: die
Kammerherrenfräcke aus dem achtzehnten Jahrhundert, die ganz kalt
waren von den eingewebten Silberfäden, und die schön gestickten Westen
dazu; die Trachten des Dannebrog - und des Elefantenordens, die man
erst für Frauenkleider hielt, so reich und umständlich waren sie und
so sanft im Futter anzufühlen. Dann wirkliche Roben, die, von ihren
Unterlagen auseinander gehalten, steif dahingen wie die Marionetten
eines zu großen Stückes, das so endgültig aus der Mode war, daß man
ihre Köpfe anders verwendet hatte. Daneben aber waren Schränke, in
denen es dunkel war, wenn man sie aufmachte, dunkel von
hochgeschlossenen Uniformen, die viel gebrauchter aussahen als alles
das andere und die eigentlich wünschten, nicht erhalten zu sein.

Niemand wird es verwunderlich finden, daß ich das alles herauszog und
ins Licht neigte; daß ich das und jenes an mich hielt oder umnahm; daß
ich ein Kostüm, welches etwa passen konnte, hastig anzog und darin,
neugierig und aufgeregt, in das nächste Fremdenzimmer lief, vor den
schmalen Pfeilerspiegel, der aus einzelnen ungleich grünen Glasstücken
zusammengesetzt war. Ach, wie man zitterte, drin zu sein, und wie
hinreißend war es, wenn man es war. Wenn da etwas aus dem Trüben
heraus sich näherte, langsamer als man selbst, denn der Spiegel
glaubte es gleichsam nicht und wollte, schläfrig wie er war, nicht
gleich nachsprechen, was man ihm vorsagte. Aber schließlich mußte er
natürlich. Und nun war es etwas sehr Überraschendes, Fremdes, ganz
anders, als man es sich gedacht hatte, etwas Plötzliches,
Selbständiges, das man rasch überblickte, um sich im nächsten
Augenblick doch zu erkennen, nicht ohne eine gewisse Ironie, die um
ein Haar das ganze Vergnügen zerstören konnte. Wenn man aber sofort
zu reden begann, sich zu verbeugen, wenn man sich zuwinkte, sich,
fortwährend zurückblickend, entfernte und dann entschlossen und
angeregt wiederkam, so hatte man die Einbildung auf seiner Seite,
solang es einem gefiel.

Ich lernte damals den Einfluß kennen, der unmittelbar von einer
bestimmten Tracht ausgehen kann. Kaum hatte ich einen dieser Anzüge
angelegt, mußte ich mir eingestehen, daß er mich in seine Macht bekam;
daß er mir meine Bewegungen, meinen Gesichtsausdruck, ja sogar meine
Einfälle vorschrieb; meine Hand, über die die Spitzenmanschette fiel
und wieder fiel, war durchaus nicht meine gewöhnliche Hand; sie
bewegte sich wie ein Akteur, ja, ich möchte sagen, sie sah sich selber
zu, so übertrieben das auch klingt. Diese Verstellungen gingen
indessen nie so weit, daß ich mich mir selber entfremdet fühlte; im
Gegenteil, je vielfältiger ich mich abwandelte, desto überzeugter
wurde ich von mir selbst. Ich wurde kühner und kühner; ich warf mich
immer höher; denn meine Geschicklichkeit im Auffangen war über allen
Zweifel. Ich merkte nicht die Versuchung in dieser rasch wachsenden
Sicherheit. Zu meinem Verhängnis fehlte nur noch, daß der letzte
Schrank, den ich bisher meinte nicht öffnen zu können, eines Tages
nachgab, um mir, statt bestimmter Trachten, allerhand vages Maskenzeug
auszuliefern, dessen phantastisches Ungefähr mir das Blut in die
Wangen trieb. Es läßt sich nicht aufzählen, was da alles war. Außer
einer Bautta, deren ich mich entsinne, gab es Dominos in verschiedenen
Farben, es gab Frauenröcke, die hell läuteten von den Münzen, mit
denen sie benäht waren; es gab Pierrots, die mir albern vorkamen, und
faltige, türkische Hosen und persische Mützen, aus denen kleine
Kampfersäckchen herausglitten, und Kronreifen mit dummen,
ausdruckslosen Steinen. Dies alles verachtete ich ein wenig; es war
von so dürftiger Unwirklichkeit und hing so abgebalgt und armsälig da
und schlappte willenlos zusammen, wenn man es herauszerrte ans Licht.
Was mich aber in eine Art von Rausch versetzte, das waren die
geräumigen Mäntel, die Tücher, die Schals, die Schleier, alle diese
nachgiebigen, großen, unverwendeten Stoffe, die weich und schmeichelnd
waren oder so gleitend, daß man sie kaum zu fassen bekam, oder so
leicht, daß sie wie ein Wind an einem vorbeiflogen, oder einfach
schwer mit ihrer ganzen Last. In ihnen erst sah ich wirklich freie
und unendlich bewegliche Möglichkeiten: eine Sklavin zu sein, die
verkauft wird, oder Jeanne d'Arc zu sein oder ein alter König oder ein
Zauberer; das alles hatte man jetzt in der Hand, besonders da auch
Masken da waren, große drohende oder erstaunte Gesichter mit echten
Bärten und vollen oder hochgezogenen Augenbrauen. Ich hatte nie
Masken gesehen vorher, aber ich sah sofort ein, daß es Masken geben
müsse. Ich mußte lachen, als mir einfiel, daß wir einen Hund hatten,
der sich ausnahm, als trüge er eine. Ich stellte mir seine herzlichen
Augen vor, die immer wie von hinten hineinsahen in das behaarte
Gesicht. Ich lachte noch, während ich mich verkleidete, und ich
vergaß darüber völlig, was ich eigentlich vorstellen wollte. Nun, es
war neu und spannend, das erst nachträglich vor dem Spiegel zu
entscheiden. Das Gesicht, das ich vorband, roch eigentümlich hohl, es
legte sich fest über meines, aber ich konnte bequem durchsehen, und
ich wählte erst, als die Maske schon saß, allerhand Tücher, die ich in
der Art eines Turbans um den Kopf wand, so daß der Rand der Maske, der
unten in einen riesigen gelben Mantel hineinreichte, auch oben und
seitlich fast ganz verdeckt war. Schließlich, als ich nicht mehr
konnte, hielt ich mich für hinreichend vermummt. Ich ergriff noch
einen großen Stab, den ich, soweit der Arm reichte, neben mir hergehen
ließ, und schleppte so, nicht ohne Mühe, aber, wie mir vorkam, voller
Würde, in das Fremdenzimmer hinein auf den Spiegel zu.

Das war nun wirklich großartig, über alle Erwartung. Der Spiegel gab
es auch augenblicklich wieder, es war zu überzeugend. Es wäre gar
nicht nötig gewesen, sich viel zu bewegen; diese Erscheinung war
vollkommen, auch wenn sie nichts tat. Aber es galt zu erfahren, was
ich eigentlich sei, und so drehte ich mich ein wenig und erhob
schließlich die beiden Arme: große, gleichsam beschwörende Bewegungen,
das war, wie ich schon merkte, das einzig Richtige. Doch gerade in
diesem feierlichen Moment vernahm ich, gedämpft durch meine Vermummung,
ganz in meiner Nähe einen vielfach zusammengesetzten Lärm; sehr
erschreckt, verlor ich das Wesen da drüben aus den Augen und war arg
verstimmt, zu gewahren, daß ich einen kleinen, runden Tisch umgeworfen
hatte mit weiß der Himmel was für, wahrscheinlich sehr zerbrechlichen
Gegenständen. Ich bückte mich so gut ich konnte und fand meine
schlimmste Erwartung bestätigt: es sah aus, als sei alles entzwei.
Die beiden überflüssigen, grün-violetten Porzellanpapageien waren
natürlich, jeder auf eine andere boshafte Art, zerschlagen. Eine Dose,
aus der Bonbons rollten, die aussahen wie seidig eingepuppte Insekten,
hatte ihren Deckel weit von sich geworfen, man sah nur seine eine
Hälfte, die andere war überhaupt fort. Das Ärgerlichste aber war ein
in tausend winzige Scherben zerschellter Flacon, aus dem der Rest
irgendeiner alten Essenz herausgespritzt war, der nun einen Fleck von
sehr widerlicher Physiognomie auf dem klaren Parkett bildete. Ich
trocknete ihn schnell mit irgendwas auf, das an mir herunterhing, aber
er wurde nur schwärzer und unangenehmer. Ich war recht verzweifelt.
Ich erhob mich und suchte nach irgendeinem Gegenstand, mit dem ich das
alles gutmachen konnte. Aber es fand sich keiner. Auch war ich so
behindert im Sehen und in jeder Bewegung, daß die Wut in mir aufstieg
gegen meinen unsinnigen Zustand, den ich nicht mehr begriff. Ich
zerrte an allem, aber es schloß sich nur noch enger an. Die Schnüre
des Mantels würgten mich, und das Zeug auf meinem Kopfe drückte, als
käme immer noch mehr hinzu. Dabei war die Luft trübe geworden und wie
beschlagen mit dem ältlichen Dunst der verschütteten Flüssigkeit.

Heiß und zornig stürzte ich vor den Spiegel und sah mühsam durch die
Maske durch, wie meine Hände arbeiteten. Aber darauf hatte er nur
gewartet. Der Augenblick der Vergeltung war für ihn gekommen.
Während ich in maßlos zunehmender Beklemmung mich anstrengte, mich
irgendwie aus meiner Vermummung hinauszuzwängen, nötigte er mich, ich
weiß nicht womit, aufzusehen und diktierte mir ein Bild, nein, eine
Wirklichkeit, eine fremde, unbegreifliche monströse Wirklichkeit, mit
der ich durchtränkt wurde gegen meinen Willen: denn jetzt war er der
Stärkere, und ich war der Spiegel. Ich starrte diesen großen,
schrecklichen Unbekannten vor mir an, und es schien mir ungeheuerlich,
mit ihm allein zu sein. Aber in demselben Moment, da ich dies dachte,
geschah das Äußerste: ich verlor allen Sinn, ich fiel einfach aus.
Eine Sekunde lang hatte ich eine unbeschreibliche, wehe und
vergebliche Sehnsucht nach mir, dann war nur noch er: es war nichts
außer ihm.

Ich rannte davon, aber nun war er es, der rannte. Er stieß überall an,
er kannte das Haus nicht, er wußte nicht wohin; er geriet eine Treppe
hinunter, er fiel auf dem Gange über eine Person her, die sich
schreiend freimachte. Eine Tür ging auf, es traten mehrere Menschen
heraus: Ach, ach, was war das gut, sie zu kennen. Das war Sieversen,
die gute Sieversen, und das Hausmädchen und der Silberdiener: nun
mußte es sich entscheiden. Aber sie sprangen nicht herzu und retteten;
ihre Grausamkeit war ohne Grenzen. Sie standen da und lachten, mein
Gott, sie konnten dastehn und lachen. Ich weinte, aber die Maske ließ
die Tränen nicht hinaus, sie rannen innen über mein Gesicht und
trockneten gleich und rannen wieder und trockneten. Und endlich
kniete ich hin vor ihnen, wie nie ein Mensch gekniet hat; ich kniete
und hob meine Hände zu ihnen auf und flehte: "Herausnehmen, wenn es
noch geht, und behalten", aber sie hörten es nicht; ich hatte keine
Stimme mehr.

Sieversen erzählte bis an ihr Ende, wie ich umgesunken wäre und wie
sie immer noch weitergelacht hätten in der Meinung, das gehöre dazu.
Sie waren es so gewöhnt bei mir. Aber dann wäre ich doch immerzu
liegengeblieben und hätte nicht geantwortet. Und der Schrecken, als
sie endlich entdeckten, daß ich ohne Besinnung sei und dalag wie ein
Stück in allen den Tüchern, rein wie ein Stück.

Die Zeit ging unberechenbar schnell, und auf einmal war es schon
wieder so weit, daß der Prediger Dr. Jespersen geladen werden mußte.
Das war dann für alle Teile ein mühsames und langwieriges Frühstück.
Gewohnt an die sehr fromme Nachbarschaft, die sich jedesmal ganz
auflöste um seinetwillen, war er bei uns durchaus nicht an seinem
Platz; er lag sozusagen auf dem Land und schnappte. Die Kiemenatmung,
die er an sich ausgebildet hatte, ging beschwerlich vor sich, es
bildeten sich Blasen, und das Ganze war nicht ohne Gefahr.
Gesprächsstoff war, wenn man genau sein will, überhaupt keiner da; es
wurden Reste veräußert zu unglaublichen Preisen, es war eine
Liquidation aller Bestände. Dr. Jespersen mußte sich bei uns darauf
beschränken, eine Art von Privatmann zu sein; das gerade aber war er
nie gewesen. Er war, soweit er denken konnte, im Seelenfach
angestellt. Die Seele war eine öffentliche Institution für ihn, die
er vertrat, und er brachte es zuwege, niemals außer Dienst zu sein,
selbst nicht im Umgang mit seiner Frau, "seiner bescheidenen, treuen,
durch Kindergebären seligwerdenden Rebekka", wie Lavater sich in einem
anderen Fall ausdrückte.

(Was übrigens meinen Vater betraf, so war seine Haltung Gott gegenüber
vollkommen korrekt und von tadelloser Höflichkeit. In der Kirche
schien es mir manchmal, als wäre er geradezu Jägermeister bei Gott,
wenn er dastand und abwartete und sich verneigte. Maman dagegen
erschien es fast verletzend, daß jemand zu Gott in einem höflichen
Verhältnis stehen konnte. Wäre sie in eine Religion mit deutlichen
und ausführlichen Gebräuchen geraten, es wäre eine Seligkeit für sie
gewesen, stundenlang zu knien und sich hinzuwerfen und sich recht mit
dem großen Kreuz zu gebärden vor der Brust und um die Schultern herum.
Sie lehrte mich nicht eigentlich beten, aber es war ihr eine
Beruhigung, daß ich gerne kniete und die Hände bald gekrümmt und bald
aufrecht faltete, wie es mir gerade ausdrucksvoller schien. Ziemlich
in Ruhe gelassen, machte ich frühzeitig eine Reihe von Entwicklungen
durch, die ich erst viel später in einer Zeit der Verzweiflung auf
Gott bezog, und zwar mit solcher Heftigkeit, daß er sich bildete und
zersprang, fast in demselben Augenblick. Es ist klar, daß ich ganz
von vorn anfangen mußte hernach. Und bei diesem Anfang meinte ich
manchmal, Maman nötig zu haben, obwohl es ja natürlich richtiger war,
ihn allein durchzumachen. Und da war sie ja auch schon lange tot.)

Dr. Jespersen gegenüber konnte Maman beinah ausgelassen sein. Sie
ließ sich in Gespräche mit ihm ein, die er ernst nahm, und wenn er
dann sich reden hörte, meinte sie, das genüge, und vergaß ihn
plötzlich, als wäre er schon fort. "Wie kann er nur", sagte sie
manchmal von ihm, "herumfahren und hineingehen zu den Leuten, wenn sie
gerade sterben."

Er kam auch zu ihr bei dieser Gelegenheit, aber sie hat ihn sicher
nicht mehr gesehen. Ihre Sinne gingen ein, einer nach dem andern,
zuerst das Gesicht. Es war im Herbst, man sollte schon in die Stadt
ziehen, aber da erkrankte sie gerade, oder vielmehr, sie fing gleich
an zu sterben, langsam und trostlos abzusterben an der ganzen
Oberfläche. Die Ärzte kamen, und an einem bestimmten Tag waren sie
alle zusammen da und beherrschten das ganze Haus. Es war ein paar
Stunden lang, als gehörte es nun dem Geheimrat und seinen Assistenten
und als hätten wir nichts mehr zu sagen. Aber gleich danach verloren
sie alles Interesse, kamen nur noch einzeln, wie aus purer Höflichkeit,
um eine Zigarre anzunehmen und ein Glas Portwein. Und Maman starb
indessen.

Man wartete nur noch auf Mamans einzigen Bruder, den Grafen Christian
Brahe, der, wie man sich noch erinnern wird, eine Zeitlang in
türkischen Diensten gestanden hatte, wo er, wie es immer hieß, sehr
ausgezeichnet worden war. Er kam eines Morgens an in Begleitung eines
fremdartigen Dieners, und es überraschte mich, zu sehen, daß er größer
war als Vater und scheinbar auch älter. Die beiden Herren wechselten
sofort einige Worte, die sich, wie ich vermutete, auf Maman bezogen.
Es entstand eine Pause. Dann sagte mein Vater: "Sie ist sehr
entstellt." Ich begriff diesen Ausdruck nicht, aber es fröstelte mich,
da ich ihn hörte. Ich hatte den Eindruck, als ob auch mein Vater
sich hätte überwinden müssen, ehe er ihn aussprach. Aber es war wohl
vor allem sein Stolz, der litt, indem er dies zugab.

Mehrere Jahre später erst hörte ich wieder von dem Grafen Christian
reden. Es war auf Urnekloster, und Mathilde Brahe war es, die mit
Vorliebe von ihm sprach. Ich bin indessen sicher, daß sie die
einzelnen Episoden ziemlich eigenmächtig ausgestaltete, denn das Leben
meines Onkels, von dem immer nur Gerüchte in die Öffentlichkeit und
selbst in die Familie drangen, Gerüchte, die er nie widerlegte, war
geradezu grenzenlos auslegbar. Urnekloster ist jetzt in seinem Besitz.
Aber niemand weiß, ob er es bewohnt. Vielleicht reist er immer noch,
wie es seine Gewohnheit war; vielleicht ist die Nachricht seines
Todes aus irgendeinem äußersten Erdteil unterwegs, von der Hand des
fremden Dieners geschrieben in schlechtem Englisch oder in irgendeiner
unbekannten Sprache. Vielleicht auch giebt dieser Mensch kein Zeichen
von sich, wenn er eines Tages allein zurückbleibt. Vielleicht sind
sie beide längst verschwunden und stehen nur noch auf der Schiffsliste
eines verschollenen Schiffes unter Namen, die nicht die ihren waren.

Freilich, wenn damals auf Urnekloster ein Wagen einfuhr, so erwartete
ich immer, ihn eintreten zu sehen, und mein Herz klopfte auf eine
besondere Art. Mathilde Brahe behauptete: so käme er, das wäre so
seine Eigenheit, plötzlich da zu sein, wenn man es am wenigsten für
möglich hielte. Er kam nie, aber meine Einbildungskraft beschäftigte
sich wochenlang mit ihm, ich hatte das Gefühl, als wären wir einander
eine Beziehung schuldig, und ich hätte gern etwas Wirkliches von ihm
gewußt.

Als indessen bald darauf mein Interesse umschlug und infolge gewisser
Begebenheiten ganz auf Christine Brahe überging, bemühte ich mich
eigentümlicherweise nicht, etwas von ihren Lebensumständen zu erfahren.
Dagegen beunruhigte mich der Gedanke, ob ihr Bildnis wohl in der
Galerie vorhanden sei. Und der Wunsch, das festzustellen, nahm so
einseitig und quälend zu, daß ich mehrere Nächte nicht schlief, bis,
ganz unvermutet, diejenige da war, in der ich, weiß Gott, aufstand und
hinaufging mit meinem Licht, das sich zu fürchten schien.

Was mich angeht, so dachte ich nicht an Furcht. Ich dachte überhaupt
nicht; ich ging. Die hohen Türen gaben so spielend nach vor mir und
über mir, die Zimmer, durch die ich kam, hielten sich ruhig. Und
endlich merkte ich an der Tiefe, die mich anwehte, daß ich in die
Galerie getreten sei. Ich fühlte auf der rechten Seite die Fenster
mit der Nacht, und links mußten die Bilder sein. Ich hob mein Licht
so hoch ich konnte. Ja: da waren die Bilder.

Erst nahm ich mir vor, nur nach den Frauen zu sehen, aber dann
erkannte ich eines und ein anderes, das ähnlich in Ulsgaard hing, und
wenn ich sie so von unten beschien, so rührten sie sich und wollten
ans Licht, und es schien mir herzlos, das nicht wenigstens abzuwarten.
Da war immer wieder Christian der Vierte mit der schön geflochtenen
Cadenette neben der breiten, langsam gewölbten Wange. Da waren
vermutlich seine Frauen, von denen ich nur Kirstine Munk kannte; und
plötzlich sah mich Frau Ellen Marsvin an, argwöhnisch in ihrer
Witwentracht und mit derselben Perlenschnur auf der Krempe des hohen
Huts. Da waren König Christians Kinder: immer wieder frische aus
neuen Frauen, die 'unvergleichliche' Eleonore auf einem weißen
Paßgänger in ihrer glänzendsten Zeit, vor der Heimsuchung. Die
Gyldenlöves: Hans Ulrik, von dem die Frauen in Spanien meinten, daß er
sich das Antlitz male, so voller Blut war er, und Ulrik Christian, den
man nicht wieder vergaß. Und beinahe alle Ulfelds. Und dieser da,
mit dem einen schwarzübermalten Auge, konnte wohl Henrik Holck sein,
der mit dreiunddreißig Jahren Reichsgraf war und Feldmarschall, und
das kam so: ihm träumte auf dem Wege zu Jungfrau Hilleborg Krafse, es
würde ihm statt der Braut ein bloßes Schwert gegeben: und er nahm
sichs zu Herzen und kehrte um und begann sein kurzes, verwegenes Leben,
das mit der Pest endete. Die kannte ich alle. Auch die Gesandten
vom Kongreß zu Nimwegen hatten wir auf Ulsgaard, die einander ein
wenig glichen, weil sie alle auf einmal gemalt worden waren, jeder mit
der schmalen, gestutzten Bartbraue über dem sinnlichen, fast
schauenden Munde. Daß ich Herzog Ulrich erkannte, ist
selbstverständlich, und Otte Brahe und Claus Daa und Sten Rosensparre,
den Letzten seines Geschlechts; denn von ihnen allen hatte ich Bilder
im Saal zu Ulsgaard gesehen, oder ich hatte in alten Mappen
Kupferstiche gefunden, die sie darstellten.

Aber dann waren viele da, die ich nie gesehen hatte; wenige Frauen,
aber es waren Kinder da. Mein Arm war längst müde geworden und
zitterte, aber ich hob doch immer wieder das Licht, um die Kinder zu
sehen. Ich begriff sie, diese kleinen Mädchen, die einen Vogel auf
der Hand trugen und ihn vergaßen. Manchmal saß ein kleiner Hund bei
ihnen unten, ein Ball lag da, und auf dem Tisch nebenan gab es Früchte
und Blumen; und dahinter an der Säule hing, klein und vorläufig, das
Wappen der Grubbe oder der Bille oder der Rosenkrantz. So viel hatte
man um sie zusammengetragen, als ob eine Menge gutzumachen wäre. Sie
aber standen einfach in ihren Kleidern und warteten; man sah, daß sie
warteten. Und da mußte ich wieder an die Frauen denken und an
Christine Brahe, und ob ich sie erkennen würde.

Ich wollte rasch bis ganz ans Ende laufen und von dort zurückgehen und
suchen, aber da stieß ich an etwas. Ich drehte mich so jäh herum, daß
der kleine Erik zurücksprang und flüsterte: "Gieb acht mit deinem
Licht."

"Du bist da?" sagte ich atemlos, und ich war nicht im klaren, ob das
gut sei oder ganz und gar schlimm. Er lachte nur, und ich wußte nicht,
was weiter. Mein Licht flackerte, und ich konnte den Ausdruck seines
Gesichts nicht recht erkennen. Es war doch wohl schlimm, daß er da
war. Aber da sagte er, indem er näher kam: "Ihr Bild ist nicht da,
wir suchen es immer noch oben." Mit seiner halben Stimme und dem
einen beweglichen Auge wies er irgendwie hinauf. Und ich begriff, daß
er den Boden meinte. Aber auf einmal kam mir ein merkwürdiger Gedanke.


"Wir?" fragte ich, "ist sie denn oben?"

"Ja", nickte er und stand dicht neben mir.

"Sie sucht selber mit?" "Ja, wir suchen."

"Man hat es also fortgestellt, das Bild?"

"Ja, denk nur", sagte er empört. Aber ich begriff nicht recht, was
sie damit wollte.

"Sie will sich sehen", flüsterte er ganz nah.

"Ja so", machte ich, als ob ich verstünde. Da blies er mir das Licht
aus. Ich sah, wie er sich vorstreckte, ins Helle hinein, mit ganz
hochgezogenen Augenbrauen. Dann wars dunkel. Ich trat unwillkürlich
zurück.

"Was machst du denn?" rief ich unterdrückt und war ganz trocken im
Halse. Er sprang mir nach und hängte sich an meinen Arm und kicherte.

"Was denn?" fuhr ich ihn an und wollte ihn abschütteln, aber er hing
fest. Ich konnte es nicht hindern, daß er den Arm um meinen Hals
legte.

"Soll ich es sagen?" zischte er, und ein wenig Speichel spritzte mir
ins Ohr.

"Ja, ja, schnell."

Ich wußte nicht, was ich redete. Er umarmte mich nun völlig und
streckte sich dabei.

"Ich hab ihr einen Spiegel gebracht", sagte er und kicherte wieder.

"Einen Spiegel?"

"Ja, weil doch das Bild nicht da ist."

"Nein, nein", machte ich.

Er zog mich auf einmal etwas weiter nach dem Fenster hin und kniff
mich so scharf in den Oberarm, daß ich schrie.

"Sie ist nicht drin", blies er mir ins Ohr.

Ich stieß ihn unwillkürlich von mir weg, etwas knackte an ihm, mir war,
als hätte ich ihn zerbrochen.

"Geh, geh", und jetzt mußte ich selber lachen, "nicht drin, wieso denn
nicht drin?"

"Du bist dumm", gab er böse zurück und flüsterte nicht mehr. Seine
Stimme war umgeschlagen, als begänne er nun ein neues, noch
ungebrauchtes Stück. "Man ist entweder drin", diktierte er altklug
und streng, "dann ist man nicht hier; oder wenn man hier ist, kann man
nicht drin sein."

"Natürlich", antwortete ich schnell, ohne nachzudenken. Ich hatte
Angst, er könnte sonst fortgehen und mich allein lassen. Ich griff
sogar nach ihm.

"Wollen wir Freunde sein?" schlug ich vor. Er ließ sich bitten. "Mir
ists gleich", sagte er keck.

Ich versuchte unsere Freundschaft zu beginnen, aber ich wagte nicht,
ihn zu umarmen. "Lieber Erik", brachte ich nur heraus und rührte ihn
irgendwo ein bißchen an. Ich war auf einmal sehr müde. Ich sah mich
um; ich verstand nicht mehr, wie ich hierher gekommen war und daß ich
mich nicht gefürchtet hatte. Ich wußte nicht recht, wo die Fenster
waren und wo die Bilder. Und als wir gingen, mußte er mich führen.

"Sie tun dir nichts", versicherte er großmütig und kicherte wieder.

Lieber, lieber Erik; vielleicht bist du doch mein einziger Freund
gewesen. Denn ich habe nie einen gehabt. Es ist schade, daß du auf
Freundschaft nichts gabst. Ich hätte dir manches erzählen mögen.
Vielleicht hätten wir uns vertragen. Man kann nicht wissen. Ich
erinnere mich, daß damals dein Bild gemalt wurde. Der Großvater hatte
jemanden kommen lassen, der dich malte. Jeden Morgen eine Stunde.
Ich kann mich nicht besinnen, wie der Maler aussah, sein Name ist mir
entfallen, obwohl Mathilde Brahe ihn jeden Augenblick wiederholte.

Ob er dich gesehen hat, wie ich dich seh? Du trugst einen Anzug von
heliotropfarbenem Samt. Mathilde Brahe schwärmte für diesen Anzug.
Aber das ist nun gleichgültig. Nur ob er dich gesehen hat, möchte ich
wissen. Nehmen wir an, daß es ein wirklicher Maler war.Nehmen wir an,
daß er nicht daran dachte, daß du sterben könntest, ehe er fertig
würde; daß er die Sache gar nicht sentimental ansah; daß er einfach
arbeitete. Daß die Ungleichheit deiner beiden braunen Augen ihn
entzückte; daß er keinen Moment sich schämte für das unbewegliche; daß
er den Takt hatte, nichts hinzuzulegen auf den Tisch zu deiner Hand,
die sich vielleicht ein wenig stützte - . Nehmen wir sonst noch alles
Nötige an und lassen es gelten: so ist ein Bild da, dein Bild, in der
Galerie auf Urnekloster das letzte.

(Und wenn man geht, und man hat sie alle gesehen, so ist da noch ein
Knabe. Einen Augenblick: wer ist das? Ein Brahe. Siehst du den
silbernen Pfahl im schwarzen Feld und die Pfauenfedern? Da steht auch
der Name: Erik Brahe. War das nicht ein Erik Brahe, der hingerichtet
worden ist? Natürlich, das ist bekannt genug. Aber um den kann es
sich nicht handeln. Dieser Knabe ist als Knabe gestorben, gleichviel
wann. Kannst du das nicht sehen?)

Wenn Besuch da war und Erik wurde gerufen, so versicherte das Fräulein
Mathilde Brahe jedesmal, es sei geradezu unglaublich, wie sehr er der
alten Gräfin Brahe gliche, meiner Großmutter. Sie soll eine sehr
große Dame gewesen sein. Ich habe sie nicht gekannt. Dagegen
erinnere ich mich sehr gut an die Mutter meines Vaters, die
eigentliche Herrin auf Ulsgaard. Das war sie wohl immer geblieben,
wie sehr sie es auch Maman übelnahm, daß sie als des Jägermeisters
Frau ins Haus gekommen war. Seither tat sie beständig, als zöge sie
sich zurück, und schickte die Dienstleute mit jeder Kleinigkeit weiter
zu Maman hinein, während sie in wichtigen Angelegenheiten ruhig
entschied und verfügte, ohne irgend jemandem Rechenschaft abzulegen.
Maman, glaube ich, wünschte es gar nicht anders. Sie war so wenig
gemacht, ein großes Haus zu übersehen, ihr fehlte völlig die
Einteilung der Dinge in nebensächliche und wichtige. Alles, wovon man
ihr sprach, schien ihr immer das Ganze zu sein, und sie vergaß darüber
das andere, das doch auch noch da war. Sie beklagte sich nie über
ihre Schwiegermutter. Und bei wem hätte sie sich auch beklagen
sollen? Vater war ein äußerst respektvoller Sohn, und Großvater hatte
wenig zu sagen.

Frau Margarete Brigge war immer schon, soweit ich denken kann, eine
hochgewachsene, unzugängliche Greisin. Ich kann mir nicht anders
vorstellen, als daß sie viel älter gewesen sei, als der Kammerherr.
Sie lebte mitten unter uns ihr Leben, ohne auf jemanden Rücksicht zu
nehmen. Sie war auf keinen von uns angewiesen und hatte immer eine
Art Gesellschafterin, eine alternde Komtesse Oxe, um sich, die sie
sich durch ihrgendeine Wohltat unbegrenzt verpflichtet hatte. Dies
mußte eine einzelne Ausnahme gewesen sein, denn wohltun war sonst
nicht ihre Art. Sie liebte keine Kinder, und Tiere durften nicht in
ihre Nähe. Ich weiß nicht, ob sie sonst etwas liebte. Es wurde
erzählt, daß sie als ganz junges Mädchen dem schönen Felix Lichnowski
verlobt gewesen sei, der dann in Frankfurt so grausam ums Leben kam.
Und in der Tat war nach ihrem Tode ein Bildnis des Fürsten da, das,
wenn ich nicht irre, an die Familie zurückgegeben worden ist.
Vielleicht, denke ich mir jetzt, versäumte sie über diesem
eingezogenen ländlichen Leben, das das Leben auf Ulsgaard von Jahr zu
Jahr mehr geworden war, ein anderes, glänzendes: ihr natürliches. Es
ist schwer zu sagen, ob sie es betrauerte. Vielleicht verachtete sie
es dafür, daß es nicht gekommen war, daß es die Gelegenheit verfehlt
hatte, mit Geschick und Talent gelebt worden zu sein. Sie hatte alles
dies so weit in sich hineingenommen und hatte darüber Schalen
angesetzt, viele, spröde, ein wenig metallisch glänzende Schalen,
deren jeweilig oberste sich neu und kühl ausnahm. Bisweilen freilich
verriet sie sich doch durch eine naive Ungeduld, nicht genügend
beachtet zu sein; zu meiner Zeit konnte sie sich dann bei Tische
plötzlich verschlucken auf irgendeine deutliche und komplizierte Art,
die ihr die Teilnahme aller sicherte und sie, für einen Augenblick
wenigstens, so sensationell und spannend erscheinen ließ, wie sie es
im Großen hätte sein mögen. Indessen vermute ich, daß mein Vater der
einzige war, der diese viel zu häufigen Zufälle ernst nahm. Er sah
ihr, höflich vorübergeneigt, zu, man konnte merken, wie er ihr in
Gedanken seine eigene, ordentliche Luftröhre gleichsam anbot und ganz
zur Verfügung stellte. Der Kammerherr hatte natürlich gleichfalls zu
essen aufgehört; er nahm einen kleinen Schluck Wein und enthielt sich
jeder Meinung.

Er hatte bei Tische ein einziges Mal die seinige seiner Gemahlin
gegenüber aufrechterhalten. Das war lange her; aber die Geschichte
wurde doch noch boshaft und heimlich weitergegeben; es gab fast
überall jemanden, der sie noch nicht gehört hatte. Es hieß, daß die
Kammerherrin zu einer gewissen Zeit sich sehr über Weinfieckeereifern
konnte, die durch Ungeschicklichkeit ins Tischzeug gerieten; daß ein
solcher Fleck, bei welchem Anlaß er auch passieren mochte, von ihr
bemerkt und unter dem heftigsten Tadel sozusagen bloßgestellt wurde.
Dazu wäre es auch einmal gekommen, als man mehrere und namhafte Gäste
hatte. Ein paar unschuldige Flecke, die sie übertrieb, wurden der
Gegenstand ihrer höhnischen Anschuldigungen, und wie sehr der
Großvater sich auch bemühte, sie durch kleine Zeichen und scherzhafte
Zurufe zu ermahnen, so wäre sie doch eigensinnig bei ihren Vorwürfen
geblieben, die sie dann allerdings mitten im Satze stehen lassen mußte.
Es geschah nämlich etwas nie Dagewesenes und völlig Unbegreifliches.
Der Kammerherr hatte sich den Rotwein geben lassen, der gerade
herumgereicht worden war, und war nun in aller Aufmerksamkeit dabei,
sein Glas selber zu füllen. Nur daß er, wunderbarerweise, einzugießen
nicht aufhörte, als es längst voll war, sondern unter zunehmender
Stille langsam und vorsichtig weitergoß, bis Maman, die nie an sich
halten konnte, auflachte und damit die ganze Angelegenheit nach dem
Lachen hin in Ordnung brachte. Denn nun stimmten alle erleichtert ein,
und der Kammerherr sah auf und reichte dem Diener die Flasche.

Später gewann eine andere Eigenheit die Oberhand bei meiner Großmutter.
Sie konnte es nicht ertragen, daß jemand im Hause erkrankte. Einmal,
als die Köchin sich verletzt hatte und sie sah sie zufällig mit der
eingebundenen Hand, behauptete sie, das Jodoform im ganzen Hause zu
riechen, und war schwer zu überzeugen, daß man die Person daraufhin
nicht entlassen könne. Sie wollte nicht an das Kranksein erinnert
werden. Hatte jemand die Unvorsichtigkeit, vor ihr irgendein kleines
Unbehagen zu äußern, so war das nichts anderes als eine persönliche
Kränkung für sie, und sie trug sie ihm lange nach.

In jenem Herbst, als Maman starb, schloß sich die Kammerherrin mit
Sophie Oxe ganz in ihren Zimmern ein und brach allen Verkehr mit uns
ab. Nicht einmal ihr Sohn wurde angenommen. Es ist ja wahr, dieses
Sterben fiel recht unpassend. Die Zimmer waren kalt, die Öfen
rauchten, und die Mäuse waren ins Haus gedrungen; man war nirgends
sicher vor ihnen. Aber das allein war es nicht, Frau Margarete Brigge
war empört, daß Maman starb; daß da eine Sache auf der Tagesordnung
stand, von der zu sprechen sie ablehnte; daß die junge Frau sich den
Vortritt anmaßte vor ihr, die einmal zu sterben gedachte zu einem
durchaus noch nicht festgesetzten Termin. Denn daran, daß sie würde
sterben müssen, dachte sie oft. Aber sie wollte nicht gedrängt sein.
Sie würde sterben, gewiß, wann es ihr gefiel, und dann konnten sie ja
alle ruhig sterben, hinterher, wenn sie es so eilig hatten.

Mamans Tod verzieh sie uns niemals ganz. Sie alterte übrigens rasch
während des folgenden Winters. Im Gehen war sie immer noch hoch, aber
im Sessel sank sie zusammen, und ihr Gehör wurde schwieriger. Man
konnte sitzen und sie groß ansehen, stundenlang, sie fühlte es nicht.
Sie war irgendwo drinnen; sie kam nur noch selten und nur für
Augenblicke in ihre Sinne, die leer waren, die sie nicht mehr bewohnte.
Dann sagte sie etwas zu der Komtesse, die ihr die Mantille richtete,
und nahm mit den großen, frisch gewaschenen Händen ihr Kleid an sich,
als wäre Wasser vergossen oder als wären wir nicht ganz reinlich.

Sie starb gegen den Frühling zu, in der Stadt, eines Nachts. Sophie
Oxe, deren Tür offenstand, hatte nichts gehört. Da man sie am Morgen
fand, war sie kalt wie Glas.

Gleich darauf begann des Kammerherrn große und schreckliche Krankheit.
Es war, als hätte er ihr Ende abgewartet, um so rücksichtslos sterben
zu können, wie er mußte.

Es war in dem Jahr nach Mamans Tode, daß ich Abelone zuerst bemerkte.
Abelone war immer da. Das tat ihr großen Eintrag. Und dann war
Abelone unsympathisch, das hatte ich ganz früher einmal bei
irgendeinem Anlaß festgestellt, und es war nie zu einer ernstlichen
Durchsicht dieser Meinung gekommen. Zu fragen, was es mit Abelone für
eine Bewandtnis habe, das wäre mir bis dahin beinah lächerlich
erschienen. Abelone war da, und man nutzte sie ab, wie man eben
konnte. Aber auf einmal fragte ich mich: Warum ist Abelone da? Jeder
bei uns hatte einen bestimmten Sinn da zu sein, wenn er auch
keineswegs immer so augenscheinlich war, wie zum Beispiel die
Anwendung des Fräuleins Oxe. Aber weshalb war Abelone da? Eine
Zeitlang war davon die Rede gewesen, daß sie sich zerstreuen solle.
Aber das geriet in Vergessenheit. Niemand trug etwas zu Abelones
Zerstreuung bei. Es machte durchaus nicht den Eindruck, daß sie sich
zerstreue.

Übrigens hatte Abelone ein Gutes: sie sang. Das heißt, es gab Zeiten,
wo sie sang. Es war eine starke, unbeirrbare Musik in ihr. Wenn es
wahr ist, daß die Engel männlich sind, so kann man wohl sagen, daß
etwas Männliches in ihrer Stimme war: eine strahlende, himmlische
Männlichkeit. Ich, der ich schon als Kind der Musik gegenüber so
mißtrauisch war (nicht, weil sie mich stärker als alles forthob aus
mir, sondern, weil ich gemerkt hatte, daß sie mich nicht wieder dort
ablegte, wo sie mich gefunden hatte, sondern tiefer, irgendwo ganz ins
Unfertige hinein), ich ertrug diese Musik, auf der man aufrecht
aufwärtssteigen konnte, höher und höher, bis man meinte, dies müßte
ungefähr schon der Himmel sein seit einer Weile. Ich ahnte nicht, daß
Abelone mir noch andere Himmel öffnen sollte.

Zunächst bestand unsere Beziehung darin, daß sie mir von Mamans
Mädchenzeit erzählte. Sie hielt viel darauf, mich zu überzeugen, wie
mutig und jung Maman gewesen wäre. Es gab damals niemanden nach ihrer
Versicherung, der sich im Tanzen oder im Reiten mir ihr messen konnte.
"Sie war die Kühnste und unermüdlich, und dann heiratete sie auf
einmal", sagte Abelone, immer noch erstaunt nach so vielen Jahren.
"Es kam so unerwartet, niemand konnte es recht begreifen."

Ich interessierte mich dafür, weshalb Abelone nicht geheiratet hatte.
Sie kam mir alt vor verhältnismäßig, und daß sie es noch könnte, daran
dachte ich nicht.

"Es war niemand da", antwortete sie einfach und wurde richtig schön
dabei. Ist Abelone schön? fragte ich mich überrascht. Dann kam ich
fort von Hause, auf die Adels-Akademie, und es begann eine widerliche
und arge Zeit. Aber wenn ich dort zu Sorö, abseits von den andern, im
Fenster stand, und sie ließen mich ein wenig in Ruh, so sah ich hinaus
in die Bäume, und in solchen Augenblicken und nachts wuchs in mir die
Sicherheit, daß Abelone schön sei. Und ich fing an, ihr alle jene
Briefe zu schreiben, lange und kurze, viele heimliche Briefe, darin
ich von Ulsgaard zu handeln meinte und davon, daß ich unglücklich sei.
Aber es werden doch wohl, so wie ich es jetzt sehe, Liebesbriefe
gewesen sein. Denn schließlich kamen die Ferien, die erst gar nicht
kommen wollten, und da war es wie auf Verabredung, daß wir uns nicht
vor den anderen wiedersahen.

Es war durchaus nichts vereinbart zwischen uns, aber da der Wagen
einbog in den Park, konnte ich es nicht lassen, auszusteigen,
vielleicht nur, weil ich nicht anfahren wollte, wie irgendein Fremder.
Es war schon voller Sommer. Ich lief in einen der Wege hinein und
auf einen Goldregen zu. Und da war Abelone. Schöne, schöne Abelone.

Ich wills nie vergessen, wie das war, wenn du mich anschautest. Wie
du dein Schauen trugst, gleichsam wie etwas nicht Befestigtes es
aufhaltend auf zurückgeneigtem Gesicht.

Ach, ob das Klima sich gar nicht verändert hat? Ob es nicht milder
geworden ist um Ulsgaard herum von all unserer Wärme? Ob einzelne
Rosen nicht länger blühen jetzt im Park, bis in den Dezember hinein?

Ich will nichts erzählen von dir, Abelone. Nicht deshalb, weil wir
einander täuschten: weil du Einen liebtest, auch damals, den du nie
vergessen hast, Liebende, und ich: alle Frauen; sondern weil mit dem
Sagen nur unrecht geschieht.

Es giebt Teppiche hier, Abelone, Wandteppiche. Ich bilde mir ein, du
bist da, sechs Teppiche sinds, komm, laß uns langsam vorübergehen.
Aber erst tritt zurück und sieh alle zugleich. Wie ruhig sie sind,
nicht? Es ist wenig Abwechslung darin. Da ist immer diese ovale
blaue Insel, schwebend im zurückhaltend roten Grund, der blumig ist
und von kleinen, mit sich beschäftigten Tieren bewohnt. Nur dort, im
letzten Teppich, steigt die Insel ein wenig auf, als ob sie leichter
geworden sei. Sie trägt immer eine Gestalt, eine Frau in
verschiedener Tracht, aber immer dieselbe. Zuweilen ist eine kleinere
Figur neben ihr, eine Dienerin, und immer sind die wappentragenden
Tiere da, groß, mit auf der Insel, mit in der Handlung. Links ein
Löwe, und rechts, hell, das Einhorn; sie halten die gleichen Banner,
die hoch über ihnen zeigen: drei silberne Monde, steigend, in blauer
Binde auf rotem Feld. - Hast du gesehen, willst du beim ersten
beginnen?

Sie füttert den Falken. Wie herrlich ihr Anzug ist. Der Vogel ist
auf der gekleideten Hand und rührt sich. Sie sieht ihm zu und langt
dabei in die Schale, die ihr die Dienerin bringt, um ihm etwas zu
reichen. Rechts unten auf der Schleppe hält sich ein kleiner,
seidenhaariger Hund, der aufsieht und hofft, man werde sich seiner
erinnern. Und, hast du bemerkt, ein niederes Rosengitter schließt
hinten die Insel ab. Die Wappentiere steigen heraldisch hochmütig.
Das Wappen ist ihnen noch einmal als Mantel umgegeben. Eine schöne
Agraffe hält es zusammen. Es weht.

Geht man nicht unwillkürlich leiser zu dem nächsten Teppich hin,
sobald man gewahrt, wie versunken sie ist: sie bindet einen Kranz,
eine kleine, runde Krone aus Blumen. Nachdenklich wählt sie die Farbe
der nächsten Nelke in dem flachen Becken, das ihr die Dienerin hält,
während sie die vorige anreiht. Hinten auf einer Bank steht unbenutzt
ein Korb voller Rosen, den ein Affe entdeckt hat. Diesmal sollten es
Nelken sein. Der Löwe nimmt nicht mehr teil; aber rechts das Einhorn
begreift.

Mußte nicht Musik kommen in diese Stille, war sie nicht schon
verhalten da? Schwer und still geschmückt, ist sie (wie langsam,
nicht?) an die tragbare Orgel getreten und spielt, stehend, durch das
Pfeifenwerk abgetrennt von der Dienerin, die jenseits die Bälge bewegt.
So schön war sie noch nie. Wunderlich ist das Haar in zwei Flechten
nach vorn genommen und über dem Kopfputz oben zusammengefaßt, so daß
es mit seinen Enden aus dem Bund aufsteigt wie ein kurzer Helmbusch.
Verstimmt erträgt der Löwe die Töne, ungern, Geheul verbeißend. Das
Einhorn aber ist schön, wie in Wellen bewegt.

Die Insel wird breit. Ein Zelt ist errichtet. Aus blauem Damast und
goldgeflammt. Die Tiere raffen es auf, und schlicht beinah in ihrem
fürstlichen Kleid tritt sie vor. Denn was sind ihre Perlen gegen sie
selbst. Die Dienerin hat eine kleine Truhe geöffnet, und sie hebt nun
eine Kette heraus, ein schweres, herrliches Kleinod, das immer
verschlossen war. Der kleine Hund sitzt bei ihr, erhöht, auf
bereitetem Platz und sieht es an. Und hast du den Spruch entdeckt auf
dem Zeltrand oben? Da steht: 'A mon seul désir.'

Was ist geschehen, warum springt das kleine Kaninchen da unten, warum
sieht man gleich, daß es springt? Alles ist so befangen. Der Löwe
hat nichts zu tun. Sie selbst hält das Banner. Oder hält sie sich
dran? Sie hat mit der anderen Hand nach dem Horn des Einhorns gefaßt.
Ist das Trauer, kann Trauer so aufrecht sein, und ein Trauerkleid so
verschwiegen wie dieser grünschwarze Samt mit den welken Stellen?

Aber es kommt noch ein Fest, niemand ist geladen dazu. Erwartung
spielt dabei keine Rolle. Es ist alles da. Alles für immer. Der
Löwe sieht sich fast drohend um: es darf niemand kommen. Wir haben
sie noch nie müde gesehen; ist sie müde? Oder hat sie sich nur
niedergelassen, weil sie etwas Schweres hält? Man könnte meinen, eine
Monstranz. Aber sie neigt den andern Arm gegen das Einhorn hin, und
das Tier bäumt sich geschmeichelt auf und steigt und stützt sich auf
ihren Schooß. Es ist ein Spiegel, was sie hält. Siehst du: sie zeigt
dem Einhorn sein Bild - .

Abelone, ich bilde mir ein, du bist da. Begreifst du, Abelone? Ich
denke, du mußt begreifen.

Nun sind auch die Teppiche der Dame à la Licorne nicht mehr in
dem alten Schloß von Boussac. Die Zeit ist da, wo alles aus den
Häusern fortkommt, sie können nichts mehr behalten. Die Gefahr ist
sicherer geworden als die Sicherheit. Niemand aus dem Geschlecht der
Delle Viste geht neben einem her und hat das im Blut. Sie sind alle
vorbei. Niemand spricht deinen Namen aus, Pierre d'Aubusson, großer
Großmeister aus uraltem Hause, auf dessen Willen hin vielleicht diese
Bilder gewebt wurden, die alles preisen und nichts preisgeben. (Ach,
daß die Dichter je anders von Frauen geschrieben haben, wörtlicher,
wie sie meinten. Es ist sicher, wir durften nichts wissen als das.)
Nun kommt man zufällig davor unter Zufälligen und erschrickt fast,
nicht geladen zu sein. Aber da sind andere und gehen vorüber, wenn es
auch nie viele sind. Die jungen Leute halten sich kaum auf, es sei
denn, daß das irgendwie in ihr Fach gehört, diese Dinge einmal gesehen
zu haben, auf die oder jene bestimmte Eigenschaft hin.

Junge Mädchen allerdings findet man zuweilen davor. Denn es giebt
eine Menge junger Mädchen in den Museen, die fortgegangen sind
irgendwo aus den Häusern, die nichts mehr behalten. Sie finden sich
vor diesen Teppichen und vergessen sich ein wenig. Sie haben immer
gefühlt, daß es dies gegeben hat, solch ein leises Leben langsamer,
nie ganz aufgeklärter Gebärden, und sie erinnern sich dunkel, daß sie
sogar eine Zeitlang meinten, es würde ihr Leben sein. Aber dann
ziehen sie rasch ein Heft hervor und beginnen zu zeichnen, gleichviel
was, eine von den Blumen oder ein kleines, vergnügtes Tier. Darauf
käme es nicht an, hat man ihnen vorgesagt, was es gerade wäre. Und
darauf kommt es wirklich nicht an. Nur daß gezeichnet wird, das ist
die Hauptsache; denn dazu sind sie fortgegangen eines Tages, ziemlich
gewaltsam. Sie sind aus guter Familie. Aber wenn sie jetzt beim
Zeichnen die Arme heben, so ergiebt sich, daß ihr Kleid hinten nicht
zugeknöpft ist oder doch nicht ganz. Es sind da ein paar Knöpfe, die
man nicht erreichen kann. Denn als dieses Kleid gemacht wurde, war
noch nicht davon die Rede gewesen, daß sie plötzlich allein weggehen
würden. In der Familie ist immer jemand für solche Knöpfe. Aber hier,
lieber Gott, wer sollte sich damit abgeben in einer so großen Stadt.
Man müßte schon eine Freundin haben; Freundinnen sind aber in
derselben Lage, und da kommt es doch darauf hinaus, daß man sich
gegenseitig die Kleider schließt. Das ist lächerlich und erinnert an
die Familie, an die man nicht erinnert sein will.

Es läßt sich ja nicht vermeiden, daß man während des Zeichnens
zuweilen überlegt, ob es nicht doch möglich gewesen wäre zu bleiben.
Wenn man hätte fromm sein können, herzhaft fromm im gleichen Tempo mit
den andern. Aber das nahm sich so unsinnig aus, das gemeinsam zu
versuchen. Der Weg ist irgendwie enger geworden: Familien können
nicht mehr zu Gott. Es blieben also nur verschiedene andere Dinge,
die man zur Not teilen konnte. Da kam dann aber, wenn man ehrlich
teilte, so wenig auf den einzelnen, daß es eine Schande war. Und
betrog man beim Teilen, so entstanden Auseinandersetzungen. Nein, es
ist wirklich besser zu zeichnen, gleichviel was. Mit der Zeit stellt
sich die Ähnlichkeit schon ein. Und die Kunst, wenn man sie so
allmählich hat, ist doch etwas recht Beneidenswertes.

Und über der angestrengten Beschäftigung mit dem, was sie sich
vorgenommen haben, diese jungen Mädchen, kommen sie nicht mehr dazu,
aufzusehen. Sie merken nicht, wie sie bei allem Zeichnen doch nichts
tun, als das unabänderliche Leben in sich unterdrücken, das in diesen
gewebten Bildern strahlend vor ihnen aufgeschlagen ist in seiner
unendlichen Unsäglichkeit. Sie wollen es nicht glauben. Jetzt, da so
vieles anders wird, wollen sie sich verändern. Sie sind ganz nahe
daran, sich aufzugeben und so von sich zu denken, wie Männer etwa von
ihnen reden könnten, wenn sie nicht da sind. Das scheint ihnen ihr
Fortschritt. Sie sind fast schon überzeugt, daß man einen Genuß sucht
und wieder einen und einen noch stärkeren Genuß: daß darin das Leben
besteht, wenn man es nicht auf eine alberne Art verlieren will. Sie
haben schon angefangen, sich umzusehen, zu suchen; sie, deren Stärke
immer darin bestanden hat, gefunden zu werden.

Das kommt, glaube ich, weil sie müde sind. Sie haben Jahrhunderte
lang die ganze Liebe geleistet, sie haben immer den vollen Dialog
gespielt, beide Teile. Denn der Mann hat nur nachgesprochen und
schlecht. Und hat ihnen das Erlernen schwer gemacht mit seiner
Zerstreutheit, mit seiner Nachlässigkeit, mit seiner Eifersucht, die
auch eine Art Nachlässigkeit war. Und sie haben trotzdem ausgeharrt
Tag und Nacht und haben zugenommen an Liebe und Elend. Und aus ihnen
sind, unter dem Druck endloser Nöte, die gewaltigen Liebenden
hervorgegangen, die, während sie ihn riefen, den Mann überstanden; die
über ihn hinauswuchsen, wenn er nicht wiederkam, wie Gaspara Stampa
oder wie die Portugiesin, die nicht abließen, bis ihre Qual umschlug
in eine herbe, eisige Herrlichkeit, die nicht mehr zu halten war. Wir
wissen von der und der, weil Briefe da sind, die wie durch ein Wunder
sich erhielten, oder Bücher mit anklagenden oder klagenden Gedichten,
oder Bilder, die uns anschauen in einer Galerie durch ein Weinen durch,
das dem Maler gelang, weil er nicht wußte, was es war. Aber es sind
ihrer zahllos mehr gewesen; solche, die ihre Briefe verbrannt haben,
und andere, die keine Kraft mehr hatten, sie zu schreiben. Greisinnen,
die verhärtet waren, mit einem Kern von Köstlichkeit in sich, den sie
verbargen. Formlose, stark gewordene Frauen, die, stark geworden aus
Erschöpfung, sich ihren Männern ähnlich werden ließen und die doch
innen ganz anders waren, dort, wo ihre Liebe gearbeitet hatte, im
Dunkel. Gebärende, die nie gebären wollten, und wenn sie endlich
starben an der achten Geburt, so hatten sie die Gesten und das Leichte
von Mädchen, die sich auf die Liebe freuen. Und die, die blieben
neben Tobenden und Trinkern, weil sie das Mittel gefunden hatten, in
sich so weit von ihnen zu sein wie nirgend sonst; und kamen sie unter
die Leute, so konnten sies nicht verhalten und schimmerten, als gingen
sie immer mit Seligen um. Wer kann sagen, wie viele es waren und
welche. Es ist, als hätten sie im voraus die Worte vernichtet, mit
denen man sie fassen könnte.

Aber nun, da so vieles anders wird, ist es nicht an uns, uns zu
verändern? Könnten wir nicht versuchen, uns ein wenig zu entwickeln,
und unseren Anteil Arbeit in der Liebe langsam auf uns nehmen nach und
nach? Man hat uns alle ihre Mühsal erspart, und so ist sie uns unter
die Zerstreuungen geglitten, wie in eines Kindes Spiellade manchmal
ein Stück echter Spitze fällt und freut und nicht mehr freut und
endlich daliegt unter Zerbrochenem und Auseinandergenommenem,
schlechter als alles. Wir sind verdorben vom leichten Genuß wie alle
Dilettanten und stehen im Geruch der Meisterschaft. Wie aber, wenn
wir unsere Erfolge verachteten, wie, wenn wir ganz von vorne begännen
die Arbeit der Liebe zu lernen, die immer für uns getan worden ist?
Wie, wenn wir hingingen und Anfänger würden, nun, da sich vieles
verändert.

O weiß ich auch, wie es war, wenn Maman die kleinen Spitzenstücke
aufrollte. Sie hatte nämlich ein einziges von den Schubfächern in
Ingeborgs Sekretär für sich in Gebrauch genommen.

"Wollen wir sie sehen, Malte", sagte sie und freute sich, als sollte
sie eben alles geschenkt bekommen, was in der kleinen gelblackierten
Lade war. Und dann konnte sie vor lauter Erwartung das Seidenpapier
gar nicht auseinanderschlagen. Ich mußte es tun jedesmal. Aber ich
wurde auch ganz aufgeregt, wenn die Spitzen zum Vorschein kamen. Sie
waren aufgewunden um eine Holzwelle, die gar nicht zu sehen war vor
lauter Spitzen. Und nun wickelten wir sie langsam ab und sahen den
Mustern zu, wie sie sich abspielten, und erschraken jedesmal ein wenig,
wenn eines zu Ende war. Sie hörten so plötzlich auf.

Da kamen erst Kanten italienischer Arbeit, zähe Stücke mit
ausgezogenen Fäden, in denen sich alles immerzu wiederholte, deutlich
wie in einem Bauerngarten. Dann war auf einmal eine ganze Reihe
unserer Blicke vergittert mit venezianischer Nadelspitze, als ob wir
Klöster wären oder Gefängnisse. Aber es wurde wieder frei, und man
sah weit in Gärten hinein, die immer künstlicher wurden, bis es dicht
und lau an den Augen war wie in einem Treibhaus: prunkvolle Pflanzen,
die wir nicht kannten, schlugen riesige Blätter auf, Ranken griffen
nacheinander, als ob ihnen schwindelte, und die großen offenen Blüten
der Points d'Alençon trübten alles mit ihren Pollen. Plötzlich, ganz
müde und wirr, trat man hinaus in die lange Bahn der Valenciennes, und
es war Winter und früh am Tag und Reif. Und man drängte sich durch
das verschneite Gebüsch der Binche und kam an Plätze, wo noch keiner
gegangen war; die Zweige hingen so merkwürdig abwärts, es konnte wohl
ein Grab darunter sein, aber das verbargen wir voreinander. Die Kälte
drang immer dichter an uns heran, und schließlich sagte Maman, wenn
die kleinen, ganz feinen Klöppelspitzen kamen: "Öh, jetzt bekommen wir
Eisblumen an den Augen", und so war es auch, denn es war innen sehr
warm in uns.

Über dem Wiederaufrollen seufzten wir beide, das war eine lange Arbeit,
aber wir mochten es niemandem überlassen.

"Denk nun erst, wenn wir sie machen müßten", sagte Maman und sah
förmlich erschrocken aus. Das konnte ich mir gar nicht vorstellen.
Ich ertappte mich darauf, daß ich an kleine Tiere gedacht hatte, die
das immerzu spinnen und die man dafür in Ruhe läßt. Nein, es waren ja
natürlich Frauen.

"Die sind gewiß in den Himmel gekommen, die das gemacht haben", meinte
ich bewundernd. Ich erinnere, es fiel mir auf, daß ich lange nicht
nach dem Himmel gefragt hatte. Maman atmete auf, die Spitzen waren
wieder beisammen.

Nach einer Weile, als ich es schon wieder vergessen hatte, sagte sie
ganz langsam: "In den Himmel? Ich glaube, sie sind ganz und gar da
drin. Wenn man das so sieht: das kann gut eine ewige Seligkeit sein.
Man weiß ja so wenig darüber."

Oft, wenn Besuch dawar, hieß es, daß Schulins sich einschränkten. Das
große, alte Schloß war abgebrannt vor ein paar Jahren, und nun wohnten
sie in den beiden engen Seitenflügeln und schränkten sich ein. Aber
das Gästehaben lag ihnen nun einmal im Blut. Das konnten sie nicht
aufgeben. Kam jemand unerwartet zu uns, so kam er wahrscheinlich von
Schulins; und sah jemand plötzlich nach der Uhr und mußte ganz
erschrocken fort, so wurde er sicher auf Lystager erwartet.

Maman ging eigentlich schon nirgends mehr hin, aber so etwas konnten
Schulins nicht begreifen; es blieb nichts übrig, man mußte einmal
hinüberfahren. Es war im Dezember nach ein paar frühen Schneefällen;
der Schlitten war auf drei Uhr befohlen, ich sollte mit. Man fuhr
indessen nie pünktlich bei uns. Maman, die es nicht liebte, daß der
Wagen gemeldet wurde, kam meistens viel zu früh herunter, und wenn sie
niemanden fand, so fiel ihr immer etwas ein, was schon längst hätte
getan sein sollen, und sie begann irgendwo oben zu suchen oder zu
ordnen, so daß sie kaum wieder zu erreichen war. Schließlich standen
alle und warteten. Und saß sie endlich und war eingepackt, so zeigte
es sich, daß etwas vergessen sei, und Sieversen mußte geholt werden;
denn nur Sieversen wußte, wo es war. Aber dann fuhr man plötzlich los,
eh Sieversen wiederkam.

An diesem Tag war es überhaupt nicht recht hell geworden. Die Bäume
standen da, als wüßten sie nicht weiter im Nebel, und es hatte etwas
Rechthaberisches, dahinein zu fahren. Zwischendurch fing es an, still
weiterzuschneien, und nun wars, als würde auch noch das Letzte
ausradiert und als führe man in ein weißes Blatt. Es gab nichts als
das Geläut, und man konnte nicht sagen, wo es eigentlich war. Es kam
ein Moment, da es einhielt, als wäre nun die letzte Schelle ausgegeben;
aber dann sammelte es sich wieder und war beisammen und streute sich
wieder aus dem Vollen aus. Den Kirchturm links konnte man sich
eingebildet haben. Aber der Parkkontur war plötzlich da, hoch,
beinahe über einem, und man befand sich in der langen Allee. Das
Geläut fiel nicht mehr ganz ab; es war, als hängte es sich in Trauben
rechts und links an die Bäume. Dann schwenkte man und fuhr rund um
etwas herum und rechts an etwas vorbei und hielt in der Mitte.

Georg hatte ganz vergessen, daß das Haus nicht da war, und für uns
alle war es in diesem Augenblick da. Wir stiegen die Freitreppe
hinauf, die auf die alte Terrasse führte, und wunderten uns nur, daß
es ganz dunkel sei. Auf einmal ging eine Tür, links unten hinter uns,
und jemand rief: "Hierher!" und hob und schwenkte ein dunstiges Licht.
Mein Vater lachte: "Wir steigen hier herum wie die Gespenster", und
er half uns wieder die Stufen zurück.

"Aber es war doch eben ein Haus da", sagte Maman und konnte sich gar
nicht so rasch an Wjera Schulin gewöhnen, die warm und lachend
herausgelaufen war. Nun mußte man natürlich schnell hinein, und an
das Haus war nicht mehr zu denken. In einem engen Vorzimmer wurde man
ausgezogen, und dann war man gleich mitten drin unter den Lampen und
der Wärme gegenüber.

Diese Schulins waren ein mächtiges Geschlecht selbständiger Frauen.
Ich weiß nicht, ob es Söhne gab. Ich erinnere mich nur dreier
Schwestern; der ältesten, die an einen Marchese in Neapel verheiratet
gewesen war, von dem sie sich nun langsam unter vielen Prozessen
schied. Dann kam Zoë, von der es hieß, daß es nichts gab, was sie
nicht wußte. Und vor allem war Wjera da, diese warme Wjera; Gott weiß,
was aus ihr geworden ist. Die Gräfin, eine Narischkin, war
eigentlich die vierte Schwester und in gewisser Beziehung die jüngste.
Sie wußte von nichts und mußte in einem fort von ihren Kindern
unterrichtet werden. Und der gute Graf Schulin fühlte sich, als ob er
mit allen diesen Frauen verheiratet sei, und ging herum und küßte sie,
wie es eben kam.

Vor der Hand lachte er laut und begrüßte uns eingehend. Ich wurde
unter den Frauen weitergegeben und befühlt und befragt. Aber ich
hatte mir fest vorgenommen, wenn das vorüber sei, irgendwie
hinauszugleiten und mich nach dem Haus umzusehen. Ich war überzeugt,
daß es heute da sei. Das Hinauskommen war nicht so schwierig;
zwischen allen den Kleidern kam man unten durch wie ein Hund, und die
Tür nach dem Vorraum zu war noch angelehnt. Aber draußen die äußere
wollte nicht nachgeben. Da waren mehrere Vorrichtungen, Ketten und
Riegel, die ich nicht richtig behandelte in der Eile. Plötzlich ging
sie doch auf, aber mit lautem Geräusch, und eh ich draußen war, wurde
ich festgehalten und zurückgezogen.

"Halt, hier wird nicht ausgekniffen", sagte Wjera Schulin belustigt.
Sie beugte sich zu mir, und ich war entschlossen, dieser warmen Person
nichts zu verraten. Sie aber, als ich nichts sagte, nahm ohne weiters
an, eine Nötigung meiner Natur hätte mich an die Tür getrieben; sie
ergriff meine Hand und fing schon an zu gehen und wollte mich, halb
vertraulich, halb hochmütig, irgendwohin mitziehen. Dieses intime
Mißverständnis kränkte mich über die Maßen. Ich riß mich los und sah
sie böse an. "Das Haus will ich sehen", sagte ich stolz. Sie begriff
nicht.

"Das große Haus draußen an der Treppe."

"Schaf", machte sie und haschte nach mir, "da ist doch gar kein Haus
mehr." Ich bestand darauf.

"Wir gehen einmal bei Tage hin", schlug sie einlenkend vor, "jetzt
kann man da nicht herumkriechen. Es sind Löcher da, und gleich
dahinter sind Papas Fischteiche, die nicht zufrieren dürfen. Da
fällst du hinein und wirst ein Fisch."

Damit schob sie mich vor sich her wieder in die hellen Stuben. Da
saßen sie alle und sprachen, und ich sah sie mir der Reihe nach an:
die gehen natürlich nur hin, wenn es nicht da ist, dachte ich
verächtlich; wenn Maman und ich hier wohnten, so wäre es immer da.
Maman sah zerstreut aus, während alle zugleich redeten. Sie dachte
gewiß an das Haus.

Zoë setzte sich zu mir und stellte mir Fragen. Sie hatte ein
gutgeordnetes Gesicht, in dem sich das Einsehen von Zeit zu Zeit
erneute, als sähe sie beständig etwas ein. Mein Vater saß etwas nach
rechts geneigt und hörte der Marchesin zu, die lachte. Graf Schulin
stand zwischen Maman und seiner Frau und erzählte etwas. Aber die
Gräfin unterbrach ihn, sah ich, mitten im Satze.

"Nein, Kind, das bildest du dir ein", sagte der Graf gutmütig, aber er
hatte auf einmal dasselbe beunruhigte Gesicht, das er vorstreckte über
den beiden Damen. Die Gräfin war von ihrer sogenannten Einbildung
nicht abzubringen. Sie sah ganz angestrengt aus, wie jemand, der
nicht gestört sein will. Sie machte kleine, abwinkende Bewegungen mit
ihren weichen Ringhänden, jemand sagte "sst", und es wurde plötzlich
ganz still.

Hinter den Menschen drängten sich die großen Gegenstände aus dem alten
Hause, viel zu nah. Das schwere Familiensilber glänzte und wölbte
sich, als sähe man es durch Vergrößerungsgläser. Mein Vater sah sich
befremdet um.

"Mama riecht", sagte Wjera Schulin hinter ihm, "da müssen wir immer
alle still sein, sie riecht mit den Ohren", dabei aber stand sie
selbst mit hochgezogenen Augenbrauen da, aufmerksam und ganz Nase.

Die Schulins waren in dieser Beziehung ein bißchen eigen seit dem
Brande. In den engen, überheizten Stuben kam jeden Augenblick ein
Geruch auf, und dann untersuchte man ihn, und jeder gab seine Meinung
ab. Zoë machte sich am Ofen zu tun, sachlich und gewissenhaft, der
Graf ging umher und stand ein wenig in jeder Ecke und wartete; "hier
ist es nicht", sagte er dann. Die Gräfin war aufgestanden und wußte
nicht, wo sie suchen sollte. Mein Vater drehte sich langsam um sich
selbst, als hätte er den Geruch hinter sich. Die Marchesin, die
sofort angenommen hatte, daß es ein garstiger Geruch sei, hielt ihr
Taschentuch vor und sah von einem zum andern, ob es vorüber wäre.
"Hier, hier", rief Wjera von Zeit zu Zeit, als hätte sie ihn. Und um
jedes Wort herum war es merkwürdig still. Was mich angeht, so hatte
ich fleißig mitgerochen. Aber auf einmal (war es die Hitze in den
Zimmern oder das viele nahe Licht) überfiel mich zum erstenmal in
meinem Leben etwas wie Gespensterfurcht. Es wurde mir klar, daß alle
die deutlichen großen Menschen, die eben noch gesprochen und gelacht
hatten, gebückt herumgingen und sich mit etwas Unsichtbarem
beschäftigten; daß sie zugaben, daß da etwas war, was sie nicht sahen.
Und es war schrecklich, daß es stärker war als sie alle.

Meine Angst steigerte sich. Mir war, als könnte das, was sie suchten,
plötzlich aus mir ausbrechen wie ein Ausschlag; und dann würden sie es
sehen und nach mir zeigen. Ganz verzweifelt sah ich nach Maman
hinüber. Sie saß eigentümlich gerade da, mir kam vor, daß sie auf
mich wartete. Kaum war ich bei ihr und fühlte, daß sie innen zitterte,
so wußte ich, daß das Haus jetzt erst wieder verging.

"Malte, Feigling", lachte es irgendwo. Es war Wjeras Stimme. Aber
wir ließen einander nicht los und ertrugen es zusammen; und wir
blieben so, Maman und ich, bis das Haus wieder ganz vergangen war.

Am reichsten an beinah unfaßbaren Erfahrungen waren aber doch die
Geburtstage. Man wußte ja schon, daß das Leben sich darin gefiel,
keine Unterschiede zu machen; aber zu diesem Tage stand man mit einem
Recht auf Freude auf, an dem nicht zu zweifeln war. Wahrscheinlich
war das Gefühl dieses Rechts ganz früh in einem ausgebildet worden, zu
der Zeit, da man nach allem greift und rein alles bekommt und da man
die Dinge, die man gerade festhält, mit unbeirrbarer Einbildungskraft
zu der grundfarbigen Intensität des gerade herrschenden Verlangens
steigert.

Dann aber kommen auf einmal jene merkwürdigen Geburtstage, da man, im
Bewußtsein dieses Rechtes völlig befestigt, die anderen unsicher
werden sieht. Man möchte wohl noch wie früher angekleidet werden und
dann alles Weitere entgegennehmen. Aber kaum ist man wach, so ruft
jemand draußen, die Torte sei noch nicht da; oder man hört, daß etwas
zerbricht, während nebenan der Geschenktisch geordnet wird; oder es
kommt jemand herein und läßt die Türe offen, und man sieht alles, ehe
man es hätte sehen dürfen. Das ist der Augenblick, wo etwas wie eine
Operation an einem geschieht. Ein kurzer, wahnsinnig schmerzhafter
Eingriff. Aber die Hand, die ihn tut, ist geübt und fest. Es ist
gleich vorbei. Und kaum ist es überstanden, so denkt man nicht mehr
an sich; es gilt, den Geburtstag zu retten, die anderen zu beobachten,
ihren Fehlern zuvorzukommen, sie in ihrer Einbildung zu bestärken, daß
sie alles trefflich bewältigen. Sie machen es einem nicht leicht. Es
erweist sich, daß sie von einer beispiellosen Ungeschicklichkeit sind,
beinahe stupide. Sie bringen es zuwege, mit irgendwelchen Paketen
hereinzukommen, die für andere Leute bestimmt sind; man läuft ihnen
entgegen und muß hernach tun, als liefe man überhaupt in der Stube
herum, um sich Bewegung zu schaffen, auf nichts Bestimmtes zu. Sie
wollen einen überraschen und heben mit oberflächlich nachgeahmter
Erwartung die unterste Lage in den Spielzeugschachteln auf, wo weiter
nichts ist als Holzwolle; da muß man ihnen ihre Verlegenheit
erleichtern. Oder wenn es etwas Mechanisches war, so überdrehen sie
das, was sie einem geschenkt haben, beim ersten Aufziehen. Es ist
deshalb gut, wenn man sich beizeiten übt, eine überdrehte Maus oder
dergleichen unauffällig mit dem Fuß weiterzustoßen: auf diese Weise
kann man sie oft täuschen und ihnen über die Beschämung forthelfen.

Das alles leistete man schließlich, wie es verlangt wurde, auch ohne
besondere Begabung. Talent war eigentlich nur nötig, wenn sich einer
Mühe gegeben hatte, und brachte, wichtig und gutmütig, eine Freude,
und man sah schon von weitem, daß es eine Freude für einen ganz
anderen war, eine vollkommen fremde Freude; man wußte nicht einmal
jemanden, dem sie gepaßt hätte: so fremd war sie.

Daß man erzählte, wirklich erzählte, das muß vor meiner Zeit gewesen
sein. Ich habe nie jemanden erzählen hören. Damals, als Abelone mir
von Mamans Jugend sprach, zeigte es sich, daß sie nicht erzählen könne.
Der alte Graf Brahe soll es noch gekonnt haben. Ich will
aufschreiben, was sie davon wußte.

Abelone muß als ganz junges Mädchen eine Zeit gehabt haben, da sie von
einer eigenen, weiten Bewegtheit war. Brahes wohnten damals in der
Stadt, in der Bredgade, unter ziemlicher Geselligkeit. Wenn sie
abends spät hinauf in ihr Zimmer kam, so meinte sie müde zu sein wie
die anderen. Aber dann fühlte sie auf einmal das Fenster und, wenn
ich recht verstanden habe, so konnte sie vor der Nacht stehn,
stundenlang, und denken: das geht mich an. "Wie ein Gefangener stand
ich da", sagte sie, "und die Sterne waren die Freiheit." Sie konnte
damals einschlafen, ohne sich schwer zu machen. Der Ausdruck
In-den-Schlaf-fallen paßt nicht für dieses Mädchenjahr. Schlaf war
etwas, was mit einem stieg, und von Zeit zu Zeit hatte man die Augen
offen und lag auf einer neuen Oberfläche, die noch lang nicht die
oberste war. Und dann war man auf vor Tag; selbst im Winter, wenn die
anderen schläfrig und spät zum späten Frühstück kamen. Abends, wenn
es dunkel wurde, gab es ja immer nur Lichter für alle, gemeinsame
Lichter. Aber diese beiden Kerzen ganz früh in der neuen Dunkelheit,
mit der alles wieder anfing, die hatte man für sich. Sie standen in
ihrem niederen Doppelleuchter und schienen ruhig durch die kleinen,
ovalen, mit Rosen bemalten Tüllschirme, die von Zeit zu Zeit
nachgerückt werden mußten. Das hatte nichts Störendes; denn einmal
war man durchaus nicht eilig, und dann kam es doch so, daß man
manchmal aufsehen mußte und nachdenken, wenn man an einem Brief
schrieb oder in das Tagebuch, das früher einmal mit ganz anderer
Schrift, ängstlich und schön, begonnen war.

Der Graf Brahe lebte ganz abseits von seinen Töchtern. Er hielt es
für Einbildung, wenn jemand behauptete, das Leben mit andern zu teilen.
("Ja, teilen - ", sagte er.) Aber es war ihm nicht unlieb, wenn die
Leute ihm von seinen Töchtern erzählten; er hörte aufmerksam zu, als
wohnten sie in einer anderen Stadt.

Es war deshalb etwas ganz Außerordentliches, daß er einmal nach dem
Frühstück Abelone zu sich winkte: "Wir haben die gleichen Gewohnheiten,
wie es scheint, ich schreibe auch ganz früh. Du kannst mir helfen."
Abelone wußte es noch wie gestern.

Schon am anderen Morgen wurde sie in ihres Vaters Kabinett geführt,
das im Rufe der Unzugänglichkeit stand. Sie hatte nicht Zeit, es in
Augenschein zu nehmen, denn man setzte sie sofort gegen dem Grafen
über an den Schreibtisch, der ihr wie eine Ebene schien mit Büchern
und Schriftstößen als Ortschaften.

Der Graf diktierte. Diejenigen, die behaupteten, daß Graf Brahe seine
Memoiren schriebe, hatten nicht völlig unrecht. Nur daß es sich nicht
um politische oder militärische Erinnerungen handelte, wie man mit
Spannung erwartete. "Die vergesse ich", sagte der alte Herr kurz wenn
ihn jemand auf solche Tatsachen hin anredete. Was er aber nicht
vergessen wollte, das war seine Kindheit. Auf die hielt er. Und es
war ganz in der Ordnung, seiner Meinung nach, daß jene sehr entfernte
Zeit nun in ihm die Oberhand gewann, daß sie, wenn er seinen Blick
nach innen kehrte, dalag wie in einer hellen nordischen Sommernacht,
gesteigert und schlaflos.

Manchmal sprang er auf und redete in die Kerzen hinein, daß sie
flackerten. Oder ganze Sätze mußten wieder durchgestrichen werden,
und dann ging er heftig hin und her und wehte mit seinem nilgrünen,
seidenen Schlafrock. Während alledem war noch eine Person zugegen,
Sten, des Grafen alter, jütländischer Kammerdiener, dessen Aufgabe es
war, wenn der Großvater aufsprang, die Hände schnell über die
einzelnen losen Blätter zu legen, die, mit Notizen bedeckt, auf dem
Tische herumlagen. Seine Gnaden hatten die Vorstellung, daß das
heutige Papier nichts tauge, daß es viel zu leicht sei und davonfliege
bei der geringsten Gelegenheit. Und Sten, von dem man nur die lange
obere Hälfte sah, teilte diesen Verdacht und saß gleichsam auf seinen
Händen, lichtblind und ernst wie ein Nachtvogel.

Dieser Sten verbrachte die Sonntag-Nachmittage damit, Swedenborg zu
lesen, und niemand von der Dienerschaft hätte je sein Zimmer betreten
mögen, weil es hieß, daß er zitiere. Die Familie Stens hatte seit je
Umgang mit Geistern gehabt, und Sten war für diesen Verkehr ganz
besonders vorausbestimmt. Seiner Mutter war etwas erschienen in der
Nacht, da sie ihn gebar. Er hatte große, runde Augen, und das andere
Ende seines Blicks kam hinter jeden zu liegen, den er damit ansah.
Abelonens Vater fragte ihn oft nach den Geistern, wie man sonst
jemanden nach seinen Angehörigen fragt: "Kommen sie, Sten?" sagte er
wohlwollend. "Es ist gut, wenn sie kommen."

Ein paar Tage ging das Diktieren seinen Gang. Aber dann konnte
Abelone 'Eckernförde' nicht schreiben. Es war ein Eigenname, und sie
hatte ihn nie gehört. Der Graf, der im Grunde schon lange einen
Vorwand suchte, das Schreiben aufzugeben, das zu langsam war für seine
Erinnerungen stellte sich unwillig.

"Sie kann es nicht schreiben", sagte er scharf, "und andere werden es
nicht lesen können. Und werden sie es überhaupt sehen, was ich da
sage?" fuhr er böse fort und ließ Abelone nicht aus den Augen.

"Werden sie ihn sehen, diesen Saint-Germain?" schrie er sie an.
"Haben wir Saint-Germain gesagt? streich es durch. Schreib: der
Marquis von Belmare."

Abelone strich durch und schrieb. Aber der Graf sprach so schnell
weiter, daß man nicht mitkonnte.

"Er mochte Kinder nicht leiden, dieser vortreffliche Belmare, aber
mich nahm er auf sein Knie, so klein ich war, und mir kam die Idee, in
seine Diamantknöpfe zu beißen. Das freute ihn. Er lachte und hob mir
den Kopf, bis wir einander in die Augen sahen: 'Du hast ausgezeichnete
Zähne', sagte er, 'Zähne, die etwas unternehmen...' - Ich aber merkte
mir seine Augen. Ich bin später da und dort herumgekommen. Ich habe
allerhand Augen gesehen, kannst du mir glauben: solche nicht wieder.
Für diese Augen hätte nichts da sein müssen, die hattens in sich. Du
hast von Venedig gehört? Gut. Ich sage dir, die hätten Venedig hier
hereingesehen in dieses Zimmer, daß es da gewesen wäre, wie der Tisch.
Ich saß in der Ecke einmal und hörte, wie er meinem Vater von Persien
erzählte, manchmal mein ich noch, mir riechen die Hände davon. Mein
Vater schätzte ihn, und Seine Hoheit, der Landgraf, war so etwas wie
sein Schüler. Aber es gab natürlich genug, die ihm übelnahmen, daß er
an die Vergangenheit nur glaubte, wenn sie in ihm war. Das konnten
sie nicht begreifen, daß der Kram nur Sinn hat, wenn man damit geboren
wird."

"Die Bücher sind leer", schrie der Graf mit einer wütenden Gebärde
nach den Wänden hin, "das Blut, darauf kommt es an, da muß man drin
lesen können. Er hatte wunderliche Geschichten drin und merkwürdige
Abbildungen, dieser Belmare; er konnte aufschlagen, wo er wollte, da
war immer was beschrieben; keine Seite in seinem Blut war überschlagen
worden. Und wenn er sich einschloß von Zeit zu Zeit und allein drin
blätterte, dann kam er zu den Stellen über das Goldmachen und über die
Steine und über die Farben. Warum soll das nicht darin gestanden
haben? Es steht sicher irgendwo."

"Er hätte gut mit einer Wahrheit leben können, dieser Mensch, wenn er
allein gewesen wäre. Aber es war keine Kleinigkeit, allein zu sein
mit einer solchen. Und er war nicht so geschmacklos, die Leute
einzuladen, daß sie ihn bei seiner Wahrheit besuchten; die sollte
nicht ins Gerede kommen: dazu war er viel zu sehr Orientale. 'Adieu,
Madame', sagte er ihr wahrheitsgemäß, 'auf ein anderes Mal.
Vielleicht ist man in tausend Jahren etwas kräftiger und ungestörter.
Ihre Schönheit ist ja doch erst im Werden, Madame', sagte er, und das
war keine bloße Höflichkeit. Damit ging er fort und legte draußen für
die Leute seinen Tierpark an, eine Art Jardin d'Acclimatation für die
größeren Arten von Lügen, die man bei uns noch nie gesehen hatte, und
ein Palmenhaus von Übertreibungen und eine kleine, gepflegte Figuerie
falscher Geheimnisse. Da kamen sie von allen Seiten, und er ging
herum mit Diamantschnallen an den Schuhen und war ganz für seine Gäste
da."

"Eine oberflächliche Existenz: wie? Im Grunde wars doch eine
Ritterlichkeit gegen seine Dame, und er hat sich ziemlich dabei
konserviert."

Seit einer Weile schon redete der Alte nicht mehr auf Abelone ein, die
er vergessen hatte. Er ging wie rasend auf und ab und warf
herausfordernde Blicke auf Sten, als sollte Sten in einem gewissen
Augenblicke sich in den verwandeln, an den er dachte. Aber Sten
verwandelte sich noch nicht.

"Man müßte ihn sehen," fuhr Graf Brahe versessen fort. "Es gab eine
Zeit, wo er durchaus sichtbar war, obwohl in manchen Städten die
Briefe, die er empfing, an niemanden gerichtet waren: es stand nur der
Ort darauf, sonst nichts. Aber ich hab ihn gesehen."

"Er war nicht schön." Der Graf lachte eigentümlich eilig. "Auch
nicht, was die Leute bedeutend nennen oder vornehm: es waren immer
Vornehmere neben ihm. Er war reich: aber das war bei ihm nur wie ein
Einfall, daran konnte man sich nicht halten. Er war gut gewachsen,
obzwar andere hielten sich besser. Ich konnte damals natürlich nicht
beurteilen, ob er geistreich war und das und dies, worauf Wert gelegt
wird - : aber er war."

Der Graf, bebend, stand und machte eine Bewegung, als stellte er etwas
in den Raum hinein, was blieb.

In diesem Moment gewahrte er Abelone.

"Siehst du ihn?" herrschte er sie an. Und plötzlich ergriff er den
einen silbernen Armleuchter und leuchtete ihr blendend ins Gesicht.

Abelone erinnerte sich, daß sie ihn gesehen habe.

In den nächsten Tagen wurde Abelone regelmäßig gerufen, und das
Diktieren ging nach diesem Zwischenfall viel ruhiger weiter. Der Graf
stellte nach allerhand Papieren seine frühesten Erinnerungen an den
Bernstorffschen Kreis zusammen, in dem sein Vater eine gewisse Rolle
spielte. Abelone war jetzt so gut auf die Besonderheiten ihrer Arbeit
eingestellt, daß, wer die beiden sah, ihre zweckdienliche
Gemeinsamkeit leicht für ein wirkliches Vertrautsein nehmen konnte.

Einmal, als Abelone sich schon zurückziehen wollte, trat der alte Herr
auf sie zu, und es war, als hielte er die Hände mit einer Überraschung
hinter sich: "Morgen schreiben wir von Julie Reventlow", sagte er und
kostete seine Worte: "das war eine Heilige."

Wahrscheinlich sah Abelone ihn ungläubig an.

"Ja, ja, das giebt es alles noch", bestand er in befehlendem Tone, "es
giebt alles, Komtesse Abel."

Er nahm Abelonens Hände und schlug sie auf wie ein Buch.

"Sie hatte die Stigmata", sagte er, "hier und hier." Und er tippte
mit seinem kalten Finger hart und kurz in ihre beiden Handflächen.

Den Ausdruck Stigmata kannte Abelone nicht. Es wird sich zeigen,
dachte sie; sie war recht ungeduldig, von der Heiligen zu hören, die
ihr Vater noch gesehen hatte. Aber sie wurde nicht mehr geholt, nicht
am nächsten Morgen und auch später nicht.-"Von der Gräfin Reventlow
ist ja dann oft bei euch gesprochen worden", schloß Abelone kurz, als
ich sie bat, mehr zu erzählen. Sie sah müde aus; auch behauptete sie,
das Meiste vergessen zu haben. "Aber die Stellen fühl ich noch
manchmal", lächelte sie und konnte es nicht lassen und schaute beinah
neugierig in ihre leeren Hände.

Noch vor meines Vaters Tod war alles anders geworden. Ulsgaard war
nicht mehr in unserm Besitz. Mein Vater starb in der Stadt, in einer
Etagenwohnung, die mir feindsälig und befremdlich schien. Ich war
damals schon im Ausland und kam zu spät.

Er war aufgebahrt in einem Hofzimmer zwischen zwei Reihen hoher Kerzen.
Der Geruch der Blumen war unverständlich wie viele gleichzeitige
Stimmen. Sein schönes Gesicht, darin die Augen geschlossen worden
waren, hatte einen Ausdruck höflichen Erinnerns. Er war eingekleidet
in die Jägermeisters-Uniform, aber aus irgendeinem Grunde hatte man
das weiße Band aufgelegt, statt des blauen. Die Hände waren nicht
gefaltet, sie lagen schräg übereinander und sahen nachgemacht und
sinnlos aus. Man hatte mir rasch erzählt, daß er viel gelitten habe:
es war nichts davon zu sehen. Seine Züge waren aufgeräumt wie die
Möbel in einem Fremdenzimmer, aus dem jemand abgereist war. Mir war
zumute, als hätte ich ihn schon öfter tot gesehen: so gut kannte ich
das alles.

Neu war nur die Umgebung, auf eine unangenehme Art. Neu war dieses
bedrückende Zimmer, das Fenster gegenüber hatte, wahrscheinlich die
Fenster anderer Leute. Neu war es, daß Sieversen von Zeit zu Zeit
hereinkam und nichts tat. Sieversen war alt geworden. Dann sollte
ich frühstücken. Mehrmals wurde mir das Frühstück gemeldet. Mir lag
durchaus nichts daran, zu frühstücken an diesem Tage. Ich merkte
nicht, daß man mich forthaben wollte; schließlich, da ich nicht ging,
brachte Sieversen es irgendwie heraus, daß die Ärzte da wären. Ich
begriff nicht, wozu. Es wäre da noch etwas zu tun, sagte Sieversen
und sah mich mit ihren roten Augen angestrengt an. Dann traten, etwas
überstürzt, zwei Herren herein: das waren die Ärzte. Der vordere
senkte seinen Kopf mit einem Ruck, als hätte er Hörner und wollte
stoßen, um uns über seine Gläser fort anzusehen: erst Sieversen, dann
mich.

Er verbeugte sich mit studentischer Förmlichkeit. "Der Herr
Jägermeister hatte noch einen Wunsch", sagte er genau so, wie er
eingetreten war; man hatte wieder das Gefühl, daß er sich überstürzte.
Ich nötigte ihn irgendwie, seinen Blick durch seine Gläser zu richten.
Sein Kollege war ein voller, dünnschaliger, blonder Mensch; es fiel
mir ein, daß man ihn leicht zum Erröten bringen könnte. Darüber
entstand eine Pause. Es war seltsam, daß der Jägermeister jetzt noch
Wünsche hatte.

Ich blickte unwillkürlich wieder hin in das schöne, gleichmäßige
Gesicht. Und da wußte ich, daß er Sicherheit wollte. Die hatte er im
Grunde immer gewünscht. Nun sollte er sie bekommen.

"Sie sind wegen des Herzstichs da: bitte."

Ich verneigte mich und trat zurück. Die beiden Ärzte verbeugten sich
gleichzeitig und begannen sofort sich über ihre Arbeit zu verständigen.
Jemand rückte auch schon die Kerzen beiseite. Aber der Ältere
machte nochmals ein paar Schritte auf mich zu. Aus einer gewissen
Nähe streckte er sich vor, um das letzte Stück Weg zu ersparen, und
sah mich böse an.

"Es ist nicht nötig", sagte er, "das heißt, ich meine, es ist
vielleicht besser, wenn Sie... "

Er kam mir vernachlässigt und abgenutzt vor in seiner sparsamen und
eiligen Haltung. Ich verneigte mich abermals; es machte sich so, daß
ich mich schon wieder verneigte.

"Danke", sagte ich knapp. "Ich werde nicht stören."

Ich wußte, daß ich dieses ertragen würde und daß kein Grund da war,
sich dieser Sache zu entziehen. Das hatte so kommen müssen. Das war
vielleicht der Sinn von dem Ganzen. Auch hatte ich nie gesehen, wie
es ist, wenn jemand durch die Brust gestochen wird. Es schien mir in
der Ordnung, eine so merkwürdige Erfahrung nicht abzulehnen, wo sie
sich zwanglos und unbedingt einstellte. An Enttäuschungen glaubte ich
damals eigentlich schon nicht mehr; also war nichts zu befürchten.

Nein, nein, vorstellen kann man sich nichts auf der Welt, nicht das
Geringste. Es ist alles aus so viel einzigen Einzelheiten
zusammengesetzt, die sich nicht absehen lassen. Im Einbilden geht man
über sie weg und merkt nicht, daß sie fehlen, schnell wie man ist.
Die Wirklichkeiten aber sind langsam und unbeschreiblich ausführlich.

Wer hätte zum Beispiel an diesen Widerstand gedacht. Kaum war die
breite, hohe Brust bloßgelegt, so hatte der eilige kleine Mann schon
die Stelle heraus, um die es sich handelte. Aber das rasch angesetzte
Instrument drang nicht ein. Ich hatte das Gefühl, als wäre plötzlich
alle Zeit fort aus dem Zimmer. Wir befanden uns wie in einem Bilde.
Aber dann stürzte die Zeit nach mit einem kleinen, gleitenden Geräusch,
und es war mehr da, als verbraucht wurde. Auf einmal klopfte es
irgendwo. Ich hatte noch nie so klopfen hören: ein warmes,
verschlossenes, doppeltes Klopfen. Mein Gehör gab es weiter, und ich
sah zugleich, daß der Arzt auf Grund gestoßen war. Aber es dauerte
eine Weile, bevor die beiden Eindrücke in mir zusammenkamen. So, so,
dachte ich, nun ist es also durch. Das Klopfen war, was das Tempo
betrifft, beinah schadenfroh.

Ich sah mir den Mann an, den ich nun schon so lange kannte. Nein, er
war völlig beherrscht: ein rasch und sachlich arbeitender Herr, der
gleich weiter mußte. Es war keine Spur von Genuß oder Genugtuung
dabei. Nur an seiner linken Schläfe hatten sich ein paar Haare
aufgestellt aus irgendeinem alten Instinkt. Er zog das Instrument
vorsichtig zurück, und es war etwas wie ein Mund da, aus dem zweimal
hintereinander Blut austrat, als sagte er etwas Zweisilbiges. Der
junge, blonde Arzt nahm es schnell mit einer eleganten Bewegung in
seine Watte auf. Und nun blieb die Wunde ruhig, wie ein geschlossenes
Auge.

Es ist anzunehmen, daß ich mich noch einmal verneigte, ohne diesmal
recht bei der Sache zu sein. Wenigstens war ich erstaunt, mich allein
zu finden. Jemand hatte die Uniform wieder in Ordnung gebracht, und
das weiße Band lag darüber wie vorher. Aber nun war der Jägermeister
tot, und nicht er allein. Nun war das Herz durchbohrt, unser Herz,
das Herz unseres Geschlechts. Nun war es vorbei. Das war also das
Helmzerbrechen: "Heute Brigge und nimmermehr", sagte etwas in mir.

An mein Herz dachte ich nicht. Und als es mir später einfiel, wußte
ich zum erstenmal ganz gewiß, daß es hierfür nicht in Betracht kam.
Es war ein einzelnes Herz. Es war schon dabei, von Anfang anzufangen.

Ich weiß, daß ich mir einbildete, nicht sofort wieder abreisen zu
können. Erst muß alles geordnet sein, wiederholte ich mir. Was
geordnet sein wollte, war mir nicht klar. Es war so gut wie nichts zu
tun. Ich ging in der Stadt umher und konstatierte, daß sie sich
verändert hatte. Es war mir angenehm, aus dem Hotel hinauszutreten,
in dem ich abgestiegen war, und zu sehen, daß es nun eine Stadt für
Erwachsene war, die sich für einen zusammennahm, fast wie für einen
Fremden. Ein bißchen klein war alles geworden, und ich promenierte
die Langelinie hinaus bis an den Leuchtturm und wieder zurück. Wenn
ich in die Gegend der Amaliengade kam, so konnte es freilich geschehen,
daß von irgendwo etwas ausging, was man jahrelang anerkannt hatte und
was seine Macht noch einmal versuchte. Es gab da gewisse Eckfenster
oder Torbogen oder Laternen, die viel von einem wußten und damit
drohten. Ich sah ihnen ins Gesicht und ließ sie fühlen, daß ich im
Hotel 'Phönix' wohnte und jeden Augenblick wieder reisen konnte. Aber
mein Gewissen war nicht ruhig dabei. Der Verdacht stieg in mir auf,
daß noch keiner dieser Einflüsse und Zusammenhänge wirklich bewältigt
worden war. Man hatte sie eines Tages heimlich verlassen, unfertig
wie sie waren. Auch die Kindheit würde also gewissermaßen noch zu
leisten sein, wenn man sie nicht für immer verloren geben wollte. Und
während ich begriff, wie ich sie verlor, empfand ich zugleich, daß ich
nie etwas anderes haben würde, mich darauf zu berufen.

Ein paar Stunden täglich brachte ich in Dronningens Tværgade zu, in
den engen Zimmern, die beleidigt aussahen wie alle Mietswohnungen, in
denen jemand gestorben ist. Ich ging zwischen dem Schreibtisch und
dem großen weißen Kachelofen hin und her und verbrannte die Papiere
des Jägermeisters. Ich hatte begonnen, die Briefschaften, so wie sie
zusammengebunden waren, ins Feuer zu werfen, aber die kleinen Pakete
waren zu fest verschnürt und verkohlten nur an den Rändern. Es
kostete mich Überwindung, sie zu lockern. Die meisten hatten einen
starken, überzeugenden Duft, der auf mich eindrang, als wollte er auch
in mir Erinnerungen aufregen. Ich hatte keine. Dann konnte es
geschehen, daß Photographien herausglitten, die schwerer waren als das
andere; diese Photographien verbrannten unglaublich langsam. Ich weiß
nicht, wie es kam, plötzlich bildete ich mir ein, es könnte Ingeborgs
Bild darunter sein. Aber sooft ich hinsah, waren es reife, großartige,
deutlich schöne Frauen, die mich auf andere Gedanken brachten. Es
erwies sich nämlich, daß ich doch nicht ganz ohne Erinnerungen war.
Genau solche Augen waren es, in denen ich mich manchmal fand, wenn ich,
zur Zeit da ich heranwuchs, mit meinem Vater über die Straße ging.
Dann konnten sie von einem Wageninnern aus mich mit einem Blick
umgeben, aus dem kaum hinauszukommen war. Nun wußte ich, daß sie mich
damals mit ihm verglichen und daß der Vergleich nicht zu meinen
Gunsten ausfiel. Gewiß nicht, Vergleiche hatte der Jägermeister nicht
zu fürchten.

Es kann sein, daß ich nun etwas weiß, was er gefürchtet hat. Ich will
sagen, wie ich zu dieser Annahme komme. Ganz innen in seiner
Brieftasche befand sich ein Papier, seit lange gefaltet, mürbe,
gebrochen in den Bügen. Ich habe es gelesen, bevor ich es verbrannte.
Es war von seiner besten Hand, sicher und gleichmäßig geschrieben,
aber ich merkte gleich, daß es nur eine Abschrift war.

"Drei Stunden vor seinem Tod", so begann es und handelte von Christian
dem Vierten. Ich kann den Inhalt natürlich nicht wörtlich wiederholen.
Drei Stunden vor seinem Tod begehrte er aufzustehen. Der Arzt und
der Kammerdiener Wormius halfen ihm auf die Füße. Er stand ein wenig
unsicher, aber er stand, und sie zogen ihm das gesteppte Nachtkleid an.
Dann setzte er sich plötzlich vorn an das Bettende und sagte etwas.
Es war nicht zu verstehen. Der Arzt behielt immerzu seine linke Hand,
damit der König nicht auf das Bett zurücksinke. So saßen sie, und der
König sagte von Zeit zu Zeit mühsam und trübe das Unverständliche.
Schließlich begann der Arzt ihm zuzusprechen; er hoffte allmählich zu
erraten, was der König meinte. Nach einer Weile unterbrach ihn der
König und sagte auf einmal ganz klar: "O, Doktor, Doktor, wie heißt
er?" Der Arzt hatte Mühe, sich zu besinnen.

"Sperling, Allergnädigster König."

Aber darauf kam es nun wirklich nicht an. Der König, sobald er hörte,
daß man ihn verstand, riß das rechte Auge, das ihm geblieben war, weit
auf und sagte mit dem ganzen Gesicht das eine Wort, das seine Zunge
seit Stunden formte, das einzige, das es noch gab: "Döden", sagte er,
"Döden." (Der Tod, der Tod)

Mehr stand nicht auf dem Blatt. Ich las es mehrere Male, ehe ich es
verbrannte. Und es fiel mir ein, daß mein Vater viel gelitten hatte
zuletzt. So hatte man mir erzählt.

Seitdem habe ich viel über die Todesfurcht nachgedacht, nicht ohne
gewisse eigene Erfahrungen dabei zu berücksichtigen. Ich glaube, ich
kann wohl sagen, ich habe sie gefühlt. Sie überfiel mich in der
vollen Stadt, mitten unter den Leuten, oft ganz ohne Grund. Oft
allerdings häuften sich die Ursachen; wenn zum Beispiel jemand auf
einer Bank verging und alle standen herum und sahen ihm zu, und er war
schon über das Fürchten hinaus: dann hatte ich seine Furcht. Oder in
Neapel damals: da saß diese junge Person mir gegenüber in der
Elektrischen Bahn und starb. Erst sah es wie eine Ohnmacht aus, wir
fuhren sogar noch eine Weile. Aber dann war kein Zweifel, daß wir
stehenbleiben mußten. Und hinter uns standen die Wagen und stauten
sich, als ginge es in dieser Richtung nie mehr weiter. Das blasse,
dicke Mädchen hätte so, angelehnt an ihre Nachbarin, ruhig sterben
können. Aber ihre Mutter gab das nicht zu. Sie bereitete ihr alle
möglichen Schwierigkeiten. Sie brachte ihre Kleider in Unordnung und
goß ihr etwas in den Mund, der nichts mehr behielt. Sie verrieb auf
ihrer Stirn eine Flüssigkeit, die jemand gebracht hatte, und wenn die
Augen dann ein wenig verrollten, so begann sie an ihr zu rütteln,
damit der Blick wieder nach vorne käme. Sie schrie in diese Augen
hinein, die nicht hörten, sie zerrte und zog das Ganze wie eine Puppe
hin und her, und schließlich holte sie aus und schlug mit aller Kraft
in das dicke Gesicht, damit es nicht stürbe. Damals fürchtete ich
mich.

Aber ich fürchtete mich auch schon früher. Zum Beispiel, als mein
Hund starb. Derselbe, der mich ein- für allemal beschuldigte. Er war
sehr krank. Ich kniete bei ihm schon den ganzen Tag, da plötzlich
bellte er auf, ruckweise und kurz, wie er zu tun pflegte, wenn ein
Fremder ins Zimmer trat. Ein solches Bellen war für diesen Fall
zwischen uns gleichsam verabredet worden, und ich sah unwillkürlich
nach der Tür. Aber es war schon in ihm. Beunruhigt suchte ich seinen
Blick, und auch er suchte den meinen; aber nicht um Abschied zu nehmen.
Er sah mich hart und befremdet an. Er warf mir vor, daß ich es
hereingelassen hatte. Er war überzeugt, ich hätte es hindern können.
Nun zeigte es sich, daß er mich immer überschätzt hatte. Und es war
keine Zeit mehr, ihn aufzuklären. Er sah mich befremdet und einsam an,
bis es zu Ende war.

Oder ich fürchtete mich, wenn im Herbst nach den ersten Nachtfrösten
die Fliegen in die Stuben kamen und sich noch einmal in der Wärme
erholten. Sie waren merkwürdig vertrocknet und erschraken bei ihrem
eigenen Summen; man konnte sehen, daß sie nicht mehr recht wußten, was
sie taten. Sie saßen stundenlang da und ließen sich gehen, bis es
ihnen einfiel, daß sie noch lebten; dann warfen sie sich blindlings
irgendwohin und begriffen nicht, was sie dort sollten, und man hörte
sie weiterhin niederfallen und drüben und anderswo. Und endlich
krochen sie überall und bestarben langsam das ganze Zimmer.

Aber sogar wenn ich allein war, konnte ich mich fürchten. Warum soll
ich tun, als wären jene Nächte nicht gewesen, da ich aufsaß vor
Todesangst und mich daran klammerte, daß das Sitzen wenigstens noch
etwas Lebendiges sei: daß Tote nicht saßen. Das war immer in einem
von diesen zufälligen Zimmern, die mich sofort im Stich ließen, wenn
es mir schlecht ging, als fürchteten sie, verhört und in meine argen
Sachen verwickelt zu werden. Da saß ich, und wahrscheinlich sah ich
so schrecklich aus, daß nichts den Mut hatte, sich zu mir zu bekennen.
Nicht einmal das Licht, dem ich doch eben den Dienst erwiesen hatte,
es anzuzünden, wollte von mir wissen. Es brannte so vor sich hin, wie
in einem leeren Zimmer. Meine letzte Hoffnung war dann immer das
Fenster. Ich bildete mir ein, dort draußen könnte noch etwas sein,
was zu mir gehörte, auch jetzt, auch in dieser plötzlichen Armut des
Sterbens. Aber kaum hatte ich hingesehen, so wünschte ich, das
Fenster wäre verrammelt gewesen, zu, wie die Wand. Denn nun wußte ich,
daß es dort hinaus immer gleich teilnahmslos weiterging, daß auch
draußen nichts als meine Einsamkeit war. Die Einsamkeit, die ich über
mich gebracht hatte und zu deren Größe mein Herz in keinem Verhältnis
mehr stand. Menschen fielen mir ein, von denen ich einmal
fortgegangen war, und ich begriff nicht, wie man Menschen verlassen
konnte.

Mein Gott, mein Gott, wenn mir noch solche Nächte bevorstehen, laß mir
doch wenigstens einen von den Gedanken, die ich zuweilen denken konnte.
Es ist nicht so unvernünftig, was ich da verlange; denn ich weiß,
daß sie gerade aus der Furcht gekommen sind, weil meine Furcht so groß
war. Da ich ein Knabe war, schlugen sie mich ins Gesicht und sagten
mir, daß ich feige sei. Das war, weil ich mich noch schlecht
fürchtete. Aber seitdem habe ich mich fürchten gelernt mit der
wirklichen Furcht, die nur zunimmt, wenn die Kraft zunimmt, die sie
erzeugt. Wir haben keine Vorstellung von dieser Kraft, außer in
unserer Furcht. Denn so ganz unbegreiflich ist sie, so völlig gegen
uns, daß unser Gehirn sich zersetzt an der Stelle, wo wir uns
anstrengen, sie zu denken. Und dennoch, seit einer Weile glaube ich,
daß es unsere Kraft ist, alle unsere Kraft, die noch zu stark ist für
uns. Es ist wahr, wir kennen sie nicht, aber ist es nicht gerade
unser Eigenstes, wovon wir am wenigsten wissen? Manchmal denke ich
mir, wie der Himmel entstanden ist und der Tod: dadurch, daß wir unser
Kostbarstes von uns fortgerückt haben, weil noch so viel anderes zu
tun war vorher und weil es bei uns Beschäftigten nicht in Sicherheit
war. Nun sind Zeiten darüber vergangen, und wir haben uns an
Geringeres gewöhnt. Wir erkennen unser Eigentum nicht mehr und
entsetzen uns vor seiner äußersten Großheit. Kann das nicht sein?

Ich begreife übrigens jetzt gut, daß man ganz innen in der Brieftasche
die Beschreibung einer Sterbestunde bei sich trägt durch alle die
Jahre. Es müßte nicht einmal eine besonders gesuchte sein; sie haben
alle etwas fast Seltenes. Kann man sich zum Beispiel nicht jemanden
vorstellen, der sich abschreibt, wie Felix Arvers gestorben ist. Es
war im Hospital. Er starb auf eine sanfte und gelassene Weise, und
die Nonne meinte vielleicht, daß er damit schon weiter sei, als er in
Wirklichkeit war. Sie rief ganz laut irgend eine Weisung hinaus, wo
das und das zu finden wäre. Es war eine ziemlich ungebildete Nonne;
sie hatte das Wort Korridor, das im Augenblick nicht zu vermeiden war,
nie geschrieben gesehen; so konnte es geschehen, daß sie 'Kollidor'
sagte in der Meinung, es hieße so. Da schob Arvers das Sterben hinaus.
Es schien ihm nötig, dieses erst aufzuklären. Er wurde ganz klar
und setzte ihr auseinander, daß es 'Korridor' hieße. Dann starb er.
Er war ein Dichter und haßte das Ungefähre; oder vielleicht war es ihm
nur um die Wahrheit zu tun; oder es störte ihn, als letzten Eindruck
mitzunehmen, daß die Welt so nachlässig weiterginge. Das wird nicht
mehr zu entscheiden sein. Nur soll man nicht glauben, daß es
Pedanterie war. Sonst träfe derselbe Vorwurf den heiligen Jean de
Dieu, der in seinem Sterben aufsprang und gerade noch zurechtkam, im
Garten den eben Erhängten abzuschneiden, von dem auf wunderbare Art
Kunde in die verschlossene Spannung seiner Agonie gedrungen war. Auch
ihm war es nur um die Wahrheit zu tun.

Es giebt ein Wesen, das vollkommen unschädlich ist, wenn es dir in die
Augen kommt, du merkst es kaum und hast es gleich wieder vergessen.
Sobald es dir aber unsichtbar auf irgendeine Weise ins Gehör gerät, so
entwickelt es sich dort, es kriecht gleichsam aus, und man hat Fälle
gesehen, wo es bis ins Gehirn vordrang und in diesem Organ verheerend
gedieh, ähnlich den Pneumokokken des Hundes, die durch die Nase
eindringen.

Dieses Wesen ist der Nachbar.

Nun, ich habe, seit ich so vereinzelt herumkomme, unzählige Nachbaren
gehabt; obere und untere, rechte und linke, manchmal alle vier Arten
zugleich. Ich könnte einfach die Geschichte meiner Nachbaren
schreiben; das wäre ein Lebenswerk. Es wäre freilich mehr die
Geschichte der Krankheitserscheinungen, die sie in mir erzeugt haben;
aber das teilen sie mit allen derartigen Wesen, daß sie nur in den
Störungen nachzuweisen sind, die sie in gewissen Geweben hervorrufen.

Ich habe unberechenbare Nachbaren gehabt und sehr regelmäßige. Ich
habe gesessen und das Gesetz der ersten herauszufinden versucht; denn
es war klar, daß auch sie eines hatten. Und wenn die pünktlichen
einmal am Abend ausblieben, so hab ich mir ausgemalt, was ihnen könnte
zugestoßen sein, und habe mein Licht brennen lassen und mich
geängstigt wie eine junge Frau. Ich habe Nachbaren gehabt, die gerade
haßten, und Nachbaren, die in eine heftige Liebe verwickelt waren;
oder ich erlebte es, daß bei ihnen eines in das andere umsprang mitten
in der Nacht, und dann war natürlich an Schlafen nicht zu denken. Da
konnte man überhaupt beobachten, daß der Schlaf durchaus nicht so
häufig ist, wie man meint. Meine beiden Petersburger Nachbaren zum
Beispiel gaben nicht viel auf Schlaf. Der eine stand und spielte die
Geige, und ich bin sicher, daß er dabei hinübersah in die überwachen
Häuser, die nicht aufhörten hell zu sein in den unwahrscheinlichen
Augustnächten. Von dem anderen zur Rechten weiß ich allerdings, daß
er lag; er stand zu meiner Zeit überhaupt nicht mehr auf. Er hatte
sogar die Augen geschlossen; aber man konnte nicht sagen, daß er
schlief. Er lag und sagte lange Gedichte her, Gedichte von Puschkin
und Nekrassow, in dem Tonfall, in dem Kinder Gedichte hersagen, wenn
man es von ihnen verlangt. Und trotz der Musik meines linken Nachbars,
war es dieser mit seinen Gedichten, der sich in meinem Kopfe
einpuppte, und Gott weiß, was da ausgekrochen wäre, wenn nicht der
Student, der ihn zuweilen besuchte, sich eines Tages in der Tür geirrt
hätte. Er erzählte mir die Geschichte seines Bekannten, und es ergab
sich, daß sie gewissermaßen beruhigend war. Jedenfalls war es eine
wörtliche, eindeutige Geschichte, an der die vielen Würmer meiner
Vermutungen zugrunde gingen.

Dieser kleine Beamte da nebenan war eines Sonntags auf die Idee
gekommen, eine merkwürdige Aufgabe zu lösen. Er nahm an, daß er recht
lange leben würde, sagen wir noch fünfzig Jahre. Die Großmütigkeit,
die er sich damit erwies, versetzte ihn in eine glänzende Stimmung.
Aber nun wollte er sich selber übertreffen. Er überlegte, daß man
diese Jahre in Tage, in Stunden, in Minuten, ja, wenn man es aushielt,
in Sekunden umwechseln könne, und er rechnete und rechnete, und es kam
eine Summe heraus, wie er noch nie eine gesehen hatte. Ihn
schwindelte. Er mußte sich ein wenig erholen. Zeit war kostbar,
hatte er immer sagen hören, und es wunderte ihn, daß man einen
Menschen, der eine solche Menge Zeit besaß, nicht geradezu bewachte.
Wie leicht konnte er bestohlen werden. Dann aber kam seine gute,
beinah ausgelassene Laune wieder, er zog seinen Pelz an, um etwas
breiter und stattlicher auszusehen, und machte sich das ganze
fabelhafte Kapital zum Geschenk, indem er sich ein bißchen
herablassend anredete:

"Nikolaj Kusmitsch", sagte er wohlwollend und stellte sich vor, daß er
außerdem noch, ohne Pelz, dünn und dürftig auf dem Roßhaarsofa säße,
"ich hoffe, Nikolaj Kusmitsch", sagte er, "Sie werden sich nichts auf
Ihren Reichtum einbilden. Bedenken Sie immer, daß das nicht die
Hauptsache ist, es giebt arme Leute, die durchaus respektabel sind; es
giebt sogar verarmte Edelleute und Generalstöchter, die auf der Straße
herumgehen und etwas verkaufen." Und der Wohltäter führte noch
allerlei in der ganzen Stadt bekannte Beispiele an.

Der andere Nikolaj Kusmitsch, der auf dem Roßhaarsofa, der Beschenkte,
sah durchaus noch nicht übermütig aus, man durfte annehmen, daß er
vernünftig sein würde. Er änderte in der Tat nichts an seiner
bescheidenen, regelmäßigen Lebensführung, und die Sonntage brachte er
nun damit zu, seine Rechnung in Ordnung zu bringen. Aber schon nach
ein paar Wochen fiel es ihm auf, daß er unglaublich viel ausgäbe. Ich
werde mich einschränken, dachte er. Er stand früher auf, er wusch
sich weniger ausführlich, er trank stehend seinen Tee, er lief ins
Bureau und kam viel zu früh. Er ersparte überall ein bißchen Zeit.
Aber am Sonntag war nichts Erspartes da. Da begriff er, daß er
betrogen sei. Ich hätte nicht wechseln dürfen, sagte er sich. Wie
lange hat man an so einem Jahr. Aber da, dieses infame Kleingeld, das
geht hin, man weiß nicht wie. Und es wurde ein häßlicher Nachmittag,
als er in der Sofaecke saß und auf den Herrn im Pelz wartete, von dem
er seine Zeit zurückverlangen wollte. Er wollte die Tür verriegeln
und ihn nicht fortlassen, bevor er nicht damit herausgerückt war. "In
Scheinen", wollte er sagen, "meinetwegen zu zehn Jahren." Vier
Scheine zu zehn und einer zu fünf, und den Rest sollte er behalten, in
des Teufels Namen. Ja, er war bereit, ihm den Rest zu schenken, nur
damit keine Schwierigkeiten entstünden. Gereizt saß er im Roßhaarsofa
und wartete, aber der Herr kam nicht. Und er, Nikolaj Kusmitsch, der
sich vor ein paar Wochen mit Leichtigkeit so hatte dasitzen sehen, er
konnte sich jetzt, da er wirklich saß, den andern Nikolaj Kusmitsch,
den im Pelz, den Großmütigen, nicht vorstellen. Weiß der Himmel, was
aus ihm geworden war, wahrscheinlich war man seinen Betrügereien auf
die Spur gekommen, und er saß nun schon irgendwo fest. Sicher hatte
er nicht ihn allein ins Unglück gebracht. Solche Hochstapler arbeiten
immer im großen.

Es fiel ihm ein, daß es eine staatliche Behörde geben müsse, eine Art
Zeitbank, wo er wenigstens einen Teil seiner lumpigen Sekunden
umwechseln könne. Echt waren sie doch schließlich. Er hatte nie von
einer solchen Anstalt gehört, aber im Adreßbuch würde gewiß etwas
Derartiges zu finden sein, unter Z, oder vielleicht auch hieß es 'Bank
für Zeit'; man konnte leicht unter B nachsehen. Eventuell war auch
der Buchstabe K zu berücksichtigen, denn es war anzunehmen, daß es ein
kaiserliches Institut war; das entsprach seiner Wichtigkeit.

Später versicherte Nikolaj Kusmitsch immer, daß er an jenem Sonntag
Abend, obwohl er sich begreiflicherweise in recht gedrückter Stimmung
befand, nichts getrunken habe. Er war also völlig nüchtern, als das
Folgende passierte, soweit man überhaupt sagen kann, was da geschah.
Vielleicht, daß er ein bißchen in seiner Ecke eingeschlummert war, das
ließe sich immerhin denken. Dieser kleine Schlaf verschaffte ihm
zunächst lauter Erleichterung. Ich habe mich mit den Zahlen
eingelassen, redete er sich zu. Nun, ich verstehe nichts von Zahlen.
Aber es ist klar, daß man ihnen keine zu große Bedeutung einräumen
darf; sie sind doch sozusagen nur eine Einrichtung von Staats wegen,
um der Ordnung willen. Niemand hatte doch je anderswo als auf dem
Papier eine gesehen. Es war ausgeschlossen, daß einem zum Beispiel in
einer Gesellschaft eine Sieben oder eine Fünfundzwanzig begegnete. Da
gab es die einfach nicht. Und dann war da diese kleine Verwechslung
vorgefallen, aus purer Zerstreutheit: Zeit und Geld, als ob sich das
nicht auseinanderhalten ließe. Nikolaj Kusmitsch lachte beinah. Es
war doch gut, wenn man sich so auf die Schliche kam, und rechtzeitig,
das war das Wichtige, rechtzeitig. Nun sollte es anders werden. Die
Zeit, ja, das war eine peinliche Sache. Aber betraf es etwa ihn
allein, ging sie nicht auch den andern so, wie er es herausgefunden
hatte, in Sekunden, auch wenn sie es nicht wußten?

Nikolaj Kusmitsch war nicht ganz frei von Schadenfreude: Mag sie
immerhin - , wollte er eben denken, aber da geschah etwas
Eigentümliches. Es wehte plötzlich an seinem Gesicht, es zog ihm an
den Ohren vorbei, er fühlte es an den Händen. Er riß die Augen auf.
Das Fenster war fest verschlossen. Und wie er da so mit weiten Augen
im dunkeln Zimmer saß, da begann er zu verstehen, daß das, was er nun
verspürte, die wirkliche Zeit sei, die vorüberzog. Er erkannte sie
förmlich, alle diese Sekündchen, gleich lau, eine wie die andere, aber
schnell, aber schnell. Weiß der Himmel, was sie noch vorhatten. Daß
gerade ihm das widerfahren mußte, der jede Art von Wind als
Beleidigung empfand. Nun würde man dasitzen, und es würde immer so
weiterziehen, das ganze Leben lang. Er sah alle die Neuralgien voraus,
die man sich dabei holen würde, er war außer sich vor Wut. Er sprang
auf, aber die Uberraschungen waren noch nicht zu Ende. Auch unter
seinen Füßen war etwas wie eine Bewegung, nicht nur eine, mehrere,
merkwürdig durcheinanderschwankende Bewegungen. Er erstarrte vor
Entsetzen: konnte das die Erde sein? Gewiß, das war die Erde. Sie
bewegte sich ja doch. In der Schule war davon gesprochen worden, man
war etwas eilig darüber weggegangen, und später wurde es gern
vertuscht; es galt nicht für passend, davon zu sprechen. Aber nun, da
er einmal empfindlich geworden war, bekam er auch das zu fühlen. Ob
die anderen es fühlten? Vielleicht, aber sie zeigten es nicht.
Wahrscheinlich machte es ihnen nichts aus, diesen Seeleuten. Nikolaj
Kusmitsch aber war ausgerechnet in diesem Punkt etwas delikat, er
vermied sogar die Straßenbahnen. Er taumelte im Zimmer umher wie auf
Deck und mußte sich rechts und links halten. Zum Unglück fiel ihm
noch etwas von der schiefen Stellung der Erdachse ein. Nein, er
konnte alle diese Bewegungen nicht vertragen. Er fühlte sich elend.
Liegen und ruhig halten, hatte er einmal irgendwo gelesen. Und
seither lag Nikolaj Kusmitsch.

Er lag und hatte die Augen geschlossen. Und es gab Zeiten, weniger
bewegte Tage sozusagen, wo es ganz erträglich war. Und dann hatte er
sich das ausgedacht mit den Gedichten. Man sollte nicht glauben, wie
das half. Wenn man so ein Gedicht langsam hersagte, mit gleichmäßiger
Betonung der Endreime, dann war gewissermaßen etwas Stabiles da,
worauf man sehen konnte, innerlich versteht sich. Ein Glück, daß er
alle diese Gedichte wußte. Aber er hatte sich immer ganz besonders
für Literatur interessiert. Er beklagte sich nicht über seinen
Zustand, versicherte mir der Student, der ihn lange kannte. Nur hatte
sich mit der Zeit eine übertriebene Bewunderung für die in ihm
herausgebildet, die, wie der Student, herumgingen und die Bewegung der
Erde vertrugen.

Ich erinnere mich dieser Geschichte so genau, weil sie mich ungemein
beruhigte. Ich kann wohl sagen, ich habe nie wieder einen so
angenehmen Nachbar gehabt, wie diesen Nikolaj Kusmitsch, der sicher
auch mich bewundert hätte.

Ich nahm mir nach dieser Erfahrung vor, in ähnlichen Fällen immer
gleich auf die Tatsachen loszugehen. Ich merkte, wie einfach und
erleichternd sie waren, den Vermutungen gegenüber. Als ob ich nicht
gewußt hätte, daß alle unsere Einsichten nachträglich sind, Abschlüsse,
nichts weiter. Gleich dahinter fängt eine neue Seite an mit etwas
ganz anderem, ohne Übertrag. Was halfen mir jetzt im gegenwärtigen
Falle die paar Tatsachen, die sich spielend feststellen ließen. Ich
will sie gleich aufzählen, wenn ich gesagt haben werde, was mich
augenblicklich beschäftigt: daß sie eher dazu beigetragen haben, meine
Lage, die (wie ich jetzt eingestehe) recht schwierig war, noch
lästiger zu gestalten.

Es sei zu meiner Ehre gesagt, daß ich viel geschrieben habe in diesen
Tagen; ich habe krampfhaft geschrieben. Allerdings, wenn ich
ausgegangen war, so dachte ich nicht gerne an das Nachhausekommen.
Ich machte sogar kleine Umwege und verlor auf diese Art eine halbe
Stunde, während welcher ich hätte schreiben können. Ich gebe zu, daß
dies eine Schwäche war. War ich aber einmal in meinem Zimmer, so
hatte ich mir nichts vorzuwerfen. Ich schrieb, ich hatte mein Leben,
und das da nebenan war ein ganz anderes Leben, mit dem ich nichts
teilte: das Leben eines Studenten der Medizin, der für sein Examen
studierte. Ich hatte nichts Ähnliches vor mir, schon das war ein
entscheidender Unterschied. Und auch sonst waren unsere Umstände so
verschieden wie möglich. Das alles leuchtete mir ein. Bis zu dem
Moment, da ich wußte, daß es kommen würde; da vergaß ich, daß es
zwischen uns keine Gemeinsamkeit gab. Ich horchte so, daß mein Herz
ganz laut wurde. Ich ließ alles und horchte. Und dann kam es: ich
habe mich nie geirrt.

Beinah jeder kennt den Lärm, den irgendein blechernes, rundes Ding,
nehmen wir an, der Deckel einer Blechbüchse, verursacht, wenn er einem
entglitten ist. Gewöhnlich kommt er gar nicht einmal sehr laut unten
an, er fällt kurz auf, rollt auf dem Rande weiter und wird eigentlich
erst unangenehm, wenn der Schwung zu Ende geht und er nach allen
Seiten taumelnd aufschlägt, eh er ins Liegen kommt. Nun also: das ist
das Ganze; so ein blecherner Gegenstand fiel nebenan, rollte, blieb
liegen, und dazwischen, in gewissen Abständen, stampfte es. Wie alle
Geräusche, die sich wiederholt durchsetzen, hatte auch dieses sich
innerlich organisiert; es wandelte sich ab, es war niemals genau
dasselbe. Aber gerade das sprach für seine Gesetzmäßigkeit. Es
konnte heftig sein oder milde oder melancholisch; es konnte gleichsam
überstürzt vorübergehen oder unendlich lange hingleiten, eh es zur
Ruhe kam. Und das letzte Schwanken war immer überraschend. Dagegen
hatte das Aufstampfen, das hinzukam, etwas fast Mechanisches. Aber es
teilte den Lärm immer anders ab, das schien seine Aufgabe zu sein.
Ich kann diese Einzelheiten jetzt viel besser übersehen; das Zimmer
neben mir ist leer. Er ist nach Hause gereist, in die Provinz. Er
sollte sich erholen. Ich wohne im obersten Stockwerk. Rechts ist ein
anderes Haus, unter mir ist noch niemand eingezogen: ich bin ohne
Nachbar.

In dieser Verfassung wundert es mich beinah, daß ich die Sache nicht
leichter nahm. Obwohl ich doch jedesmal im voraus gewarnt war durch
mein Gefühl. Das wäre auszunutzen gewesen. Erschrick nicht, hätte
ich mir sagen müssen, jetzt kommt es; ich wußte ja, daß ich mich
niemals täuschte. Aber das lag vielleicht gerade an den Tatsachen,
die ich mir hatte sagen lassen; seit ich sie wußte, war ich noch
schreckhafter geworden. Es berührte mich fast gespenstisch, daß das,
was diesen Lärm auslöste, jene kleine, langsame, lautlose Bewegung war,
mit der sein Augenlid sich eigenmächtig über sein rechtes Auge senkte
und schloß, während er las. Dies war das Wesentliche an seiner
Geschichte, eine Kleinigkeit. Er hatte schon ein paar Mal die Examen
vorbeigehen lassen müssen, sein Ehrgeiz war empfindlich geworden, und
die Leute daheim drängten wahrscheinlich, sooft sie schrieben. Was
blieb also übrig, als sich zusammenzunehmen. Aber da hatte sich, ein
paar Monate vor der Entscheidung, diese Schwäche eingestellt; diese
kleine, unmögliche Ermüdung, die so lächerlich war, wie wenn ein
Fenstervorhang nicht oben bleiben will. Ich bin sicher, daß er
wochenlang der Meinung war, man müßte das beherrschen können. Sonst
wäre ich nicht auf die Idee verfallen, ihm meinen Willen anzubieten.
Eines Tages begriff ich nämlich, daß der seine zu Ende sei. Und
seither, wenn ich es kommen fühlte, stand ich da auf meiner Seite der
Wand und bat ihn, sich zu bedienen. Und mit der Zeit wurde mir klar,
daß er darauf einging. Vielleicht hätte er das nicht tun dürfen,
besonders wenn man bedenkt, daß es eigentlich nichts half. Angenommen
sogar, daß wir die Sache ein wenig hinhielten, so bleibt es doch
fraglich, ob er wirklich imstande war, die Augenblicke, die wir so
gewannen, auszunutzen. Und was meine Ausgaben betrifft, so begann ich
sie zu fühlen. Ich weiß, ich fragte mich, ob das so weitergehen dürfe,
gerade an dem Nachmittag, als jemand in unserer Etage ankam. Dies
ergab bei dem engen Aufgang immer viel Unruhe in dem kleinen Hotel.
Eine Weile später schien es mir, als trete man bei meinem Nachbar ein.
Unsere Türen waren die letzten im Gang, die seine quer und dicht
neben der meinen. Ich wußte indessen, daß er zuweilen Freunde bei
sich sah, und, wie gesagt, ich interessierte mich durchaus nicht für
seine Verhältnisse. Es ist möglich, daß seine Tür noch mehrmals
geöffnet wurde, daß man draußen kam und ging. Dafür war ich wirklich
nicht verantwortlich.

Nun an diesem selben Abend war es ärger denn je. Es war noch nicht
sehr spät, aber ich war aus Müdigkeit schon zu Bett gegangen; ich
hielt es für wahrscheinlich, daß ich schlafen würde. Da fuhr ich auf,
als hätte man mich berührt. Gleich darauf brach es los. Es sprang
und rollte und rannte irgendwo an und schwankte und klappte. Das
Stampfen war fürchterlich. Dazwischen klopfte man unten, einen Stock
tiefer, deutlich und böse gegen die Decke. Auch der neue Mieter war
natürlich gestört. Jetzt: das mußte seine Türe sein. Ich war so wach,
daß ich seine Türe zu hören meinte, obwohl er erstaunlich vorsichtig
damit umging. Es kam mir vor, als nähere er sich. Sicher wollte er
wissen, in welchem Zimmer es sei. Was mich befremdete, war seine
wirklich übertriebene Rücksicht. Er hatte doch eben bemerken können,
daß es auf Ruhe nicht ankam in diesem Hause. Warum in aller Welt
unterdrückte er seinen Schritt? Eine Weile glaubte ich ihn an meiner
Tür; und dann vernahm ich, darüber war kein Zweifel, daß er nebenan
eintrat. Er trat ohne weiteres nebenan ein.

Und nun (ja, wie soll ich das beschreiben?), nun wurde es still.
Still, wie wenn ein Schmerz aufhört. Eine eigentümlich fühlbare,
prickelnde Stille, als ob eine Wunde heilte. Ich hätte sofort
schlafen können; ich hätte Atem holen können und einschlafen. Nur
mein Erstaunen hielt mich wach. Jemand sprach nebenan, aber auch das
gehörte mit in die Stille. Das muß man erlebt haben, wie diese Stille
war, wiedergeben läßt es sich nicht. Auch draußen war alles wie
ausgeglichen. Ich saß auf, ich horchte, es war wie auf dem Lande.
Lieber Gott, dachte ich, seine Mutter ist da. Sie saß neben dem Licht,
sie redete ihm zu, vielleicht hatte er den Kopf ein wenig gegen ihre
Schulter gelegt. Gleich würde sie ihn zu Bett bringen. Nun begriff
ich das leise Gehen draußen auf dem Gang. Ach, daß es das gab. So
ein Wesen, vor dem die Türen ganz anders nachgeben als vor uns. Ja,
nun konnten wir schlafen.

Ich habe meinen Nachbar fast schon vergessen. Ich sehe wohl, daß es
keine richtige Teilnahme war, was ich für ihn hatte. Unten frage ich
zwar zuweilen im Vorübergehen, ob Nachrichten von ihm da sind und
welche. Und ich freue mich, wenn sie gut sind. Aber ich übertreibe.
Ich habe eigentlich nicht nötig, das zu wissen. Das hängt gar nicht
mehr mit ihm zusammen, daß ich manchmal einen plötzlichen Reiz
verspüre, nebenan einzutreten. Es ist nur ein Schritt von meiner Tür
zu der anderen, und das Zimmer ist nicht verschlossen. Es würde mich
interessieren, wie dieses Zimmer eigentlich beschaffen ist. Man kann
sich mit Leichtigkeit ein beliebiges Zimmer vorstellen, und oft stimmt
es dann ungefähr. Nur das Zimmer, das man neben sich hat, ist immer
ganz anders, als man es sich denkt.

Ich sage mir, daß es dieser Umstand ist, der mich reizt. Aber ich
weiß ganz gut, daß es ein gewisser blecherner Gegenstand ist, der auf
mich wartet. Ich habe angenommen, daß es sich wirklich um einen
Büchsendeckel handelt, obwohl ich mich natürlich irren kann. Das
beunruhigt mich nicht. Es entspricht nun einmal meiner Anlage, die
Sache auf einen Büchsendeckel zu schieben. Man kann denken, daß er
ihn nicht mitgenommen hat. Wahrscheinlich hat man aufgeräumt, man hat
den Deckel auf seine Büchse gesetzt, wie es sich gehört. Und nun
bilden die beiden zusammen den Begriff Büchse, runde Büchse, genau
ausgedrückt, einen einfachen, sehr bekannten Begriff. Mir ist, als
entsänne ich mich, daß sie auf dem Kamin stehn, die beiden, die die
Büchse ausmachen. Ja, sie stehn sogar vor dem Spiegel, so daß
dahinter noch eine Büchse entsteht, eine täuschend ähnliche, imaginäre.
Eine Büchse, auf die wir gar keinen Wert legen, nach der aber zum
Beispiel ein Affe greifen würde. Richtig, es würden sogar zwei Affen
danach greifen, denn auch der Affe wäre doppelt, sobald er auf dem
Kaminrand ankäme. Nun also, es ist der Deckel dieser Büchse, der es
auf mich abgesehen hat.

Einigen wir uns darüber: der Deckel einer Büchse, einer gesunden
Büchse, deren Rand nicht anders gebogen ist, als sein eigener, so ein
Deckel müßte kein anderes Verlangen kennen, als sich auf seiner Büchse
zu befinden; dies müßte das äußerste sein, was er sich vorzustellen
vermag; eine nicht zu übertreffende Befriedigung, die Erfüllung aller
seiner Wünsche. Es ist ja auch etwas geradezu Ideales, geduldig und
sanft eingedreht auf der kleinen Gegenwulst gleichmäßig aufzuruhen und
die eingreifende Kante in sich zu fühlen, elastisch und gerade so
scharf, wie man selber am Rande ist, wenn man einzeln daliegt. Ach,
aber wie wenige Deckel giebt es, die das noch zu schätzen wissen.
Hier zeigt es sich so recht, wie verwirrend der Umgang mit den
Menschen auf die Dinge gewirkt hat. Die Menschen nämlich, wenn es
angeht, sie ganz vorübergehend mit solchen Deckeln zu vergleichen,
sitzen höchst ungern und schlecht auf ihren Beschäftigungen. Teils
weil sie nicht auf die richtigen gekommen sind in der Eile, teils weil
man sie schief und zornig aufgesetzt hat, teils weil die Ränder, die
aufeinander gehören, verbogen sind, jeder auf eine andere Art. Sagen
wir es nur ganz aufrichtig: sie denken im Grunde nur daran, sobald es
sich irgend tun läßt, hinunterzuspringen, zu rollen und zu blechern.
Wo kämen sonst alle diese sogenannten Zerstreuungen her und der Lärm,
den sie verursachen?

Die Dinge sehen das nun schon seit Jahrhunderten an. Es ist kein
Wunder, wenn sie verdorben sind, wenn sie den Geschmack verlieren an
ihrem natürlichen, stillen Zweck und das Dasein so ausnutzen möchten,
wie sie es rings um sich ausgenutzt sehen. Sie machen Versuche, sich
ihren Anwendungen zu entziehen, sie werden unlustig und nachlässig,
und die Leute sind gar nicht erstaunt, wenn sie sie auf einer
Ausschweifung ertappen. Sie kennen das so gut von sich selbst. Sie
ärgern sich, weil sie die Stärkeren sind, weil sie mehr Recht auf
Abwechslung zu haben meinen, weil sie sich nachgeäfft fühlen; aber sie
lassen die Sache gehen, wie sie sich selber gehen lassen. Wo aber
einer ist, der sich zusammennimmt, ein Einsamer etwa, der so recht
rund auf sich beruhen wollte Tag und Nacht, da fordert er geradezu den
Widerspruch, den Hohn, den Haß der entarteten Geräte heraus, die, in
ihrem argen Gewissen, nicht mehr vertragen können, daß etwas sich
zusammenhält und nach seinem Sinne strebt. Da verbinden sie sich, um
ihn zu stören, zu schrecken, zu beirren, und wissen, daß sie es können.
Da fangen sie, einander zuzwinkernd, die Verführung an, die dann ins
Unermessene weiter wächst und alle Wesen und Gott selber hinreißt
gegen den Einen, der vielleicht übersteht: den Heiligen.

Wie begreif ich jetzt die wunderlichen Bilder, darinnen Dinge von
beschränkten und regelmäßigen Gebrauchen sich ausspannen und sich
lüstern und neugierig aneinander versuchen, zuckend in der ungefähren
Unzucht der Zerstreuung. Diese Kessel, die kochend herumgehen, diese
Kolben, die auf Gedanken kommen, und die müßigen Trichter, die sich in
ein Loch drängen zu ihrem Vergnügen. Und da sind auch schon, vom
eifersüchtigen Nichts heraufgeworfen, Gliedmaßen und Glieder unter
ihnen und Gesichter, die warm in sie hineinvomieren, und blasende
Gesäße, die ihnen den Gefallen tun.

Und der Heilige krümmt sich und zieht sich zusammen; aber in seinen
Augen war noch ein Blick, der dies für möglich hielt: er hat
hingesehen. Und schon schlagen sich seine Sinne nieder aus der hellen
Lösung seiner Seele. Schon entblättert sein Gebet und steht ihm aus
dem Mund wie ein eingegangener Strauch. Sein Herz ist umgefallen und
ausgeflossen ins Trübe hinein. Seine Geißel trifft ihn schwach wie
ein Schwanz, der Fliegen verjagt. Sein Geschlecht ist wieder nur an
einer Stelle, und wenn eine Frau aufrecht durch das Gehudel kommt, den
offenen Busen voll Brüste, so zeigt es auf sie wie ein Finger.

Es gab Zeiten, da ich diese Bilder für veraltet hielt. Nicht, als ob
ich an ihnen zweifelte. Ich konnte mir denken, daß dies den Heiligen
geschah, damals, den eifernden Voreiligen, die gleich mit Gott
anfangen wollten um jeden Preis. Wir muten uns dies nicht mehr zu.
Wir ahnen, daß er zu schwer ist für uns, daß wir ihn hinausschieben
müssen, um langsam die lange Arbeit zu tun, die uns von ihm trennt.
Nun aber weiß ich, daß diese Arbeit genau so bestritten ist wie das
Heiligsein; daß dies da um jeden entsteht, der um ihretwillen einsam
ist, wie es sich bildete um die Einsamen Gottes in ihren Höhlen und
leeren Herbergen, einst.

Wenn man von den Einsamen spricht, setzt man immer zuviel voraus. Man
meint, die Leute wüßten, um was es sich handelt. Nein, sie wissen es
nicht. Sie haben nie einen Einsamen gesehen, sie haben ihn nur gehaßt,
ohne ihn zu kennen. Sie sind seine Nachbaren gewesen, die ihn
aufbrauchten, und die Stimmen im Nebenzimmer, die ihn versuchten. Sie
haben die Dinge aufgereizt gegen ihn, daß sie lärmten und ihn
übertönten. Die Kinder verbanden sich wider ihn, da er zart und ein
Kind war, und mit jedem Wachsen wuchs er gegen die Erwachsenen an.
Sie spürten ihn auf in seinem Versteck wie ein jagdbares Tier, und
seine lange Jugend war ohne Schonzeit. Und wenn er sich nicht
erschöpfen ließ und davonkam, so schrieen sie über das, was von ihm
ausging, und nannten es häßlich und verdächtigten es. Und hörte er
nicht darauf, so wurden sie deutlicher und aßen ihm sein Essen weg und
atmeten ihm seine Luft aus und spieen in seine Armut, daß sie ihm
widerwärtig würde. Sie brachten Verruf über ihn wie über einen
Ansteckenden und warfen ihm Steine nach, damit er sich rascher
entfernte. Und sie hatten recht in ihrem alten Instinkt: denn er war
wirklich ihr Feind.

Aber dann, wenn er nicht aufsah, besannen sie sich. Sie ahnten, daß
sie ihm mit alledem seinen Willen taten; daß sie ihn in seinem
Alleinsein bestärkten und ihm halfen, sich abzuscheiden von ihnen für
immer. Und nun schlugen sie um und wandten das Letzte an, das
Äußerste, den anderen Widerstand: den Ruhm. Und bei diesem Lärmen
blickte fast jeder auf und wurde zerstreut.

Diese Nacht ist mir das kleine grüne Buch wieder eingefallen, das ich
als Knabe einmal besessen haben muß; und ich weiß nicht, warum ich mir
einbilde, daß es von Mathilde Brahe stammte. Es interessierte mich
nicht, da ich es bekam, und ich las es erst mehrere Jahre später, ich
glaube in der Ferienzeit auf Ulsgaard. Aber wichtig war es mir vom
ersten Augenblick an. Es war durch und durch voller Bezug, auch
äußerlich betrachtet. Das Grün des Einbandes bedeutete etwas, und man
sah sofort ein, daß es innen so sein mußte, wie es war. Als ob das
verabredet worden wäre, kam zuerst dieses glatte, weiß in weiß
gewässerte Vorsatzblatt und dann die Titelseite, die man für
geheimnisvoll hielt. Es hätten wohl Bilder drin sein können, so sah
es aus; aber es waren keine, und man mußte, fast wider Willen, zugeben,
daß auch das in der Ordnung sei. Es entschädigte einen irgendwie, an
einer bestimmten Stelle das schmale Leseband zu finden, das, mürbe und
ein wenig schräg, rührend in seinem Vertrauen, noch rosa zu sein, seit
Gott weiß wann immer zwischen den gleichen Seiten lag. Vielleicht war
es nie benutzt worden, und der Buchbinder hatte es rasch und fleißig
da hineingebogen, ohne recht hinzusehen. Möglicherweise aber war es
kein Zufall. Es konnte sein, daß jemand dort zu lesen aufgehört hatte,
der nie wieder las; daß das Schicksal in diesem Moment an seiner Türe
klopfte, um ihn zu beschäftigen, daß er weit von allen Büchern
weggeriet, die doch schließlich nicht das Leben sind. Das war nicht
zu erkennen, ob das Buch weitergelesen worden war. Man konnte sich
auch denken, daß es sich einfach darum handelte, diese Stelle
aufzuschlagen wieder und wieder, und daß es dazu gekommen war, wenn
auch manchmal erst spät in der Nacht. Jedenfalls hatte ich eine Scheu
vor den beiden Seiten, wie vor einem Spiegel, vor dem jemand steht.
Ich habe sie nie gelesen. Ich weiß überhaupt nicht, ob ich das ganze
Buch gelesen habe. Es war nicht sehr stark, aber es standen eine
Menge Geschichten drin, besonders am Nachmittag; dann war immer eine
da, die man noch nicht kannte.

Ich erinnere nur noch zwei. Ich will sagen, welche: Das Ende des
Grischa Otrepjow und Karls des Kühnen Untergang.

Gott weiß, ob es mir damals Eindruck machte. Aber jetzt, nach so viel
Jahren, entsinne ich mich der Beschreibung, wie der Leichnam des
falschen Zaren unter die Menge geworfen worden war und dalag drei Tage,
zerfetzt und zerstochen und eine Maske vor dem Gesicht. Es ist
natürlich gar keine Aussicht, daß mir das kleine Buch je wieder in die
Hände kommt. Aber diese Stelle muß merkwürdig gewesen sein. Ich
hätte auch Lust, nachzulesen, wie die Begegnung mit der Mutter verlief.
Er mag sich sehr sicher gefühlt haben, da er sie nach Moskau kommen
ließ; ich bin sogar überzeugt, daß er zu jener Zeit so stark an sich
glaubte, daß er in der Tat seine Mutter zu berufen meinte. Und diese
Marie Nagoi, die in schnellen Tagreisen aus ihrem dürftigen Kloster
kam, gewann ja auch alles, wenn sie zustimmte. Ob aber seine
Unsicherheit nicht gerade damit begann, daß sie ihn anerkannte? Ich
bin nicht abgeneigt zu glauben, die Kraft seiner Verwandlung hätte
darin beruht, niemandes Sohn mehr zu sein.

(Das ist schließlich die Kraft aller jungen Leute, die fortgegangen
sind.)

Das Volk, das sich ihn erwünschte, ohne sich einen vorzustellen,
machte ihn nur noch freier und unbegrenzter in seinen Möglichkeiten.
Aber die Erklärung der Mutter hatte, selbst als bewußter Betrug, noch
die Macht, ihn zu verringern; sie hob ihn aus der Fülle seiner
Erfindung; sie beschränkte ihn auf ein müdes Nachahmen; sie setzte ihn
auf den Einzelnen herab, der er nicht war: sie machte ihn zum Betrüger.
Und nun kam, leiser auflösend, diese Marina Mniczek hinzu, die ihn
auf ihre Art leugnete, indem sie, wie sich später erwies, nicht an ihn
glaubte, sondern an jeden. Ich kann natürlich nicht dafür einstehen,
wie weit das alles in jener Geschichte berücksichtigt war. Dies,
scheint mir, wäre zu erzählen gewesen.

Aber auch abgesehen davon, ist diese Begebenheit durchaus nicht
veraltet. Es wäre jetzt ein Erzähler denkbar, der viel Sorgfalt an
die letzten Augenblicke wendete; er hätte nicht unrecht. Es geht eine
Menge in ihnen vor: Wie er aus dem innersten Schlaf ans Fenster
springt und über das Fenster hinaus in den Hof zwischen die Wachen.
Er kann allein nicht auf; sie müssen ihm helfen. Wahrscheinlich ist
der Fuß gebrochen. An zwei von den Männern gelehnt, fühlt er, daß sie
an ihn glauben. Er sieht sich um: auch die andern glauben an ihn.
Sie dauern ihn fast, diese riesigen Strelitzen, es muß weit gekommen
sein: sie haben Iwan Grosnij gekannt in all seiner Wirklichkeit, und
glauben an ihn. Er hätte Lust, sie aufzuklären, aber den Mund öffnen,
hieße einfach schreien. Der Schmerz im Fuß ist rasend, und er hält so
wenig von sich in diesem Moment, daß er nichts weiß als den Schmerz.
Und dann ist keine Zeit. Sie drängen heran, er sieht den Schuiskij
und hinter ihm alle. Gleich wird es vorüber sein. Aber da schließen
sich seine Wachen. Sie geben ihn nicht auf. Und ein Wunder geschieht.
Der Glauben dieser alten Männer pflanzt sich fort, auf einmal will
niemand mehr vor. Schuiskij, dicht vor ihm, ruft verzweifelt nach
einem Fenster hinauf. Er sieht sich nicht um. Er weiß, wer dort
steht; er begreift, daß es still wird, ganz ohne Übergang still.
Jetzt wird die Stimme kommen, die er von damals her kennt; die hohe,
falsche Stimme, die sich überanstrengt. Und da hört er die
Zarinmutter, die ihn verleugnet.

Bis hierher geht die Sache von selbst, aber nun, bitte, einen Erzähler,
einen Erzähler: denn von den paar Zeilen, die noch bleiben, muß
Gewalt ausgehen über jeden Widerspruch hinaus. Ob es gesagt wird oder
nicht, man muß darauf schwören, daß zwischen Stimme und Pistolenschuß,
unendlich zusammengedrängt, noch einmal Wille und Macht in ihm war,
alles zu sein. Sonst versteht man nicht, wie glänzend konsequent es
ist, daß sie sein Nachtkleid durchbohrten und in ihm herumstachen, ob
sie auf das Harte einer Person stoßen würden. Und daß er im Tode doch
noch die Maske trug, drei Tage lang, auf die er fast schon verzichtet
hatte.

Wenn ichs nun bedenke, so scheint es mir seltsam, daß in demselben
Buche der Ausgang dessen erzählt wurde, der sein ganzes Leben lang
Einer war, der Gleiche, hart und nicht zu ändern wie ein Granit und
immer schwerer auf allen, die ihn ertrugen. Es giebt ein Bild von ihm
in Dijon. Aber man weiß es auch so, daß er kurz, quer, trotzig war
und verzweifelt. Nur an die Hände hätte man vielleicht nicht gedacht.
Es sind arg warme Hände, die sich immerfort kühlen möchten und sich
unwillkürlich auf Kaltes legen, gespreizt, mit Luft zwischen allen
Fingern. In diese Hände konnte das Blut hineinschießen, wie es einem
zu Kopf steigt, und geballt waren sie wirklich wie die Köpfe von
Tollen, tobend von Einfällen.

Es gehörte unglaubliche Vorsicht dazu, mit diesem Blute zu leben. Der
Herzog war damit eingeschlossen in sich selbst, und zuzeiten fürchtete
ers, wenn es um ihn herumging, geduckt und dunkel. Es konnte ihm
selber grauenhaft fremd sein, dieses behende, halbportugiesische Blut,
das er kaum kannte. Oft ängstigte es ihn, daß es ihn im Schlafe
anfallen könnte und zerreißen. Er tat, als bändigte ers, aber er
stand immer in seiner Furcht. Er wagte nie eine Frau zu lieben, damit
es nicht eifersüchtig würde, und so reißend war es, daß Wein nie über
seine Lippen kam; statt zu trinken, sänftigte ers mit Rosenmus. Doch,
einmal trank er, im Lager vor Lausanne, als Granson verloren war; da
war er krank und abgeschieden und trank viel puren Wein. Aber damals
schlief sein Blut. In seinen sinnlosen letzten Jahren verfiel es
manchmal in diesen schweren, tierischen Schlaf. Dann zeigte es sich,
wie sehr er in seiner Gewalt war; denn wenn es schlief, war er nichts.
Dann durfte keiner von seiner Umgebung herein; er begriff nicht, was
sie redeten. Den fremden Gesandten konnte er sich nicht zeigen, öd
wie er war. Dann saß er und wartete, daß es aufwachte. Und meistens
fuhr es mit einem Sprunge auf und brach aus dem Herzen aus und brüllte.


Für dieses Blut schleppte er alle die Dinge mit, auf die er nichts gab.
Die drei großen Diamanten und alle die Steine; die flandrischen
Spitzen und die Teppiche von Arros, haufenweis. Sein seidenes Gezelt
mit den aus Gold gedrehten Schnüren und vierhundert Zelte für sein
Gefolg. Und Bilder, auf Holz gemalt, und die zwölf Apostel aus vollem
Silber. Und den Prinzen von Tarent und den Herzog von Cleve und
Philipp von Baden und den Herrn von Château-Guyon. Denn er wollte
seinem Blut einreden, daß er Kaiser sei und nichts über ihm: damit es
ihn fürchte. Aber sein Blut glaubte ihm nicht, trotz solcher Beweise,
es war ein mißtrauisches Blut. Vielleicht erhielt er es noch eine
Weile im Zweifel. Aber die Hörner von Uri verrieten ihn. Seither
wußte sein Blut, daß es in einem Verlorenen war: und wollte heraus.

So seh ich es jetzt, damals aber machte es mir vor allem Eindruck, von
dem Dreikönigstag zu lesen, da man ihn suchte.

Der junge lothringische Fürst, der tags vorher, gleich nach der
merkwürdig hastigen Schlacht in seiner elenden Stadt Nancy eingeritten
war, hatte ganz früh seine Umgebung geweckt und nach dem Herzog
gefragt. Bote um Bote wurde ausgesandt, und er selbst erschien von
Zeit zu Zeit am Fenster, unruhig und besorgt. Er erkannte nicht immer,
wen sie da brachten auf ihren Wagen und Tragbahren, er sah nur, daß
es nicht der Herzog war. Und auch unter den Verwundeten war er nicht,
und von den Gefangenen, die man fortwährend noch einbrachte, hatte ihn
keiner gesehen. Die Flüchtlinge aber trugen nach allen Seiten
verschiedene Nachrichten und waren wirr und schreckhaft, als
fürchteten sie, auf ihn zuzulaufen. Es dunkelte schon, und man hatte
nichts von ihm gehört. Die Kunde, daß er verschwunden sei, hatte Zeit
herumzukommen an dem langen Winterabend. Und wohin sie kam, da
erzeugte sie in allen eine jähe, übertriebene Sicherheit, daß er lebte.
Nie vielleicht war der Herzog so wirklich in jeder Einbildung wie in
dieser Nacht. Es gab kein Haus, wo man nicht wachte und auf ihn
wartete und sich sein Klopfen vorstellte. Und wenn er nicht kam, so
wars, weil er schon vorüber war.

Es fror diese Nacht, und es war, als fröre auch die Idee, daß er sei;
so hart wurde sie. Und Jahre und Jahre vergingen, eh sie sich
auflöste. Alle diese Menschen, ohne es recht zu wissen, bestanden
jetzt auf ihm. Das Schicksal, das er über sie gebracht hatte, war nur
erträglich durch seine Gestalt. Sie hatten so schwer erlernt, daß er
war; nun aber, da sie ihn konnten, fanden sie, daß er gut zu merken
sei und nicht zu vergessen.

Aber am nächsten Morgen, dem siebenten Januar, einem Dienstag, fing
das Suchen doch wieder an. Und diesmal war ein Führer da. Es war ein
Page des Herzogs, und es hieß, er habe seinen Herrn von ferne stürzen
sehen; nun sollte er die Stelle zeigen. Er selbst hatte nichts
erzählt, der Graf von Campobasso hatte ihn gebracht und hatte für ihn
gesprochen. Nun ging er voran, und die anderen hielten sich dicht
hinter ihm. Wer ihn so sah, vermummt und eigentümlich unsicher, der
hatte Mühe zu glauben, daß es wirklich Gian-Battista Colonna sei, der
schön wie ein Mädchen war und schmal in den Gelenken. Er zitterte vor
Kälte; die Luft war steif vom Nachtfrost, es klang wie Zähneknirschen
unter den Schritten. Übrigens froren sie alle. Nur des Herzogs Narr,
Louis-Onze zubenannt, machte sich Bewegung. Er spielte den Hund, lief
voraus, kam wieder und trollte eine Weile auf allen Vieren neben dem
Knaben her; wo er aber von fern eine Leiche sah, da sprang er hin und
verbeugte sich und redete ihr zu, sie möchte sich zusammennehmen und
der sein, den man suchte. Er ließ ihr ein wenig Bedenkzeit, aber dann
kam er mürrisch zu den andern zurück und drohte und fluchte und
beklagte sich uber den Eigensinn und die Trägheit der Toten. Und man
ging immerzu, und es nahm kein Ende. Die Stadt war kaum mehr zu sehen;
denn das Wetter hatte sich inzwischen geschlossen, trotz der Kälte,
und war grau und undurchsichtig geworden. Das Land lag flach und
gleichgültig da, und die kleine, dichte Gruppe sah immer verirrter aus,
je weiter sie sich bewegte. Niemand sprach, nur ein altes Weib, das
mitgelaufen war, malmte etwas und schüttelte den Kopf dabei;
vielleicht betete sie.

Auf einmal blieb der Vorderste stehen und sah um sich. Dann wandte er
sich kurz zu Lupi, dem portugiesischen Arzt des Herzogs, und zeigte
nach vorn. Ein paar Schritte weiterhin war eine Eisfläche, eine Art
Tümpel oder Teich, und da lagen, halb eingebrochen, zehn oder zwölf
Leichen. Sie waren fast ganz entblößt und ausgeraubt. Lupi ging
gebückt und aufmerksam von einem zum andern. Und nun erkannte man
Olivier de la Marche und den Geistlichen, wie sie so einzeln
herumgingen. Die Alte aber kniete schon im Schnee und winselte und
bückte sich über eine große Hand, deren Finger ihr gespreizt
entgegenstarrten. Alle eilten herbei. Lupi mit einigen Dienern
versuchte den Leichnam zu wenden, denn er lag vornüber. Aber das
Gesicht war eingefroren, und da man es aus dem Eis herauszerrte,
schälte sich die eine Wange dünn und spröde ab, und es zeigte sich,
daß die andere von Hunden oder Wölfen herausgerissen war; und das
Ganze war von einer großen Wunde gespalten, die am Ohr begann, so daß
von einem Gesicht keine Rede sein konnte.

Einer nach dem anderen blickte sich um; jeder meinte den Römer hinter
sich zu finden. Aber sie sahen nur den Narren, der herbeigelaufen kam,
böse und blutig. Er hielt einen Mantel von sich ab und schüttelte
ihn, als sollte etwas herausfallen; aber der Mantel war leer. So ging
man daran, nach Kennzeichen zu suchen, und es fanden sich einige. Man
hatte ein Feuer gemacht und wusch den Körper mit warmem Wasser und
Wein. Die Narbe am Halse kam zum Vorschein und die Stellen der beiden
großen Abszesse. Der Arzt zweifelte nicht mehr. Aber man verglich
noch anderes. Louis-Onze hatte ein paar Schritte weiter den Kadaver
des großen schwarzen Pferdes Moreau gefunden, das der Herzog am Tage
von Nancy geritten hatte. Er saß darauf und ließ die kurzen Beine
hängen. Das Blut rann ihm noch immer aus der Nase in den Mund, und
man sah ihm an, daß er es schmeckte. Einer der Diener drüben
erinnerte, daß ein Nagel an des Herzogs linkem Fuß eingewachsen
gewesen wäre; nun suchten alle den Nagel. Der Narr aber zappelte, als
würde er gekitzelt, und schrie: "Ach, Monseigneur, verzeih ihnen, daß
sie deine groben Fehler aufdecken, die Dummköpfe, und dich nicht
erkennen an meinem langen Gesicht, in dem deine Tugenden stehn."

(Des Herzogs Narr war auch der erste, der eintrat, als die Leiche
gebettet war. Es war im Hause eines gewissen Georg Marquis, niemand
konnte sagen, wieso. Das Bahrtuch war noch nicht übergelegt, und so
hatte er den ganzen Eindruck. Das Weiß des Kamisols und das Karmesin
vom Mantel sonderten sich schroff und unfreundlich voneinander ab
zwischen den beiden Schwarz von Baldachin und Lager. Vorne standen
scharlachne Schaftstiefel ihm entgegen mit großen, vergoldeten Sporen.
Und daß das dort oben ein Kopf war, darüber konnte kein Streit
entstehen, sobald man die Krone sah. Es war eine große Herzogs-Krone
mit irgendwelchen Steinen. Louis-Onze ging umher und besah alles
genau. Er befühlte sogar den Atlas, obwohl er wenig davon verstand.
Es mochte guter Atlas sein, vielleicht ein bißchen billig für das Haus
Burgund. Er trat noch einmal zurück um des Überblicks willen. Die
Farben waren merkwürdig unzusammenhängend im Schneelicht. Er prägte
sich jede einzeln ein. "Gut angekleidet", sagte er schließlich
anerkennend, "vielleicht eine Spur zu deutlich." Der Tod kam ihm vor
wie ein Puppenspieler, der rasch einen Herzog braucht.)

Man tut gut, gewisse Dinge, die sich nicht mehr ändern werden, einfach
festzustellen, ohne die Tatsachen zu bedauern oder auch nur zu
beurteilen. So ist mir klar geworden, daß ich nie ein richtiger Leser
war. In der Kindheit kam mir das Lesen vor wie ein Beruf, den man auf
sich nehmen würde, später einmal, wenn alle die Berufe kamen, einer
nach dem andern. Ich hatte, aufrichtig gesagt, keine bestimmte
Vorstellung, wann das sein könnte. Ich verließ mich darauf, daß man
es merken würde, wenn das Leben gewissermaßen umschlug und nur noch
von außen kam, so wie früher von innen. Ich bildete mir ein, es würde
dann deutlich und eindeutig sein und gar nicht mißzuverstehn.
Durchaus nicht einfach, im Gegenteil recht anspruchsvoll, verwickelt
und schwer meinetwegen, aber immerhin sichtbar. Das eigentümlich
Unbegrenzte der Kindheit, das Unverhältnismäßige, das
Nie-recht-Absehbare, das würde dann überstanden sein. Es war freilich
nicht einzusehen, wieso. Im Grunde nahm es immer noch zu und schloß
sich auf allen Seiten, und je mehr man hinaussah, desto mehr Inneres
rührte man in sich auf: Gott weiß, wo es herkam. Aber wahrscheinlich
wuchs es zu einem Äußersten an und brach dann mit einem Schlage ab.
Es war leicht zu beobachten, daß die Erwachsenen sehr wenig davon
beunruhigt wurden; sie gingen herum und urteilten und handelten, und
wenn sie je in Schwierigkeiten waren, so lag das an äußeren
Verhältnissen.

An den Anfang solcher Veränderungen verlegte ich auch das Lesen. Dann
würde man mit Büchern umgehen wie mit Bekannten, es würde Zeit dafür
da sein, eine bestimmte, gleichmäßig und gefällig vergehende Zeit,
gerade so viel, als einem eben paßte. Natürlich würden einzelne einem
näher stehen, und es ist nicht gesagt, daß man davor sicher sein würde,
ab und zu eine halbe Stunde über ihnen zu versäumen: einen
Spaziergang, eine Verabredung, den Anfang im Theater oder einen
dringenden Brief. Daß sich einem aber das Haar verbog und verwirrte,
als ob man darauf gelegen hätte, daß man glühende Ohren bekam und
Hände kalt wie Metall, daß eine lange Kerze neben einem
herunterbrannte und in den Leuchter hinein, das würde dann, Gott sei
Dank, völlig ausgeschlossen sein.

Ich führe diese Erscheinungen an, weil ich sie ziemlich auffällig an
mir erfuhr, damals in jenen Ferien auf Ulsgaard, als ich so plötzlich
ins Lesen geriet. Da zeigte es sich gleich, daß ich es nicht konnte.
Ich hatte es freilich vor der Zeit begonnen, die ich mir dafür in
Aussicht gestellt hatte. Aber dieses Jahr in Sorö unter lauter andern
ungefähr Altersgleichen hatte mich mißtrauisch gemacht gegen solche
Berechnungen. Dort waren rasche, unerwartete Erfahrungen an mich
herangekommen, und es war deutlich zu sehen, daß sie mich wie einen
Erwachsenen behandelten. Es waren lebensgroße Erfahrungen, die sich
so schwer machten, wie sie waren. In demselben Maße aber, als ich
ihre Wirklichkeit begriff, gingen mir auch für die unendliche Realität
meines Kindseins die Augen auf. Ich wußte, daß es nicht aufhören
würde, so wenig wie das andere erst begann. Ich sagte mir, daß es
natürlich jedem freistand, Abschnitte zu machen, aber sie waren
erfunden. Und es erwies sich, daß ich zu ungeschickt war, mir welche
auszudenken. Sooft ich es versuchte, gab mir das Leben zu verstehen,
daß es nichts von ihnen wußte. Bestand ich aber darauf, daß meine
Kindheit vorüber sei, so war in demselben Augenblick auch alles
Kommende fort, und mir blieb nur genau so viel, wie ein Bleisoldat
unter sich hat, um stehen zu können.

Diese Entdeckung sonderte mich begreiflicherweise noch mehr ab. Sie
beschäftigte mich in mir und erfüllte mich mit einer Art endgültiger
Frohheit, die ich für Kümmernis nahm, weil sie weit über mein Alter
hinausging. Es beunruhigte mich auch, wie ich mich entsinne, daß man
nun, da nichts für eine bestimmte Frist vorgesehen war, manches
überhaupt versäumen könne. Und als ich so nach Ulsgaard zurückkehrte
und alle die Bücher sah, machte ich mich darüber her; recht in Eile,
mit fast schlechtem Gewissen. Was ich später so oft empfunden habe,
das ahnte ich damals irgendwie voraus: daß man nicht das Recht hatte,
ein Buch aufzuschlagen, wenn man sich nicht verpflichtete, alle zu
lesen. Mit jeder Zeile brach man die Welt an. Von den Büchern war
sie heil und vielleicht wieder ganz dahinter. Wie aber sollte ich,
der nicht lesen konnte, es mit allen aufnehmen? Da standen sie,
selbst in diesem bescheidenen Bücherzimmer, in so aussichtsloser
Überzahl und hielten zusammen. Ich stürzte mich trotzig und
verzweifelt von Buch zu Buch und schlug mich durch die Seiten durch
wie einer, der etwas Unverhältnismäßiges zu leisten hat. Damals las
ich Schiller und Baggesen, Öhlenschläger und Schack-Staffeldt, was von
Walter Scott da war und Calderon. Manches kam mir in die Hände, was
gleichsam schon hätte gelesen sein müssen, für anderes war es viel zu
früh; fällig war fast nichts für meine damalige Gegenwart. Und
trotzdem las ich.

In späteren Jahren geschah es mir zuweilen nachts, daß ich aufwachte,
und die Sterne standen so wirklich da und gingen so bedeutend vor, und
ich konnte nicht begreifen, wie man es über sich brachte, so viel Welt
zu versäumen. So ähnlich war mir, glaub ich, zumut, sooft ich von den
Büchern aufsah und hinaus, wo der Sommer war, wo Abelone rief. Es kam
uns sehr unerwartet, daß sie rufen mußte und daß ich nicht einmal
antwortete. Es fiel mitten in unsere seligste Zeit. Aber da es mich
nun einmal erfaßt hatte, hielt ich mich krampfhaft ans Lesen und
verbarg mich, wichtig und eigensinnig, vor unseren täglichen
Feiertagen. Ungeschickt wie ich war, die vielen, oft unscheinbaren
Gelegenheiten eines natürlichen Glücks auszunutzen, ließ ich mir nicht
ungern von dem anwachsenden Zerwürfnis künftige Versöhnungen
versprechen, die desto reizender wurden, je weiter man sie hinausschob.


Übrigens war mein Leseschlaf eines Tages so plötzlich zu Ende, wie er
begonnen hatte; und da erzürnten wir einander gründlich. Denn Abelone
ersparte mir nun keinerlei Spott und Überlegenheit, und wenn ich sie
in der Laube traf, behauptete sie zu lesen. An dem einen
Sonntagmorgen lag das Buch zwar geschlossen neben ihr, aber sie schien
mehr als genug mit den Johannisbeeren beschäftigt, die sie vorsichtig
mittels einer Gabel aus ihren kleinen Trauben streifte.

Es muß dies eine von jenen Tagesfrühen gewesen sein, wie es solche im
Juli giebt, neue, ausgeruhte Stunden, in denen überall etwas frohes
Unüberlegtes geschieht. Aus Millionen kleinen ununterdrückbaren
Bewegungen setzt sich ein Mosaik überzeugtesten Daseins zusammen; die
Dinge schwingen ineinander hinüber und hinaus in die Luft, und ihre
Kühle macht den Schatten klar und die Sonne zu einem leichten,
geistigen Schein. Da giebt es im Garten keine Hauptsache; alles ist
überall, und man müßte in allem sein, um nichts zu versäumen.

In Abelonens kleiner Handlung aber war das Ganze nochmal. Es war so
glücklich erfunden, gerade dies zu tun und genau so, wie sie es tat.
Ihre im Schattigen hellen Hände arbeiteten einander so leicht und
einig zu, und vor der Gabel sprangen mutwillig die runden Beeren her,
in die mit tauduffem Weinblatt ausgelegte Schale hinein, wo schon
andere sich häuften, rote und blonde, glanzlichternd, mit gesunden
Kernen im herben Innern. Ich wünschte unter diesen Umständen nichts
als zuzusehen, aber, da es wahrscheinlich war, daß man mirs verwies,
ergriff ich, auch um mich unbefangen zu geben, das Buch, setzte mich
an die andere Seite des Tisches und ließ mich, ohne lange zu blättern,
irgendwo damit ein.

"Wenn du doch wenigstens laut läsest, Leserich", sagte Abelone nach
einer Weile. Das klang lange nicht mehr so streitsüchtig, und da es,
meiner Meinung nach, ernstlich Zeit war, sich auszugleichen, las ich
sofort laut, immerzu bis zu einem Abschnitt und weiter, die nächste
Überschrift: An Bettine.

"Nein, nicht die Antworten", unterbrach mich Abelone und legte auf
einmal wie erschöpft die kleine Gabel nieder. Gleich darauf lachte
sie über das Gesicht, mit dem ich sie ansah.

"Mein Gott, was hast du schlecht gelesen, Malte."

Da mußte ich nun zugeben, daß ich keinen Augenblick bei der Sache
gewesen sei. "Ich las nur, damit du mich unterbrichst", gestand ich
und wurde heiß und blätterte zurück nach dem Titel des Buches. Nun
wußte ich erst, was es war. "Warum denn nicht die Antworten?" fragte
ich neugierig.

Es war, als hätte Abelone mich nicht gehört. Sie saß da in ihrem
lichten Kleid, als ob sie überall innen ganz dunkel würde, wie ihre
Augen wurden.

"Gieb her", sagte sie plötzlich wie im Zorn und nahm mir das Buch aus
der Hand und schlug es richtig dort auf, wo sie es wollte. Und dann
las sie einen von Bettinens Briefen.

Ich weiß nicht, was ich davon verstand, aber es war, als würde mir
feierlich versprochen, dieses alles einmal einzusehen. Und während
ihre Stimme zunahm und endlich fast jener glich, die ich vom Gesang
her kannte, schämte ich mich, daß ich mir unsere Versöhnung so gering
vorgestellt hatte. Denn ich begriff wohl, daß sie das war. Aber nun
geschah sie irgendwo ganz im Großen, weit über mir, wo ich nicht
hinreichte.

Das Versprechen erfüllt sich noch immer, irgendwann ist dasselbe Buch
unter meine Bücher geraten, unter die paar Bücher, von denen ich mich
nicht trenne. Nun schlägt es sich auch mir an den Stellen auf, die
ich gerade meine, und wenn ich sie lese, so bleibt es unentschieden,
ob ich an Bettine denke oder an Abelone. Nein, Bettine ist wirklicher
in mir geworden, Abelone, die ich gekannt habe, war wie eine
Vorbereitung auf sie, und nun ist sie mir in Bettine aufgegangen wie
in ihrem eigenen, unwillkürlichen Wesen. Denn diese wunderliche
Bettine hat mit allen ihren Briefen Raum gegeben, geräumigste Gestalt.
Sie hat von Anfang an sich im Ganzen so ausgebreitet, als wär sie
nach ihrem Tod. Überall hat sie sich ganz weit ins Sein hineingelegt,
zugehörig dazu, und was ihr geschah, das war ewig in der Natur; dort
erkannte sie sich und löste sich beinah schmerzhaft heraus; erriet
sich mühsam zurück wie aus Überlieferungen, beschwor sich wie einen
Geist und hielt sich aus.

Eben warst du noch, Bettine; ich seh dich ein. Ist nicht die Erde
noch warm von dir, und die Vögel lassen noch Raum für deine Stimme.
Der Tau ist ein anderer, aber die Sterne sind noch die Sterne deiner
Nächte. Oder ist nicht die Welt überhaupt von dir? Denn wie oft hast
du sie in Brand gesteckt mit deiner Liebe und hast sie lodern sehen
und aufbrennen und hast sie heimlich durch eine andere ersetzt, wenn
alle schliefen. Du fühltest dich so recht im Einklang mit Gott, wenn
du jeden Morgen eine neue Erde von ihm verlangtest, damit doch alle
drankämen, die er gemacht hatte. Es kam dir armsälig vor, sie zu
schonen und auszubessern, du verbrauchtest sie und hieltest die Hände
hin um immer noch Welt. Denn deine Liebe war allem gewachsen.

Wie ist es möglich, daß nicht noch alle erzählen von deiner Liebe?
Was ist denn seither geschehen, was merkwürdiger war? Was beschäftigt
sie denn? Du selber wußtest um deiner Liebe Wert, du sagtest sie laut
deinem größesten Dichter vor, daß er sie menschlich mache; denn sie
war noch Element. Er aber hat sie den Leuten ausgeredet, da er dir
schrieb. Alle haben diese Antworten gelesen und glauben ihnen mehr,
weil der Dichter ihnen deutlicher ist als die Natur. Aber vielleicht
wird es sich einmal zeigen, daß hier die Grenze seiner Größe war.
Diese Liebende ward ihm auferlegt, und er hat sie nicht bestanden.
Was heißt es, daß er nicht hat erwidern können? Solche Liebe bedarf
keiner Erwiderung, sie hat Lockruf und Antwort in sich; sie erhört
sich selbst. Aber demütigen hätte er sich müssen vor ihr in seinem
ganzen Staat und schreiben was sie diktiert, mit beiden Händen, wie
Johannes auf Patmos, knieend. Es gab keine Wahl dieser Stimme
gegenüber, die "das Amt der Engel verrichtete"; die gekommen war, ihn
einzuhüllen und zu entziehen ins Ewige hinein. Da war der Wagen
seiner feurigen Himmelfahrt. Da war seinem Tod der dunkle Mythos
bereitet, den er leer ließ.

Das Schicksal liebt es, Muster und Figuren zu erfinden. Seine
Schwierigkeit beruht im Komplizierten. Das Leben selbst aber ist
schwer aus Einfachheit. Es hat nur ein paar Dinge von uns nicht
angemessener Größe. Der Heilige, indem er das Schicksal ablehnt,
wählt diese, Gott gegenüber. Daß aber die Frau, ihrer Natur nach, in
Bezug auf den Mann die gleiche Wahl treffen muß, ruft das Verhängnis
aller Liebesbeziehungen herauf: entschlossen und schicksalslos, wie
eine Ewige, steht sie neben ihm, der sich verwandelt. Immer
übertrifft die Liebende den Geliebten, weil das Leben größer ist als
das Schicksal. Ihre Hingabe will unermeßlich sein: dies ist ihr Glück.
Das namenlose Leid ihrer Liebe aber ist immer dieses gewesen: daß
von ihr verlangt wird, diese Hingabe zu beschränken.

Es ist keine andere Klage je von Frauen geklagt worden: die beiden
ersten Briefe Heloïsens enthalten nur sie, und fünfhundert Jahre
später erhebt sie sich aus den Briefen der Portugiesin; man erkennt
sie wieder wie einen Vogelruf. Und plötzlich geht durch den hellen
Raum dieser Einsicht der Sappho fernste Gestalt, die die Jahrhunderte
nicht fanden, da sie sie im Schicksal suchten.

Ich habe niemals gewagt, von ihm eine Zeitung zu kaufen. Ich bin
nicht sicher, daß er wirklich immer einige Nummern bei sich hat, wenn
er sich außen am Luxembourg-Garten langsam hin und zurück schiebt den
ganzen Abend lang. Er kehrt dem Gitter den Rücken, und seine Hand
streift den Steinrand, auf dem die Stäbe aufstehen. Er macht sich so
flach, daß täglich viele vorübergehen, die ihn nie gesehen haben.
Zwar hat er noch einen Rest von Stimme in sich und mahnt; aber das ist
nicht anders als ein Geräusch in einer Lampe oder im Ofen oder wenn es
in eigentümlichen Abständen in einer Grotte tropft. Und die Welt ist
so eingerichtet, daß es Menschen giebt, die ihr ganzes Leben lang in
der Pause vorbeikommen, wenn er, lautloser als alles was sich bewegt,
weiter rückt wie ein Zeiger, wie eines Zeigers Schatten, wie die Zeit.

Wie unrecht hatte ich, ungern hinzusehen. Ich schäme mich
aufzuschreiben, daß ich oft in seiner Nähe den Schritt der andern
annahm, als wüßte ich nicht um ihn. Dann hörte ich es in ihm "La
Presse" sagen und gleich darauf noch einmal und ein drittes Mal in
raschen Zwischenräumen. Und die Leute neben mir sahen sich um und
suchten die Stimme. Nur ich tat eiliger als alle, als wäre mir nichts
aufgefallen, als wäre ich innen überaus beschäftigt.

Und ich war es in der Tat. Ich war beschäftigt, ihn mir vorzustellen,
ich unternahm die Arbeit, ihn einzubilden, und der Schweiß trat mir
aus vor Anstrengung. Denn ich mußte ihn machen wie man einen Toten
macht, für den keine Beweise mehr da sind, keine Bestandteile; der
ganz und gar innen zu leisten ist. Ich weiß jetzt, daß es mir ein
wenig half, an die vielen abgenommenen Christusse aus streifigem
Elfenbein zu denken, die bei allen Althändlern herumliegen. Der
Gedanke an irgendeine Pietà trat vor und ab - : dies alles
wahrscheinlich nur, um eine gewisse Neigung hervorzurufen, in der sein
langes Gesicht sich hielt, und den trostlosen Bartnachwuchs im
Wangenschatten und die endgültig schmerzvolle Blindheit seines
verschlossenen Ausdrucks, der schräg aufwärts gehalten war. Aber es
war außerdem so vieles, was zu ihm gehörte; denn dies begriff ich
schon damals, daß nichts an ihm nebensächlich sei: nicht die Art, wie
der Rock oder der Mantel, hinten abstehend, überall den Kragen sehen
ließ, diesen niedrigen Kragen, der in einem großen Bogen um den
gestreckten, nischigen Hals stand, ohne ihn zu berühren; nicht die
grünlich schwarze Krawatte, die weit um das Ganze herumgeschnallt war;
und ganz besonders nicht der Hut, ein alter, hochgewölbter, steifer
Filzhut, den er trug wie alle Blinden ihre Hüte tragen: ohne Bezug zu
den Zeilen des Gesichts, ohne die Möglichkeit, aus diesem
Hinzukommenden und sich selbst eine neue äußere Einheit zu bilden;
nicht anders als irgendeinen verabredeten fremden Gegenstand. In
meiner Feigheit, nicht hinzusehen, brachte ich es so weit, daß das
Bild dieses Mannes sich schließlich oft auch ohne Anlaß stark und
schmerzhaft in mir zusammenzog zu so hartem Elend, daß ich mich, davon
bedrängt, entschloß, die zunehmende Fertigkeit meiner Einbildung durch
die auswärtige Tatsache einzuschüchtern und aufzuheben. Es war gegen
Abend. Ich nahm mir vor, sofort aufmerksam an ihm vorbeizugehen.

Nun muß man wissen: es ging auf den Frühling zu. Der Tagwind hatte
sich gelegt, die Gassen waren lang und befriedigt; an ihrem Ausgang
schimmerten Häuser, neu wie frische Bruchstellen eines weißen Metalls.
Aber es war ein Metall, das einen überraschte durch seine
Leichtigkeit. In den breiten, fortlaufenden Straßen zogen viele Leute
durcheinander, fast ohne die Wagen zu fürchten, die selten waren. Es
mußte ein Sonntag sein. Die Turmaufsätze von Saint-Sulpice zeigten
sich heiter und unerwartet hoch in der Windstille, und durch die
schmalen, beinah römischen Gassen sah man unwillkürlich hinaus in die
Jahreszeit. Im Garten und davor war so viel Bewegung von Menschen,
daß ich ihn nicht gleich sah. Oder erkannte ich ihn zuerst nicht
zwischen der Menge durch?

Ich wußte sofort, daß meine Vorstellung wertlos war. Die durch keine
Vorsicht oder Verstellung eingeschränkte Hingegebenheit seines Elends
übertraf meine Mittel. Ich hatte weder den Neigungswinkel seiner
Haltung begriffen gehabt noch das Entsetzen, mit dem die Innenseite
seiner Lider ihn fortwährend zu erfüllen schien. Ich hatte nie an
seinen Mund gedacht, der eingezogen war wie die Öffnung eines Ablaufs.
Möglicherweise hatte er Erinnerungen; jetzt aber kam nie mehr etwas
zu seiner Seele hinzu als täglich das amorphe Gefühl des Steinrands
hinter ihm, an dem seine Hand sich abnutzte. Ich war stehngeblieben,
und während ich das alles fast gleichzeitig sah, fühlte ich, daß er
einen anderen Hut hatte und eine ohne Zweifel sonntägliche Halsbinde;
sie war schräg in gelben und violetten Vierecken gemustert, und was
den Hut angeht, so war es ein billiger neuer Strohhut mit einem grünen
Band. Es liegt natürlich nichts an diesen Farben, und es ist
kleinlich, daß ich sie behalten habe. Ich will nur sagen, daß sie an
ihm waren wie das Weicheste auf eines Vogels Unterseite. Er selbst
hatte keine Lust daran, und wer von allen (ich sah mich um) durfte
meinen, dieser Staat wäre um seinetwillen?

Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so bist du also. Es giebt
Beweise für deine Existenz. Ich habe sie alle vergessen und habe
keinen je verlangt, denn welche unge heuere Verpflichtung läge in
deiner Gewißheit. Und doch, nun wird mirs gezeigt. Dieses ist dein
Geschmack, hier hast du Wohlgefallen. Daß wir doch lernten, vor allem
aushalten und nicht urteilen. Welche sind die schweren Dinge? Welche
die gnädigen? Du allein weißt es.

Wenn es wieder Winter wird und ich muß einen neuen Mantel haben, - gieb
mir, daß ich ihn so trage, solang er neu ist.

Es ist nicht, daß ich mich von ihnen unterscheiden will, wenn ich in
besseren, von Anfang an meinigen Kleidern herumgehe und darauf halte,
irgendwo zu wohnen. Ich bin nicht so weit. Ich habe nicht das Herz
zu ihrem Leben. Wenn mir der Arm einginge, ich glaube, ich versteckte
ihn. Sie aber (ich weiß nicht, wer sie sonst war), sie erschien jeden
Tag vor den Terrassen der Caféhäuser, und obwohl es sehr schwer war
für sie, den Mantel abzutun und sich aus dem unklaren Zeug und
Unterzeug herauszuziehen, sie scheute der Mühe nicht und tat ab und
zog aus so lange, daß mans kaum mehr erwarten konnte. Und dann stand
sie vor uns, bescheiden, mit ihrem dürren, verkümmerten Stück, und man
sah, daß es rar war.

Nein, es ist nicht, daß ich mich von ihnen unterscheiden will; aber
ich überhübe mich, wollte ich ihnen gleich sein. Ich bin es nicht.
Ich hätte weder ihre Stärke noch ihr Maß. Ich ernähre mich, und so
bin ich von Mahlzeit zu Mahlzeit, völlig geheimnislos; sie aber
erhalten sich fast wie Ewige. Sie stehen an ihren täglichen Ecken,
auch im November, und schreien nicht vor Winter. Der Nebel kommt und
macht sie undeutlich und ungewiß: sie sind gleichwohl. Ich war
verreist, ich war krank, vieles ist mir vergangen: sie aber sind nicht
gestorben.

(Ich weiß ja nicht einmal, wie es möglich ist, daß die Schulkinder
aufstehn in den Kammern voll grauriechender Kälte; wer sie bestärkt,
die überstürzten Skelettchen, daß sie hinauslaufen in die erwachsene
Stadt, in die trübe Neige der Nacht, in den ewigen Schultag, immer
noch klein, immer voll Vorgefühl, immer verspätet. Ich habe keine
Vorstellung von der Menge Beistand, die fortwährend verbraucht wird.)

Diese Stadt ist voll von solchen, die langsam zu ihnen hinabgleiten.
Die meisten sträuben sich erst; aber dann giebt es diese verblichenen,
alternden Mädchen, die sich fortwährend ohne Widerstand hinüberlassen,
starke, im Innersten ungebrauchte, die nie geliebt worden sind.

Vielleicht meinst du, mein Gott, daß ich alles lassen soll und sie
lieben. Oder warum wird es mir so schwer, ihnen nicht nachzugehen,
wenn sie mich überholen? Warum erfind ich auf einmal die süßesten,
nächtlichsten Worte, und meine Stimme steht sanft in mir zwischen
Kehle und Herz. Warum stell ich mir vor, wie ich sie unsäglich
vorsichtig an meinen Atem halten würde, diese Puppen, mit denen das
Leben gespielt hat, ihnen Frühling um Frühling für nichts und wieder
nichts die Arme auseinanderschlagend bis sie locker wurden in den
Schultern. Sie sind nie sehr hoch von einer Hoffnung gefallen, so
sind sie nicht zerbrochen; aber abgeschlagen sind sie und schon dem
Leben zu schlecht. Nur verlorene Katzen kommen abends zu ihnen in die
Kammer und zerkratzen sie heimlich und schlafen auf ihnen. Manchmal
folge ich einer zwei Gassen weit. Sie gehen an den Häusern hin,
fortwährend kommen Menschen, die sie verdecken, sie schwinden hinter
ihnen weiter wie nichts.

Und doch, ich weiß, wenn einer nun versuchte, sie liebzuhaben, so
wären sie schwer an ihm wie Zuweitgegangene, die aufhören zu gehn.
Ich glaube, nur Jesus ertrüge sie, der noch das Auferstehen in allen
Gliedern hat; aber ihm liegt nichts an ihnen. Nur die Liebenden
verführen ihn, nicht die, die warten mit einem kleinen Talent zur
Geliebten wie mit einer kalten Lampe.

Ich weiß, wenn ich zum Äußersten bestimmt bin, so wird es mir nichts
helfen, daß ich mich verstelle in meinen besseren Kleidern. Glitt er
nicht mitten im Königtum unter die Letzten? Er, der statt
aufzusteigen hinabsank bis auf den Grund. Es ist wahr, ich habe
zuzeiten an die anderen Könige geglaubt, obwohl die Parke nichts mehr
beweisen. Aber es ist Nacht, es ist Winter, ich friere, ich glaube an
ihn. Denn die Herrlichkeit ist nur ein Augenblick, und wir haben nie
etwas Längeres gesehen als das Elend. Der König aber soll dauern.

Ist nicht dieser der Einzige, der sich erhielt unter seinem Wahnsinn
wie Wachsblumen unter einem Glassturz? Für die anderen beteten sie in
den Kirchen um langes Leben, von ihm aber verlangte der Kanzler Jean
Charlier Gerson, daß er ewig sei, und das war damals, als er schon der
Dürftigste war, schlecht und von schierer Armut trotz seiner Krone.

Das war damals, als von Zeit zu Zeit Männer fremdlings, mit
geschwärztem Gesicht, ihn in seinem Bette überfielen, um ihm das in
die Schwären hineingefaulte Hemde abzureißen, das er schon längst für
sich selber hielt. Es war verdunkelt im Zimmer, und sie zerrten unter
seinen steifen Armen die mürben Fetzen weg, wie sie sie griffen. Dann
leuchtete einer vor, und da erst entdeckten sie die jäsige Wunde auf
seiner Brust, in die das eiserne Amulett eingesunken war, weil er es
jede Nacht an sich preßte mit aller Kraft seiner Inbrunst; nun stand
es tief in ihm, fürchterlich kostbar, in einem Perlensaum von Eiter
wie ein wundertuender Rest in der Mulde eines Reliquärs. Man hatte
harte Handlanger ausgesucht, aber sie waren nicht ekelfest, wenn die
Würmer, gestört, nach ihnen herüberstanden aus dem flandrischen
Barchent und, aus den Falten abgefallen, sich irgendwo an ihren Ärmeln
aufzogen. Es war ohne Zweifel schlimmer geworden mit ihm seit den
Tagen der parva regina; denn sie hatte doch noch bei ihm liegen mögen,
jung und klar wie sie war. Dann war sie gestorben. Und nun hatte
keiner mehr gewagt, eine Beischläferin an dieses Aas anzubetten. Sie
hatte die Worte und Zärtlichkeiten nicht hinterlassen, mit denen der
König zu mildern war. So drang niemand mehr durch dieses Geistes
Verwilderung; niemand half ihm aus den Schluchten seiner Seele;
niemand begriff es, wenn er selbst plötzlich heraustrat mit dem runden
Blick eines Tiers, das auf die Weide geht. Wenn er dann das
beschäftigte Gesicht Juvenals erkannte, so fiel ihm das Reich ein, wie
es zuletzt gewesen war. Und er wollte nachholen, was er versäumt
hatte.

Aber es lag an den Ereignissen jener Zeitläufte, daß sie nicht
schonend beizubringen waren. Wo etwas geschah, da geschah es mit
seiner ganzen Schwere, und war wie aus einem Stück, wenn man es sagte.
Oder was war davon abzuziehen, daß sein Bruder ermordet war, daß
gestern Valentina Visconti, die er immer seine liebe Schwester nannte,
vor ihm gekniet hatte, lauter Witwenschwarz weghebend von des
entstellten Antlitzes Klage und Anklage? Und heute stand stundenlang
ein zäher, rediger Anwalt da und bewies das Recht des fürstlichen
Mordgebers, solange bis das Verbrechen durchscheinend wurde und als
wollte es licht in den Himmel fahren. Und gerecht sein hieß, allen
recht geben; denn Valentina von Orléans starb Kummers, obwohl man ihr
Rache versprach. Und was half es, dem burgundischen Herzog zu
verzeihen und wieder zu verzeihen; über den war die finstere Brunst
der Verzweiflung gekommen, so daß er schon seit Wochen tief im Walde
von Argilly wohnte in einem Zelt und behauptete, nachts die Hirsche
schreien hören zu müssen zu seiner Erleichterung.

Wenn man dann das alles bedacht hatte, immer wieder bis ans Ende, kurz
wie es war, so begehrte das Volk einen zu sehen, und es sah einen:
ratlos. Aber das Volk freute sich des Anblicks; es begriff, daß dies
der König sei: dieser Stille, dieser Geduldige, der nur da war, um es
zuzulassen, daß Gott über ihn weg handelte in seiner späten Ungeduld.
In diesen aufgeklärten Augenblicken auf dem Balkon seines Hôtels von
Saint-Pol ahnte der König vielleicht seinen heimlichen Fortschritt;
der Tag von Roosbecke fiel ihm ein, als sein Oheim von Berry ihn an
der Hand genommen hatte, um ihn hinzuführen vor seinen ersten fertigen
Sieg; da überschaute er in dem merkwürdig langhellen Novembertag die
Massen der Genter, so wie sie sich erwürgt hatten mit ihrer eigenen
Enge, da man gegen sie angeritten war von allen Seiten.
Ineinandergewunden wie ein unge heueres Gehirn, lagen sie da in den
Haufen, zu denen sie sich selber zusammengebunden hatten, um dicht zu
sein. Die Luft ging einem weg, wenn man da und dort ihre erstickten
Gesichter sah; man konnte es nicht lassen, sich vorzustellen, daß sie
weit über diesen vor Gedränge noch stehenden Leichen verdrängt worden
sei durch den plötzlichen Austritt so vieler verzweifelter Seelen.

Dies hatte man ihm eingeprägt als den Anfang seines Ruhms. Und er
hatte es behalten. Aber, wenn das damals der Triumph des Todes war,
so war dieses, daß er hier stand auf seinen schwachen Knieen, aufrecht
in allen diesen Augen: das Mysterium der Liebe. An den anderen hatte
er gesehen, daß man jenes Schlachtfeld begreifen konnte, so ungeheuer
es war. Dies hier wollte nicht begriffen sein; es war genau so
wunderbar wie einst der Hirsch mit dem goldenen Halsband im Wald von
Senlis. Nur daß er jetzt selber die Erscheinung war, und andere waren
versunken in Anschauen. Und er zweifelte nicht, daß sie atemlos waren
und von derselben weiten Erwartung, wie sie einmal ihn an jenem
jünglinglichen Jagdtag überfiel, als das stille Gesicht, äugend, aus
den Zweigen trat. Das Geheimnis seiner Sichtbarkeit verbreitete sich
über seine sanfte Gestalt; er rührte sich nicht, aus Scheu, zu
vergehen, das dünne Lächeln auf seinem breiten, einfachen Gesicht nahm
eine natürliche Dauer an wie bei steinernen Heiligen und bemühte ihn
nicht. So hielt er sich hin, und es war einer jener Augenblicke, die
die Ewigkeit sind, in Verkürzung gesehen. Die Menge ertrug es kaum.
Gestärkt, von unerschöpflich vermehrter Tröstung gespeist, durchbrach
sie die Stille mit dem Aufschrei der Freude. Aber oben auf dem Balkon
war nur noch Juvenal des Ursins, und er rief in die nächste Beruhigung
hinein, daß der König rue Saint-Denis kommen würde zu der
Passionsbrüderschaft, die Mysterien sehen.

Zu solchen Tagen war der König voll milden Bewußtseins. Hätte ein
Maler jener Zeit einen Anhalt gesucht für das Dasein im Paradiese, er
hätte kein vollkommeneres Vorbild finden können als des Königs
gestillte Figur, wie sie in einem der hohen Fenster des Louvre stand
unter dem Sturz ihrer Schultern. Er blätterte in dem kleinen Buch der
Christine de Pisan, das "Der Weg des langen Lernens" heißt und das ihm
gewidmet war. Er las nicht die gelehrten Streitreden jenes
allegorischen Parlaments, das sich vorgesetzt hatte, den Fürsten
ausfindig zu machen, der würdig sei, über die Welt zu herrschen. Das
Buch schlug sich ihm immer an den einfachsten Stellen auf: wo von dem
Herzen die Rede war, das dreizehn Jahre lang wie ein Kolben über dem
Schmerzfeuer nur dazu gedient hatte, das Wasser der Bitternis für die
Augen zu destillieren; er begriff, daß die wahre Konsolation erst
begann, wenn das Glück vergangen genug und für immer vorüber war.
Nichts war ihm näher, als dieser Trost. Und während sein Blick
scheinbar die Brücke drüben umfaßte, liebte er es, durch dieses von
der starken Cumäa zu großen Wegen ergriffene Herz die Welt zu sehen,
die damalige: die gewagten Meere, fremdtürmige Städte, zugehalten vom
Ausdruck der Weiten; der gesammelten Gebirge ekstatische Einsamkeit
und die in fürchtigem Zweifel erforschten Himmel, die sich erst
schlossen wie eines Saugkindes Hirnschale.

Aber wenn jemand eintrat, so erschrak er, und langsam beschlug sich
sein Geist. Er gab zu, daß man ihn vom Fenster fortführte und ihn
beschäftigte. Sie hatten ihm die Gewohnheit beigebracht, stundenlang
über Abbildungen zu verweilen, und er war es zufrieden, nur kränkte es
ihn, daß man im Blättern niemals mehrere Bilder vor sich behielt und
daß sie in den Folianten festsaßen, so daß man sie nicht untereinander
bewegen konnte. Da hatte sich jemand eines Spiels Karten erinnert,
das völlig in Vergessenheit geraten war, und der König nahm den in
Gunst, der es ihm brachte; so sehr waren diese Kartons nach seinem
Herzen, die bunt waren und einzeln beweglich und voller Figur. Und
während das Kartenspielen unter den Hofleuten in Mode kam, saß der
König in seiner Bibliothek und spielte allein. Genau wie er nun zwei
Könige nebeneinander aufschlug, so hatte Gott neulich ihn und den
Kaiser Wenzel zusammengetan; manchmal starb eine Königin, dann legte
er ein Herz-Aß auf sie, das war wie ein Grabstein. Es wunderte ihn
nicht, daß es in diesem Spiel mehrere Päpste gab; er richtete Rom ein
drüben am Rande des Tisches, und hier, unter seiner Rechten, war
Avignon. Rom war ihm gleichgültig, er stellte es sich aus irgendeinem
Grunde rund vor und bestand nicht weiter darauf. Aber Avignon kannte
er. Und kaum dachte er es, so wiederholte seine Erinnerung den hohen
hermetischen Palast und überanstrengte sich. Er schloß die Augen und
mußte tief Atem holen. Er fürchtete bös zu träumen nächste Nacht.

Im ganzen aber war es wirklich eine beruhigende Beschäftigung, und sie
hatten recht, ihn immer wieder darauf zu bringen. Solche Stunden
befestigten ihn in der Ansicht, daß er der König sei, König Karl der
Sechste. Das will nicht sagen, daß er sich übertrieb; weit von ihm
war die Meinung, mehr zu sein als so ein Blatt, aber die Gewißheit
bestärkte sich in ihm, daß auch er eine bestimmte Karte sei,
vielleicht eine schlechte, eine zornig ausgespielte, die immer verlor:
aber immer die gleiche: aber nie eine andere. Und doch, wenn eine
Woche so hingegangen war in gleichmäßiger Selbstbestätigung, so wurde
ihm enge in ihm. Die Haut spannte ihn um die Stirn und im Nacken, als
empfände er auf einmal seinen zu deutlichen Kontur. Niemand wußte,
welcher Versuchung er nachgab, wenn er dann nach den Mysterien fragte
und nicht erwarten konnte, daß sie begännen. Und war es einmal so
weit, so wohnte er mehr rue Saint-Denis als in seinem Hötel von
Saint-Pol.

Es war das Verhängnisvolle dieser dargestellten Gedichte, daß sie sich
immerfort ergänzten und erweiterten und zu Zehntausenden von Versen
anwuchsen, so daß die Zeit in ihnen schließlich die wirkliche war;
etwa so, als machte man einen Globus im Maßstab der Erde. Die hohle
Estrade, unter der die Hölle war und über der, an einen Pfeiler
angebaut, das geländerlose Gerüst eines Balkons das Niveau des
Paradieses bedeutete, trug nur noch dazu bei, die Täuschung zu
verringern. Denn dieses Jahr hundert hatte in der Tat Himmel und
Hölle irdisch gemacht: es lebte aus den Kräften beider, um sich zu
überstehen.

Es waren die Tage jener avignonesischen Christenheit, die sich vor
einem Menschenalter um Johann den Zweiundzwanzigsten zusammengezogen
hatte, mit so viel unwillkürlicher Zuflucht, daß an dem Platze seines
Pontifikats, gleich nach ihm, die Masse dieses Palastes entstanden war,
verschlossen und schwer wie ein äußerster Notleib für die wohnlose
Seele aller. Er selbst aber, der kleine, leichte, geistige Greis,
wohnte noch im Offenen. Während er, kaum angekommen, ohne Aufschub,
nach allen Seiten hin rasch und knapp zu handeln begann, standen die
Schüsseln mit Gift gewürzt auf seiner Tafel; der erste Becher mußte
immer weggeschüttet werden, denn das Stück Einhorn war mißfarbig, wenn
es der Mundkämmerer daraus zurückzog. Ratlos, nicht wissend, wo er
sie verbergen sollte, trug der Siebzigjährige die Wachsbildnisse herum,
die man von ihm gemacht hatte, um ihn darin zu verderben; und er
ritzte sich an den langen Nadeln, mit denen sie durchstochen waren.
Man konnte sie einschmelzen. Doch so hatte er sich schon an diesen
heimlichen Simulakern entsetzt, daß er, gegen seinen starken Willen,
mehrmals den Gedanken formte, er könnte sich selbst damit tödlich sein
und hinschwinden wie das Wachs am Feuer. Sein verminderter Körper
wurde nur noch trockener vom Grausen und dauerhafter. Aber nun wagte
man sich an den Körper seines Reichs; von Granada aus waren die Juden
angestiftet worden, alle Christlichen zu vertilgen, und diesmal hatten
sie sich furchtbarere Vollzieher erkauft. Niemand zweifelte, gleich
auf die ersten Gerüchte hin, an dem Anschlag der Leprosen; schon
hatten einzelne gesehen, wie sie Bündel ihrer schrecklichen Zersetzung
in die Brunnen warfen. Es war nicht Leichtgläubigkeit, daß man dies
sofort für möglich hielt; der Glaube, im Gegenteil, war so schwer
geworden, daß er den Zitternden entsank und bis auf den Grund der
Brunnen fiel. Und wieder hatte der eifrige Greis Gift abzuhalten vom
Blute. Zur Zeit seiner abergläubischen Anwandlungen hatte er sich und
seiner Umgebung das Angelus verschrieben gegen die Dämonen der
Dämmerung; und nun läutete man auf der ganzen erregten Welt jeden
Abend dieses kalmierende Gebet. Sonst aber glichen alle Bullen und
Briefe, die von ihm ausgingen, mehr einem Gewürzwein als einer Tisane.
Das Kaisertum hatte sich nicht in seine Behandlung gestellt, aber er
ermüdete nicht, es mit Beweisen seines Krankseins zu überhäufen; und
schon wandte man sich aus dem fernsten Osten an diesen herrischen Arzt.


Aber da geschah das Unglaubliche. Am Allerheiligentag hatte er
gepredigt, länger, wärmer als sonst; in einem plötzlichen Bedürfnis,
wie um ihn selbst wiederzusehen, hatte er seinen Glauben gezeigt; aus
dem fünfundachtzigjährigen Tabernakel hatte er ihn mit aller Kraft
langsam herausgehoben und auf der Kanzel ausgestellt: und da schrieen
sie ihn an. Ganz Europa schrie: dieser Glaube war schlecht.

Damals verschwand der Papst. Tagelang ging keine Aktion von ihm aus,
er lag in seinem Betzimmer auf den Knieen und erforschte das Geheimnis
der Handelnden, die Schaden nehmen an ihrer Seele. Endlich erschien
er, erschöpft von der schweren Einkehr, und widerrief. Er widerrief
einmal über das andere. Es wurde die senile Leidenschaft seines
Geistes, zu widerrufen. Es konnte geschehen, daß er nachts die
Kardinäle wecken ließ, um mit ihnen von seiner Reue zu reden. Und
vielleicht war das, was sein Leben über die Maßen hinhielt,
schließlich nur die Hoffnung, sich auch noch vor Napoleon Orsini zu
demütigen, der ihn haßte und der nicht kommen wollte.

Jakob von Cahors hatte widerrufen. Und man könnte meinen, Gott selber
hätte seine Irrung erweisen wollen, da er so bald hernach jenen Sohn
des Grafen von Ligny aufkommen ließ, der seine Mündigkeit auf Erden
nur abzuwarten schien, um des Himmels seelische Sinnlichkeiten mannbar
anzutreten. Es lebten viele, die sich dieses klaren Knaben in seinem
Kardinalat erinnerten, und wie er am Eingang seiner Jünglingschaft
Bischof geworden und mit kaum achtzehn Jahren in einer Ekstase seiner
Vollendung gestorben war. Man begegnete Totgewesenen: denn die Luft
an seinem Grabe, in der, frei geworden, pures Leben lag, wirkte lange
noch auf die Leichname. Aber war nicht etwas Verzweifeltes selbst in
dieser frühreifen Heiligkeit? War es nicht ein Unrecht an allen, daß
das reine Gewebe dieser Seele nur eben durchgezogen worden war, als
handelte es sich nur darum, es in der garen Scharlachküpe der Zeit
leuchtend zu färben? Empfand man nicht etwas wie einen Gegenstoß, da
dieser junge Prinz von der Erde absprang in seine leidenschaftliche
Himmelfahrt? Warum verweilten die Leuchtenden nicht unter den
mühsamen Lichtziehern? War es nicht diese Finsternis, die Johann den
Zweiundzwanzigsten dahin gebracht hatte, zu behaupten, daß es vor dem
jüngsten Gericht keine ganze Seligkeit gäbe, nirgends, auch unter den
Seligen nicht? Und in der Tat, wieviel rechthaberische Verbissenheit
gehörte dazu, sich vorzustellen, daß, während hier so dichte Wirrsal
geschah, irgendwo Gesichter schon im Scheine Gottes lagen, an Engel
zurückgelehnt und gestillt durch die unausschöpfliche Aussicht auf ihn.


Da sitze ich in der kalten Nacht und schreibe und weiß das alles. Ich
weiß es vielleicht, weil mir jener Mann begegnet ist, damals als ich
klein war. Er war sehr groß, ich glaube sogar, daß er auffallen mußte
durch seine Größe.

So unwahrscheinlich es ist, es war mir irgendwie gelungen, gegen Abend
allein aus dem Haus zu kommen; ich lief, ich bog um eine Ecke, und in
demselben Augenblick stieß ich gegen ihn. Ich begreife nicht, wie das,
was jetzt geschah, sich in etwa fünf Sekunden abspielen konnte. So
dicht man es auch erzählt, es dauert viel länger. Ich hatte mir weh
getan im Anlauf an ihn; ich war klein, es schien mir schon viel, daß
ich nicht weinte, auch erwartete ich unwillkürlich, getröstet zu sein.
Da er das nicht tat, hielt ich ihn für verlegen; es fiel ihm,
vermutete ich, der richtige Scherz nicht ein, in dem diese Sache
aufzulösen war. Ich war schon vergnügt genug, ihm dabei zu helfen,
aber dazu war es nötig, ihm ins Gesicht zu sehen. Ich habe gesagt,
daß er groß war. Nun hatte er sich nicht, wie es doch natürlich
gewesen wäre, über mich gebeugt, so daß er sich in einer Höhe befand,
auf die ich nicht vorbereitet war. Immer noch war vor mir nichts als
der Geruch und die eigentümliche Härte seines Anzugs, die ich gefühlt
hatte. Plötzlich kam sein Gesicht. Wie es war? Ich weiß es nicht,
ich will es nicht wissen. Es war das Gesicht eines Feindes. Und
neben diesem Gesicht, dicht nebenan, in der Höhe der schrecklichen
Augen, stand, wie ein zweiter Kopf, seine Faust. Ehe ich noch Zeit
hatte, mein Gesicht wegzusenken, lief ich schon; ich wich links an ihm
vorbei und lief geradeaus eine leere, furchtbare Gasse hinunter, die
Gasse einer fremden Stadt, einer Stadt, in der nichts vergeben wird.

Damals erlebte ich, was ich jetzt begreife: jene schwere, massive,
verzweifelte Zeit. Die Zeit, in der der Kuß zweier, die sich
versöhnten, nur das Zeichen für die Mörder war, die herumstanden. Sie
tranken aus demselben Becher, sie bestiegen vor aller Augen das
gleiche Reitpferd, und es wurde verbreitet, daß sie die Nacht in einem
Bette schlafen würden: und über allen diesen Berührungen wurde ihr
Widerwillen aneinander so dringend, daß, sooft einer die schlagenden
Adern des andern sah, ein krankhafter Ekel ihn bäumte, wie beim
Anblick einer Kröte. Die Zeit, in der ein Bruder den Bruder um dessen
größeren Erbteils willen überfiel und gefangenhielt; zwar trat der
König für den Mißhandelten ein und erreichte ihm Freiheit und Eigentum;
in anderen, fernen Schicksalen beschäftigt, gestand ihm der Ältere
Ruhe zu und bereute in Briefen sein Unrecht. Aber über alledem kam
der Befreite nicht mehr zur Fassung. Das Jahrhundert zeigt ihn im
Pilgerkleid von Kirche zu Kirche ziehen, immer wunderlichere Gelübde
erfindend. Mit Amuletten behangen, flüstert er den Mönchen von
Saint-Denis seine Befürchtungen zu, und in ihren Registern stand lange
die hundertpfündige Wachskerze verzeichnet, die er für gut hielt, dem
heiligen Ludwig zu weihen. Zu seinem eigenen Leben kam es nicht; bis
an sein Ende fühlte er seines Bruders Neid und Zorn in verzerrter
Konstellation über seinem Herzen. Und jener Graf von Foix, Gaston
Phöbus, der in aller Bewunderung war, hatte er nicht seinen Vetter
Ernault, des englischen Königs Hauptmann zu Lourdes, offen getötet?
Und was war dieser deutliche Mord gegen den grauenvollen Zufall, daß
er das kleine scharfe Nagelmesser nicht fortgelegt hatte, als er mit
seiner berühmt schönen Hand in zuckendem Vorwurf den bloßen Hals
seines liegenden Sohnes streifte? Die Stube war dunkel, man mußte
leuchten, um das Blut zu sehen, das so weit herkam und nun für immer
ein köstliches Geschlecht verließ, da es heimlich aus der winzigen
Wunde dieses erschöpften Knaben austrat.

Wer konnte stark sein und sich des Mordes enthalten? Wer in dieser
Zeit wußte nicht, daß das Äußerste unvermeidlich war? Da und dort
über einen, dessen Blick untertags dem kostenden Blick seines Mörders
begegnet war, kam ein seltsames Vorgefühl. Er zog sich zurück, er
schloß sich ein, er schrieb das Ende seines Willens und verordnete zum
Schluß die Trage aus Weidengeflecht, die Cölestinerkutte und
Aschenstreu. Fremde Minstrel erschienen vor seinem Schloß, und er
beschenkte sie fürstlich für ihre Stimme, die mit seinen vagen
Ahnungen einig war. Im Aufblick der Hunde war Zweifel, und sie wurden
weniger sicher in ihrer Aufwartung. Aus der Devise, die das ganze
Leben lang gegolten hatte, trat leise ein neuer, offener Nebensinn.
Manche lange Gewohnheit kam einem veraltet vor, aber es war, als
bildete sich kein Ersatz mehr fur sie. Stellten sich Pläne ein, so
ging man im großen mit ihnen um, ohne wirklich an sie zu glauben;
dagegen griffen gewisse Erinnerungen zu einer unerwarteten
Endgültigkeit. Abends, am Feuerplatz, meinte man sich ihnen zu
überlassen. Aber die Nacht draußen, die man nicht mehr kannte, wurde
auf einmal ganz stark im Gehör. Das an so vielen freien oder
gefährlichen Nächten erfahrene Ohr unterschied einzelne Stücke der
Stille. Und doch war es anders diesmal. Nicht die Nacht zwischen
gestern und heute: eine Nacht. Nacht. Beau Sire Dieu, und dann die
Auferstehung. Kaum daß in solche Stunden die Berühmung um eine
Geliebte hineinreichte: sie waren alle verstellt in Tagliedern und
Diengedichten; unbegreiflich geworden unter langen nachschleppenden
Prunknamen. Höchstens, im Dunkel, wie das volle, frauige Aufschaun
eines Bastardsohns.

Und dann, vor dem späten Nachtessen diese Nachdenklichkeit über die
Hände in dem silbernen Waschbecken. Die eigenen Hände. Ob ein
Zusammenhang in das Ihre zu bringen war? Eine Folge, eine Fortsetzung
im Greifen und Lassen? Nein. Alle versuchten das Teil und das
Gegenteil. Alle hoben sich auf, Handlung war keine.

Es gab keine Handlung, außer bei den Missionsbrüdern. Der König, so
wie er sie hatte sich gebärden sehn, erfand selbst den Freibrief für
sie. Er redete sie seine lieben Brüder an; nie war ihm jemand so
nahegegangen. Es wurde ihnen wörtlich bewilligt, in ihrer Bedeutung
unter den Zeitlichen herumzugehen; denn der König wünschte nichts mehr,
als daß sie viele anstecken sollten und hineinreißen in ihre starke
Aktion, in der Ordnung war. Was ihn selbst betrifft, so sehnte er
sich, von ihnen zu lernen. Trug er nicht, ganz wie sie, die Zeichen
und Kleider eines Sinnes an sich? Wenn er ihnen zusah, so konnte er
glauben, dies müßte sich erlernen lassen: zu kommen und zu gehen,
auszusagen und sich abzubiegen, so daß kein Zweifel war. Ungeheuere
Hoffnungen überzogen sein Herz. In diesem unruhig beleuchteten,
merkwürdig unbestimmten Saal des Dreifaltigkeitshospitals saß er
täglich an seinem besten Platz und stand auf vor Erregung und nahm
sich zusammen wie ein Schüler. Andere weinten; er aber war innen voll
glänzender Tränen und preßte nur die kalten Hände ineinander, um es zu
ertragen. Manchmal im Äußersten, wenn ein abgesprochener Spieler
plötzlich wegtrat aus seinem großen Blick, hob er das Gesicht und
erschrak: seit wie lange schon war Er da: Monseigneur Sankt Michaël,
oben, vorgetreten an den Rand des Gerüsts in seiner spiegelnden
silbernen Rüstung.

In solchen Momenten richtete er sich auf. Er sah um sich wie vor
einer Entscheidung. Er war ganz nahe daran, das Gegenstück zu dieser
Handlung hier einzusehen: die große, bange, profane Passion, in der er
spielte. Aber auf einmal war es vorbei. Alle bewegten sich ohne Sinn.
Offene Fackeln kamen auf ihn zu, und in die Wölbung hinauf warfen
sich formlose Schatten. Menschen, die er nicht kannte, zerrten an ihm.
Er wollte spielen: aber aus seinem Mund kam nichts, seine Bewegungen
ergaben keine Gebärde. Sie drängten sich so eigentümlich um ihn, es
kam ihm die Idee, daß er das Kreuz tragen sollte. Und er wollte
warten, daß sie es brächten. Aber sie waren stärker, und sie schoben
ihn langsam hinaus.

Aussen ist vieles anders geworden. Ich weiß nicht wie. Aber innen
und vor Dir, mein Gott, innen vor Dir, Zuschauer: sind wir nicht ohne
Handlung? Wir entdecken wohl, daß wir die Rolle nicht wissen, wir
suchen einen Spiegel, wir möchten abschminken und das Falsche abnehmen
und wirklich sein. Aber irgendwo haftet uns noch ein Stück
Verkleidung an, das wir vergessen. Eine Spur Übertreibung bleibt in
unseren Augenbrauen, wir merken nicht, daß unsere Mundwinkel verbogen
sind. Und so gehen wir herum, ein Gespött und eine Hälfte: weder
Seiende, noch Schauspieler.

Das war im Theater zu Orange. Ohne recht aufzusehen, nur im
Bewußtsein des rustiken Bruchs, der jetzt seine Fassade ausmacht, war
ich durch die kleine Glastür des Wächters eingetreten. Ich befand
mich zwischen liegenden Säulenkörpern und kleinen Althaeabäumen, aber
sie verdeckten mir nur einen Augenblick die offene Muschel des
Zuschauerhangs, die dalag, geteilt von den Schatten des Nachmittags,
wie eine riesige konkave Sonnenuhr. Ich ging rasch auf sie zu. Ich
fühlte, zwischen den Sitzreihen aufsteigend, wie ich abnahm in dieser
Umgebung. Oben, etwas höher, standen, schlecht verteilt, ein paar
Fremde herum in müßiger Neugier; ihre Anzüge waren unangenehm deutlich,
aber ihr Maßstab war nicht der Rede wert. Eine Weile faßten sie mich
ins Auge und wunderten sich über meine Kleinheit. Das machte, daß ich
mich umdrehte.

Oh, ich war völlig unvorbereitet. Es wurde gespielt. Ein immenses,
ein übermenschliches Drama war im Gange, das Drama dieser gewaltigen
Szenenwand, deren senkrechte Gliederung dreifach auftrat, dröhnend vor
Größe, fast vernichtend und plötzlich maßvoll im Übermaß.

Ich ließ mich hin vor glücklicher Bestürzung. Dieses Ragende da mit
der antlitzhaften Ordnung seiner Schatten, mit dem gesammelten Dunkel
im Mund seiner Mitte, begrenzt, oben, von des Kranzgesimses
gleichlockiger Haartracht: dies war die starke, alles verstellende
antikische Maske, hinter der die Welt zum Gesicht zusammenschoß. Hier,
in diesem großen, eingebogenen Sitzkreis herrschte ein wartendes,
leeres, saugendes Dasein: alles Geschehen war drüben: Götter und
Schicksal. Und von drüben kam (wenn man hoch aufsah) leicht, über den
Wandgrat: der ewige Einzug der Himmel.

Diese Stunde, das begreife ich jetzt, schloß mich für immer aus von
unseren Theatern. Was soll ich dort? Was soll ich vor einer Szene,
in der diese Wand (die Ikonwand der russischen Kirchen) abgetragen
wurde, weil man nicht mehr die Kraft hat, durch ihre Härte die
Handlung durchzupressen, die gasförmige, die in vollen schweren
Öltropfen austritt. Nun fallen die Stücke in Brocken durch das
lochige Grobsieb der Bühnen und häufen sich an und werden weggeräumt,
wenn es genug ist. Es ist dieselbe ungare Wirklichkeit, die auf den
Straßen liegt und in den Häusern, nur daß mehr davon dort
zusammenkommt, als sonst in einen Abend geht.

(Laßt uns doch aufrichtig sein, wir haben kein Theater, so wenig wir
einen Gott haben: dazu gehört Gemeinsamkeit. Jeder hat seine
besonderen Einfälle und Befürchtungen, und er läßt den andern so viel
davon sehen, als ihm nützt und paßt. Wir verdünnen fortwährend unser
Verstehen, damit es reichen soll, statt zu schreien nach der Wand
einer gemeinsamen Not, hinter der das Unbegreifliche Zeit hat, sich zu
sammeln und anzuspannen.)

Hätten wir ein Theater, stündest du dann, du Tragische immer wieder so
schmal, so bar, so ohne Gestaltvorwand vor denen, die an deinem
ausgestellten Schmerz ihre eilige Neugier vergnügen? Du sahst,
unsäglich Rührende, das Wirklichsein deines Leidens voraus, in Verona
damals, als du, fast noch ein Kind, theaterspielend, lauter Rosen vor
dich hieltst wie eine maskige Vorderansicht, die dich gesteigert
verbergen sollte.

Es ist wahr, du warst ein Schauspielerkind, und wenn die Deinen
spielten, so wollten sie gesehen sein; aber du schlugst aus der Art.
Dir sollte dieser Beruf werden, was für Marianna Alcoforado, ohne daß
sie es ahnte, die Nonnenschaft war, eine Verkleidung, dicht und
dauernd genug, um hinter ihr rückhaltlos elend zu sein, mit der
Inständigkeit, mit der unsichtbare Selige selig sind. In allen
Städten, wohin du kamst, beschrieben sie deine Gebärde; aber sie
begriffen nicht, wie du, aussichtsloser von Tag zu Tag, immer wieder
eine Dichtung vor dich hobst, ob sie dich berge. Du hieltest dein
Haar, deine Hände, irgendein dichtes Ding vor die durchscheinenden
Stellen. Du hauchtest die an, die durchsichtig waren; du machtest
dich klein; du verstecktest dich, wie Kinder sich verstecken, und dann
hattest du jenen kurzen, glücklichen Auflaut, und höchstens ein Engel
hätte dich suchen dürfen. Aber, schautest du dann vorsichtig auf, so
war kein Zweifel, daß sie dich die ganze Zeit gesehen hatten, alle in
dem häßlichen, hohlen, äugigen Raum: dich, dich, dich und nichts
anderes.

Und es kam dich an, ihnen den Arm verkürzt entgegenzustrecken mit dem
Fingerzeichen gegen den bösen Blick. Es kam dich an, ihnen dein
Gesicht zu entreißen, an dem sie zehrten. Es kam dich an, du selber
zu sein. Deinen Mitspielern fiel der Mut; als hätte man sie mit einem
Pantherweibchen zusammengesperrt, krochen sie an den Kulissen entlang
und sprachen was fällig war, nur um dich nicht zu reizen. Da aber
zogst sie hervor und stelltest sie hin und gingst mit ihnen um wie mit
Wirklichen. Die schlappen Türen, die hingetäuschten Vorhänge, die
Gegenstände ohne Hinterseite drängten dich zum Widerspruch. Du
fühltest, wie dein Herz sich unaufhaltsam steigerte zu einer immensen
Wirklichkeit und, erschrocken, versuchtest du noch einmal die Blicke
von dir abzunehmen wie lange Fäden Altweibersommers - : Aber da brachen
sie schon in Beifall aus in ihrer Angst vor dem Äußersten: wie um im
letzten Moment etwas von sich abzuwenden, was sie zwingen würde, ihr
Leben zu ändern.

Schlecht leben die Geliebten und in Gefahr. Ach, daß sie sich
überstünden und Liebende würden. Um die Liebenden ist lauter
Sicherheit. Niemand verdächtigt sie mehr, und sie selbst sind nicht
imstande, sich zu verraten. In ihnen ist das Geheimnis heil geworden,
sie schreien es im Ganzen aus wie Nachtigallen, es hat keine Teile.
Sie klagen um einen; aber die ganze Natur stimmt in sie ein: es ist
die Klage um einen Ewigen. Sie stürzen sich dem Verlorenen nach, aber
schon mit den ersten Schritten überholen sie ihn, und vor ihnen ist
nur noch Gott. Ihre Legende ist die der Byblis, die den Kaunos
verfolgt bis nach Lykien hin. Ihres Herzens Andrang jagte sie durch
die Länder auf seiner Spur, und schließlich war sie am Ende der Kraft;
aber so stark war ihres Wesens Bewegtheit, daß sie, hinsinkend,
jenseits vom Tod als Quelle wiedererschien, eilend, als eilende Quelle.


Was ist anderes der Portugiesin geschehen: als daß sie innen zur
Quelle ward? Was dir, Heloïse? Was euch, Liebenden, deren Klagen auf
uns gekommen sind: Gaspara Stampa; Gräfin von Die und Clara d'Anduze;
Louise Labbé, Marceline Desbordes, Elisa Mercœur? Aber du, arme
flüchtige Aïssé, du zögertest schon und gabst nach. Müde Julie
Lespinasse. Trostlose Sage des glücklichen Parks: Marie-Anne de
Clermont.

Ich weiß noch genau, einmal, vorzeiten, zuhaus, fand ich ein
Schmucketui; es war zwei Hände groß, fächerförmig mit einem
eingepreßten Blumenrand im dunkelgrünen Saffian. Ich schlug es auf:
es war leer. Das kann ich nun sagen nach so langer Zeit. Aber damals,
da ich es geöffnet hatte, sah ich nur, woraus diese Leere bestand:
aus Samt, aus einem kleinen Hügel lichten, nicht mehr frischen Samtes;
aus der Schmuckrille, die, um eine Spur Wehmut heller, leer, darin
verlief. Einen Augenblick war das auszuhalten. Aber vor denen, die
als Geliebte zurückbleiben, ist es vielleicht immer so.

Blättert zurück in euren Tagebüchern. War da nicht immer um die
Frühlinge eine Zeit, da das ausbrechende Jahr euch wie ein Vorwurf
betraf? Es war Lust zum Frohsein in euch, und doch, wenn ihr
hinaustratet in das geräumige Freie, so entstand draußen eine
Befremdung in der Luft, und ihr wurdet unsicher im Weitergehen wie auf
einem Schiffe. Der Garten fing an; ihr aber (das war es), ihr
schlepptet Winter herein und voriges Jahr; für euch war es bestenfalls
eine Fortsetzung. Während ihr wartetet, daß eure Seele teilnähme,
empfandet ihr plötzlich eurer Glieder Gewicht, und etwas wie die
Möglichkeit, krank zu werden, drang in euer offenes Vorgefühl. Ihr
schobt es auf euer zu leichtes Kleid, ihr spanntet den Schal um die
Schultern, ihr lieft die Allee bis zum Schluß: und dann standet ihr,
herzklopfend, in dem weiten Rondell, entschlossen mit alledem einig zu
sein. Aber ein Vogel klang und war allein und verleugnete euch. Ach,
hättet ihr müssen gestorben sein?

Vielleicht. Vielleicht ist das neu, daß wir das überstehen: das Jahr
und die Liebe. Blüten und Früchte sind reif, wenn sie fallen; die
Tiere fühlen sich und finden sich zueinander und sind es zufrieden.
Wir aber, die wir uns Gott vorgenommen haben, wir können nicht fertig
werden. Wir rücken unsere Natur hinaus, wir brauchen noch Zeit. Was
ist uns ein Jahr? Was sind alle? Noch eh wir Gott angefangen haben,
beten wir schon zu ihm: laß uns die Nacht überstehen. Und dann das
Kranksein. Und dann die Liebe.

Daß Clémence de Bourges hat sterben müssen in ihrem Aufgang. Sie, die
ohne gleichen war; unter den Instrumenten, die sie wie keine zu
spielen verstand, das schönste, selber im mindesten Klang ihrer Stimme
unvergeßlich gespielt. Ihr Mädchentum war von so hoher
Entschlossenheit, daß eine flutende Liebende diesem aufkommenden
Herzen das Buch Sonette zueignen konnte, darin jeder Vers ungestillt
war. Louise Labbé fürchtete nicht, dieses Kind zu erschrecken mit der
Leidenslänge der Liebe. Sie zeigte ihr das nächtliche Steigen der
Sehnsucht; sie versprach ihr den Schmerz wie einen größeren Weltraum;
und sie ahnte, daß sie mit ihrem erfahrenen Weh hinter dem dunkel
erwarteten zurückblieb, von dem diese Jünglingin schön war.

Mädchen in meiner Heimat. Daß die schönste von euch im Sommer an
einem Nachmittag in der verdunkelten Bibliothek sich das kleine Buch
fände, das Jan des Tournes 1556 gedruckt hat. Daß sie den kühlenden,
glatten Band mitnähme hinaus in den summenden Obstgarten oder hinüber
zum Phlox, in dessen übersüßtem Duft ein Bodensatz schierer Süßigkeit
steht. Daß sie es früh fände. In den Tagen, da ihre Augen anfangen,
auf sich zu halten, während der jüngere Mund noch imstande ist, viel
zu große Stücke von einem Apfel abzubeißen und voll zu sein.

Und wenn dann die Zeit der bewegteren Freundschaften kommt, Mädchen,
daß es euer Geheimnis wäre, einander Dika zu rufen und Anaktoria,
Gyrinno und Atthis. Daß einer, ein Nachbar vielleicht, ein älterer
Mann, der in seiner Jugend gereist ist und längst als Sonderling gilt,
euch diese Namen verriete. Daß er euch manchmal zu sich einlüde, um
seiner berühmten Pfirsiche willen oder wegen der Ridingerstiche zur
Equitation oben im weißen Gang, von denen so viel gesprochen wird, daß
man sie müßte gesehen haben.

Vielleicht überredet ihr ihn zu erzählen. Vielleicht ist die unter
euch, die ihn erbitten kann, die alten Reisetagebücher hervorzuholen,
wer kann es wissen? Dieselbe, die es ihm eines Tags zu entlocken
versteht, daß einzelne Gedichtstellen der Sappho auf uns gekommen sind,
und die nicht ruht bis sie weiß, was fast ein Geheimnis ist: daß
dieser zurückgezogene Mann es liebte, zuzeiten seine Muße an die
Übertragung dieser Versstücke zu wenden. Er muß zugeben, daß er lange
nicht mehr daran gedacht hat, und was da ist, versichert er, sei nicht
der Rede wert. Aber nun freut es ihn doch, vor diesen arglosen
Freundinnen, wenn sie sehr drängen, eine Strophe zu sagen. Er
entdeckt sogar den griechischen Wortlaut in seinem Gedächtnis, er
spricht ihn vor, weil die Übersetzung nichts giebt, seiner Meinung
nach, und um dieser Jugend den schönen, echten Bruch der massiven
Schmucksprache zu zeigen, die in so starken Flammen gebogen ward.

Über dem allen erwärmt er sich wieder für seine Arbeit. Es kommen
schöne, fast jugendliche Abende für ihn, Herbstabende zum Beispiel,
die sehr viel stille Nacht vor sich haben. In seinem Kabinett ist
dann lange Licht. Er bleibt nicht immer über die Blätter gebeugt, er
lehnt sich oft zurück, er schließt die Augen über einer
wiedergelesenen Zeile, und ihr Sinn verteilt sich in seinem Blut. Nie
war er der Antike so gewiß. Fast möchte er der Generationen lächeln,
die sie beweint haben wie ein verlorenes Schauspiel, in dem sie gerne
aufgetreten wären. Nun begreift er momentan die dynamische Bedeutung
jener frühen Welteinheit, die etwas wie ein neues, gleichzeitiges
Aufnehmen aller menschlichen Arbeit war. Es beirrt ihn nicht, daß
jene konsequente Kultur mit ihren gewissermaßen vollzähligen
Versichtbarungen für viele spätere Blicke ein Ganzes zu bilden schien
und ein im Ganzen Vergangenes. Zwar ward dort wirklich des Lebens
himmlische Hälfte an die halbrunde Schale des Daseins gepaßt, wie zwei
volle Hemisphären zu einer heilen, goldenen Kugel zusammengehen. Doch
dies war kaum geschehen, so empfanden die in ihr eingeschlossenen
Geister diese restlose Verwirklichung nur noch als Gleichnis; das
massive Gestirn verlor an Gewicht und stieg auf in den Raum, und in
seiner goldenen Rundung spiegelte sich zurückhaltend die Traurigkeit
dessen, was noch nicht zu bewältigen war.

Wie er dies denkt, der Einsame in seiner Nacht, denkt und einsieht,
bemerkt er einen Teller mit Früchten auf der Fensterbank.
Unwillkürlich greift er einen Apfel heraus und legt ihn vor sich auf
den Tisch. Wie steht mein Leben herum um diese Frucht, denkt er. Um
alles Fertige steigt das Ungetane und steigert sich.

Und da, über dem Ungetanen, ersteht ihm, fast zu schnell, die kleine,
ins Unendliche hinaus gespannte Gestalt, die (nach Galiens Zeugnis)
alle meinten, wenn sie sagten: die Dichterin. Denn wie hinter den
Werken des Herakles Abbruch und Umbau der Welt verlangend aufstand, so
drängten sich, gelebt zu werden, aus den Vorräten des Seins an die
Taten ihres Herzens die Seligkeiten und Verzweiflungen heran, mit
denen die Zeiten auskommen müssen.

Er kennt auf einmal dieses entschlossene Herz, das bereit war, die
ganze Liebe zu leisten bis ans Ende. Es wundert ihn nicht, daß man es
verkannte; daß man in dieser überaus künftigen Liebenden nur das
Übermaß sah, nicht die neue Maßeinheit von Liebe und Herzleid. Daß
man die Inschrift ihres Daseins auslegte wie sie damals gerade
glaubhaft war, daß man ihr endlich den Tod derjenigen zuschrieb, die
der Gott einzeln anreizt, aus sich hinauszulieben ohne Erwiderung.
Vielleicht waren selbst unter den von ihr gebildeten Freundinnen
solche, die es nicht begriffen: daß sie auf der Höhe ihres Handelns
nicht um einen klagte, der ihre Umarmung offen ließ, sondern um den
nicht mehr Möglichen, der ihrer Liebe gewachsen war.

Hier steht der Sinnende auf und tritt an sein Fenster, sein hohes
Zimmer ist ihm zu nah, er möchte Sterne sehen, wenn es möglich ist.
Er täuscht sich nicht über sich selbst. Er weiß, daß diese Bewegung
ihn erfüllt, weil unter den jungen Mädchen aus der Nachbarschaft die
eine ist, die ihn angeht. Er hat Wünsche (nicht für sich, nein, aber
für sie); für sie versteht er in einer nächtlichen Stunde, die
vorübergeht, den Anspruch der Liebe. Er verspricht sich, ihr nichts
davon zu sagen. Es scheint ihm das Äußerste, allein zu sein und wach
und um ihretwillen zu denken, wie sehr im Recht jene Liebende war:
wenn sie wußte, daß mit der Vereinigung nichts gemeint sein kann, als
ein Zuwachs an Einsamkeit; wenn sie den zeitlichen Zweck des
Geschlechtes durchbrach mit seiner unendlichen Absicht. Wenn sie im
Dunkel der Umarmungen nicht nach Stillung grub, sondern nach Sehnsucht.
Wenn sie es verachtete, daß von Zweien einer der Liebende sei und
einer Geliebter, und die schwachen Geliebten, die sie sich zum Lager
trug, an sich zu Liebenden glühte, die sie verließen. An solchen
hohen Abschieden wurde ihr Herz zur Natur. Über dem Schicksal sang
sie den firnen Lieblinginnen ihr Brautlied; erhöhte ihnen die Hochzeit;
übertrieb ihnen den nahen Gemahl, damit sie sich zusammennähmen für
ihn wie für einen Gott und auch noch seine Herrlichkeit überstünden.

Einmal noch, Abelone, in den letzten Jahren fühlte ich und sah dich
ein, unerwartet, nachdem ich lange nicht an dich gedacht hatte.

Das war in Venedig, im Herbst, in einem jener Salons, in denen Fremde
sich vorübergehend um die Dame des Hauses versammeln, die fremd ist
wie sie. Diese Leute stehen herum mit ihrer Tasse Tee und sind
entzückt, sooft ein kundiger Nachbar sie kurz und verkappt nach der
Tür dreht, um ihnen einen Namen zuzuflüstern, der venezianisch klingt.
Sie sind auf die äußersten Namen gefaßt, nichts kann sie überraschen;
denn so sparsam sie sonst auch im Erleben sein mögen, in dieser Stadt
geben sie sich nonchalant den übertriebensten Möglichkeiten hin. In
ihrem gewöhnlichen Dasein verwechseln sie beständig das
Außerordentliche mit dem Verbotenen, so daß die Erwartung des
Wunderbaren, die sie sich nun gestatten, als ein grober,
ausschweifender Ausdruck in ihre Gesichter tritt. Was ihnen zu Hause
nur momentan in Konzerten passiert oder wenn sie mit einem Roman
allein sind, das tragen sie unter diesen schmeichelnden Verhältnissen
als berechtigten Zustand zur Schau. Wie sie, ganz unvorbereitet,
keine Gefahr begreifend, von den fast tödlichen Geständnissen der
Musik sich anreizen lassen wie von körperlichen Indiskretionen, so
überliefern sie sich, ohne die Existenz Venedigs im geringsten zu
bewältigen, der lohnenden Ohnmacht der Gondeln. Nicht mehr neue
Eheleute, die während der ganzen Reise nur gehässige Repliken für
einander hatten, versinken in schweigsame Verträglichkeit; über den
Mann kommt die angenehme Müdigkeit seiner Ideale, während sie sich
jung fühlt und den trägen Einheimischen aufmunternd zunickt mit einem
Lächeln, als hätte sie Zähne aus Zucker, die sich beständig auflösen.
Und hört man hin, so ergiebt es sich, daß sie morgen reisen oder
übermorgen oder Ende der Woche.

Da stand ich nun zwischen ihnen und freute mich, daß ich nicht reiste.
In kurzem würde es kalt sein. Das weiche, opiatische Venedig ihrer
Vorurteile und Bedürfnisse verschwindet mit diesen somnolenten
Ausländern, und eines Morgens ist das andere da, das wirkliche, wache,
bis zum Zerspringen spröde, durchaus nicht erträumte: das mitten im
Nichts auf versenkten Wäldern gewollte, erzwungene und endlich so
durch und durch vorhandene Venedig. Der abgehärtete, auf das Nötigste
beschränkte Körper, durch den das nachtwache Arsenal das Blut seiner
Arbeit trieb, und dieses Körpers penetranter, sich fortwährend
erweiternder Geist, der stärker war als der Duft aromatischer Länder.
Der suggestive Staat, der das Salz und Glas seiner Armut austauschte
gegen die Schätze der Völker. Das schöne Gegengewicht der Welt, das
bis in seine Zierate hinein voll latenter Energien steht, die sich
immer feiner vernervten - : dieses Venedig.

Das Bewußtsein, daß ich es kannte, überkam mich unter allen diesen
sich täuschenden Leuten mit so viel Widerspruch, daß ich aufsah, um
mich irgendwie mitzuteilen. War es denkbar, daß in diesen Sälen nicht
einer war, der unwillkürlich darauf wartete, über das Wesen dieser
Umgebung aufgeklärt zu sein? Ein junger Mensch, der es sofort begriff,
daß hier nicht ein Genuß aufgeschlagen war, sondern ein Beispiel des
Willens, wie es nirgends anfordernder und strenger sich finden ließ?
Ich ging umher, meine Wahrheit beunruhigte mich. Da sie mich hier
unter 50 vielen ergriffen hatte, brachte sie den Wunsch mit,
ausgesprochen, verteidigt, bewiesen zu sein. Die groteske Vorstellung
entstand in mir, wie ich im nächsten Augenblick in die Hände klatschen
würde aus Haß gegen das von allen zerredete Mißverständnis.

In dieser lächerlichen Stimmung bemerkte ich sie. Sie stand allein
vor einem strahlenden Fenster und betrachtete mich; nicht eigentlich
mit den Augen, die ernst und nachdenklich waren, sondern geradezu mit
dem Mund, der den offenbar bösen Ausdruck meines Gesichtes ironisch
nachahmte. Ich fühlte sofort die ungeduldige Spannung in meinen Zügen
und nahm ein gelassenes Gesicht an, worauf ihr Mund natürlich wurde
und hochmütig. Dann, nach kurzem Bedenken, lächelten wir einander
gleichzeitig zu.

Sie erinnerte, wenn man will, an ein gewisses Jugendbildnis der
schönen Benedicte von Qualen, die in Baggesens Leben eine Rolle spielt.
Man konnte die dunkle Stille ihrer Augen nicht sehen ohne die klare
Dunkelheit ihrer Stimme zu vermuten. Übrigens war die Flechtung ihres
Haars und der Halsausschnitt ihres hellen Kleides so kopenhagisch, daß
ich entschlossen war, sie dänisch anzureden.

Ich war aber noch nicht nahe genug, da schob sich von der andern Seite
eine Strömung zu ihr hin; unsere gästeglückliche Gräfin selbst, in
ihrer warmen, begeisterten Zerstreutheit, stürzte sich mit einer Menge
Beistand über sie, um sie auf der Stelle zum Singen abzuführen. Ich
war sicher, daß das junge Mädchen sich damit entschuldigen würde, daß
niemand in der Gesellschaft Interesse haben könne, dänisch singen zu
hören. Dies tat sie auch, sowie sie zu Worte kam. Das Gedränge um
die lichte Gestalt herum wurde eifriger; jemand wußte, daß sie auch
deutsch singe. "Und italienisch", ergänzte eine lachende Stimme mit
boshafter Überzeugung. Ich wußte keine Ausrede, die ich ihr hätte
wünschen können, aber ich zweifelte nicht, daß sie widerstehen würde.
Schon breitete sich eine trockene Gekränktheit über die vom langen
Lächeln abgespannten Gesichter der Überredenden aus, schon trat die
gute Gräfin, um sich nichts zu vergeben, mitleidig und würdig einen
Schritt ab, da, als es durchaus nicht mehr nötig war, gab sie nach.
Ich fühlte, wie ich blaß wurde vor Enttäuschung; mein Blick füllte
sich mit Vorwurf, aber ich wandte mich weg, es lohnte nicht, sie das
sehn zu lassen. Sie aber machte sich von den andern los und war auf
einmal neben mir. Ihr Kleid schien mich an, der blumige Geruch ihrer
Wärme stand um mich.

"Ich will wirklich singen", sagte sie auf dänisch meine Wange entlang,
"nicht weil sie's verlangen, nicht zum Schein: weil ich jetzt singen
muß." Aus ihren Worten brach dieselbe böse Unduldsamkeit, von welcher
sie mich eben befreit hatte.

Ich folgte langsam der Gruppe, mit der sie sich entfernte. Aber an
einer hohen Tür blieb ich zurück und ließ die Menschen sich
verschieben und ordnen. Ich lehnte mich an das schwarzspiegelnde
Türinnere und wartete. Jemand fragte mich, was sich vorbereite, ob
man singen werde. Ich gab vor, es nicht zu wissen. Während ich log,
sang sie schon.

Ich konnte sie nicht sehen. Es wurde allmählich Raum um eines jener
italienischen Lieder, die die Fremden für sehr echt halten, weil sie
von so deutlicher Übereinkunft sind. Sie, die es sang, glaubte nicht
daran. Sie hob es mit Mühe hinauf, sie nahm es viel zu schwer. An
dem Beifall vorne konnte man merken, wann es zu Ende war. Ich war
traurig und beschämt. Es entstand einige Bewegung, und ich nahm mir
vor, sowie jemand gehen würde, mich anzuschließen.

Aber da wurde es mit einemmal still. Eine Stille ergab sich, die eben
noch niemand für möglich gehalten hätte; sie dauerte an, sie spannte
sich, und jetzt erhob sich in ihr die Stimme. (Abelone, dachte ich.
Abelone.) Diesmal war sie stark, voll und doch nicht schwer; aus einem
Stück, ohne Bruch, ohne Naht. Es war ein unbekanntes deutsches Lied.
Sie sang es merkwürdig einfach, wie etwas Notwendiges. Sie sang:

"Du, der ichs nicht sage, daß ich bei Nacht
weinend liege,
deren Wesen mich müde macht
wie eine Wiege.
Du, die mir nicht sagt, wenn sie wacht
meinetwillen:
wie, wenn wir diese Pracht
ohne zu stillen
in uns ertrügen?
(kurze Pause und zögernd):
Sieh dir die Liebenden an,
wenn erst das Bekennen begann,
wie bald sie lügen."



Wieder die Stille. Gott weiß, wer sie machte. Dann rührten sich die
Leute, stießen aneinander, entschuldigten sich, hüstelten. Schon
wollten sie in ein allgemeines verwischendes Geräusch übergehen, da
brach plötzlich die Stimme aus, entschlossen, breit und gedrängt:

"Du machst mich allein. Dich einzig kann ich vertauschen. Eine Weile
bist dus, dann wieder ist es das Rauschen, oder es ist ein Duft ohne
Rest.

Ach, in den Armen hab ich sie alle verloren,
du nur, du wirst immer wieder geboren:
weil ich niemals dich anhielt, halt ich dich fest."


Niemand hatte es erwartet. Alle standen gleichsam geduckt unter
dieser Stimme. Und zum Schluß war eine solche Sicherheit in ihr, als
ob sie seit Jahren gewußt hätte, daß sie in diesem Augenblick würde
einzusetzen haben.

Manchmal früher fragte ich mich, warum Abelone die Kalorien ihres
großartigen Gefühls nicht an Gott wandte. Ich weiß, sie sehnte sich,
ihrer Liebe alles Transitive zu nehmen, aber konnte ihr wahrhaftiges
Herz sich darüber täuschen, daß Gott nur eine Richtung der Liebe ist,
kein Liebesgegenstand? Wußte sie nicht, daß keine Gegenliebe von ihm
zu fürchten war? Kannte sie nicht die Zurückhaltung dieses
überlegenen Geliebten, der die Lust ruhig hinausschiebt, um uns,
Langsame, unser ganzes Herz leisten zu lassen? Oder - wollte sie
Christus vermeiden? Fürchtete sie, halben Wegs von ihm aufgehalten,
an ihm zur Geliebten zu werden? Dachte sie deshalb ungern an Julie
Reventlow?

Fast glaube ich es, wenn ich bedenke, wie an dieser Erleichterung
Gottes eine so einfältige Liebende wie Mechthild, eine so hinreißende
wie Therese von Avila, eine so wunde wie die Selige Rose von Lima,
hinsinken konnte, nachgiebig, doch geliebt. Ach, der für die
Schwachen ein Helfer war) ist diesen Starken ein Unrecht; wo sie schon
nichts mehr erwarteten, als den unendlichen Weg, da tritt sie noch
einmal im spannenden Vorhimmel ein Gestalteter an und verwöhnt sie mit
Unterkunft und verwirrt sie mit Mannheit. Seines stark brechenden
Herzens Linse nimmt noch einmal ihre schon parallelen Herzstrahlen
zusamm, und sie, die die Engel schon ganz für Gott zu erhalten hofften,
flammen auf in der Dürre ihrer Sehnsucht.

(Geliebtsein heißt aufbrennen. Lieben ist: Leuchten mit
unerschöpflichem Öle. Geliebtwerden ist vergehen, Lieben ist dauern.)

Es ist gleichwohl möglich, daß Abelone in späteren Jahren versucht hat,
mit dem Herzen zu denken, um unauffällig und unmittelbar mit Gott in
Beziehung zu kommen. Ich könnte mir vorstellen, daß es Briefe von ihr
giebt, die an die aufmerksame innere Beschauung der Fürstin Amalie
Galitzin erinnern; aber wenn diese Briefe an jemanden gerichtet waren,
dem sie seit Jahren nahestand, wie mag der gelitten haben unter ihrer
Veränderung. Und sie selbst: ich vermute, sie fürchtete nichts als
jenes gespenstische Anderswerden, das man nicht merkt, weil man
beständig alle Beweise dafür, wie das Fremdeste, aus den Händen läßt.

Man wird mich schwer davon überzeugen, daß die Geschichte des
verlorenen Sohnes nicht die Legende dessen ist, der nicht geliebt
werden wollte. Da er ein Kind war, liebten ihn alle im Hause. Er
wuchs heran, er wußte es nicht anders und gewöhnte sich in ihre
Herzweiche, da er ein Kind war.

Aber als Knabe wollte er seine Gewohnheiten ablegen. Er hätte es
nicht sagen können, aber wenn er draußen herumstrich den ganzen Tag
und nicht einmal mehr die Hunde mithaben wollte, so wars, weil auch
sie ihn liebten: weil in ihren Blicken Beobachtung war und Teilnahme,
Erwartung und Besorgtheit; weil man auch vor ihnen nichts tun konnte,
ohne zu freuen oder zu kränken. Was er aber damals meinte, das war
die innige Indifferenz seines Herzens, die ihn manchmal früh in den
Feldern mit solcher Reinheit ergriff, daß er zu laufen begann, um
nicht Zeit und Atem zu haben, mehr zu sein als ein leichter Moment, in
dem der Morgen zum Bewußtsein kommt.

Das Geheimnis seines noch nie gewesenen Lebens breitete sich vor ihm
aus. Unwillkürlich verließ er den Fußpfad und lief weiter feldein,
die Arme ausgestreckt, als könnte er in dieser Breite mehrere
Richtungen auf einmal bewältigen. Und dann warf er sich irgendwo
hinter eine Flecke, und niemand legte Wert auf ihn. Er schälte sich
eine Flöte, er schleuderte einen Stein nach einem kleinen Raubtier, er
neigte sich vor und zwang einen Käfer umzukehren: dies alles wurde
kein Schicksal, und die Himmel gingen wie über Natur. Schließlich kam
der Nachmittag mit lauter Einfällen; man war ein Bucanier auf der
Insel Tortuga, und es lag keine Verpflichtung darin, es zu sein; man
belagerte Campêche, man eroberte Vera-Cruz; es war möglich, das ganze
Heer zu sein oder ein Anführer zu Pferd oder ein Schiff auf dem Meer:
je nachdem man sich fühlte. Fiel es einem aber ein, hinzuknien, so
war man rasch Deodat von Gozon und hatte den Drachen erlegt und
vernahm, ganz heiß, daß dieses Heldentum hoffährtig war, ohne Gehorsam.
Denn man ersparte sich nichts, was zur Sache gehörte. Soviel
Einbildungen sich aber auch einstellten, zwischendurch war immer noch
Zeit, nichts als ein Vogel zu sein, ungewiß welcher. Nur daß der
Heimweg dann kam.

Mein Gott, was war da alles abzulegen und zu vergessen; denn richtig
vergessen, das war nötig; sonst verriet man sich, wenn sie drängten.
Wie sehr man auch zögerte und sich umsah, schließlich kam doch der
Giebel herauf. Das erste Fenster oben faßte einen ins Auge, es mochte
wohl jemand dort stehen. Die Hunde, in denen die Erwartung den ganzen
Tag angewachsen war, preschten durch die Büsche und trieben einen
zusammen zu dem, den sie meinten. Und den Rest tat das Haus. Man
mußte nur eintreten in seinen vollen Geruch, schon war das Meiste
entschieden. Kleinigkeiten konnten sich noch ändern; im ganzen war
man schon der, für den sie einen hier hielten; der, dem sie aus seiner
kleinen Vergangenheit und ihren eigenen Wünschen längst ein Leben
gemacht hatten; das gemeinsame Wesen, das Tag und Nacht unter der
Suggestion ihrer Liebe stand, zwischen ihrer Hoffnung und ihrem
Argwohn, vor ihrem Tadel oder Beifall.

So einem nützt es nichts, mit unsäglicher Vorsicht die Treppen zu
steigen. Alle werden im Wohnzimmer sein, und die Türe muß nur gehn,
so sehen sie hin. Er bleibt im Dunkel, er will ihre Fragen abwarten.
Aber dann kommt das Ärgste. Sie nehmen ihn bei den Händen, sie ziehen
ihn an den Tisch, und alle, soviel ihrer da sind, strecken sich
neugierig vor die Lampe. Sie haben es gut, sie halten sich dunkel,
und auf ihn allein fällt, mit dem Licht, alle Schande, ein Gesicht zu
haben.

Wird er bleiben und das ungefähre Leben nachlügen, das sie ihm
zuschreiben, und ihnen allen mit dem ganzen Gesicht ähnlich werden?
Wird er sich teilen zwischen der zarten Wahrhaftigkeit seines Willens
und dem plumpen Betrug, der sie ihm selber verdirbt? Wird er es
aufgeben, das zu werden, was denen aus seiner Familie, die nur noch
ein schwaches Herz haben, schaden könnte?

Nein, er wird fortgehen. Zum Beispiel während sie alle beschäftigt
sind, ihm den Geburtstagstisch zu bestellen mit den schlecht erratenen
Gegenständen, die wieder einmal alles ausgleichen sollen. Fortgehen
für immer. Viel später erst wird ihm klar werden, wie sehr er sich
damals vornahm, niemals zu lieben, um keinen in die entsetzliche Lage
zu bringen, geliebt zu sein. Jahre hernach fällt es ihm ein und, wie
andere Vorsätze, so ist auch dieser unmöglich gewesen. Denn er hat
geliebt und wieder geliebt in seiner Einsamkeit; jedesmal mit
Verschwendung seiner ganzen Natur und unter unsäglicher Angst um die
Freiheit des andern. Langsam hat er gelernt, den geliebten Gegenstand
mit den Strahlen seines Gefühls zu durchscheinen, statt ihn darin zu
verzehren. Und er war verwöhnt von dem Entzücken, durch die immer
transparentere Gestalt der Geliebten die Weiten zu erkennen, die sie
seinem unendlichen Besitzenwollen auftat.

Wie konnte er dann nächtelang weinen vor Sehnsucht, selbst so
durchleuchtet zu sein. Aber eine Geliebte, die nachgiebt, ist noch
lang keine Liebende. O, trostlose Nächte, da er seine flutenden Gaben
in Stücken wiederempfing, schwer von Vergänglichkeit. Wie gedachte er
dann der Troubadours, die nichts mehr fürchteten als erhört zu sein.
Alles erworbene und vermehrte Geld gab er dafür hin, dies nicht noch
zu erfahren. Er kränkte sie mit seiner groben Bezahlung, von Tag zu
Tag bang, sie könnten versuchen, auf seine Liebe einzugehen. Denn er
hatte die Hoffnung nicht mehr, die Liebende zu erleben, die ihn
durchbrach.

Selbst in der Zeit, da die Armut ihn täglich mit neuen Härten
erschreckte, da sein Kopf das Lieblingsding des Elends war und ganz
abgegriffen, da sich überall an seinem Leibe Geschwüre aufschlugen wie
Notaugen gegen die Schwärze der Heimsuchung, da ihm graute vor dem
Unrat, auf dem man ihn verlassen hatte, weil er seinesgleichen war:
selbst da noch, wenn er sich besann, war es sein größestes Entsetzen,
erwidert worden zu sein. Was waren alle Finsternisse seither gegen
die dichte Traurigkeit jener Umarmungen, in denen sich alles verlor.
Wachte man nicht auf mit dem Gefühl, ohne Zukunft zu sein? Ging man
nicht sinnlos umher ohne Anrecht auf alle Gefahr? Hatte man nicht
hundertmal versprechen müssen, nicht zu sterben? Vielleicht war es
der Eigensinn dieser argen Erinnerung, die sich von Wiederkunft zu
Wiederkunft eine Stelle erhalten wollte, was sein Leben unter den
Abfällen währen ließ. Schließlich fand man ihn wieder. Und erst dann,
erst in den Hirtenjahren, beruhigte sich seine viele Vergangenheit.

Wer beschreibt, was ihm damals geschah? Welcher Dichter hat die
Überredung, seiner damaligen Tage Länge zu vertragen mit der Kürze des
Lebens? Welche Kunst ist weit genug, zugleich seine schmale,
vermantelte Gestalt hervorzurufen und den ganzen Überraum seiner
riesigen Nächte.

Das war die Zeit, die damit begann, daß er sich allgemein und anonym
fühlte wie ein zögernd Genesender. Er liebte nicht, es sei denn, daß
er es liebte, zu sein. Die niedrige Liebe seiner Schafe lag ihm nicht
an; wie Licht, das durch Wolken fällt, zerstreute sie sich um ihn her
und schimmerte sanft über den Wiesen. Auf der schuldlosen Spur ihres
Hungers schritt er schweigend über die Weiden der Welt. Fremde sahen
ihn auf der Akropolis, und vielleicht war er lange einer der Hirten in
den Baux und sah die versteinerte Zeit das hohe Geschlecht überstehen,
das mit allem Erringen von Sieben und Drei die sechzehn Strahlen
seines Sterns nicht zu bezwingen vermochte. Oder soll ich ihn denken
zu Orange, an das ländliche Triumphtor geruht? Soll ich ihn sehen im
seelengewohnten Schatten der Allyscamps, wie sein Blick zwischen den
Gräbern, die offen sind wie die Gräber Auferstandener, eine Libelle
verfolgt?

Gleichviel. Ich seh mehr als ihn, ich sehe sein Dasein, das damals
die lange Liebe zu Gott begann, die stille, ziellose Arbeit. Denn
über ihn, der sich für immer hatte verhalten wollen, kam noch einmal
das anwachsende Nichtanderskönnen seines Herzens. Und diesmal hoffte
er auf Erhörung. Sein ganzes, im langen Alleinsein ahnend und
unbeirrbar gewordenes Wesen versprach ihm, daß jener, den er jetzt
meinte, zu lieben verstünde mit durchdringender, strahlender Liebe.
Aber während er sich sehnte, endlich so meisterhaft geliebt zu sein,
begriff sein an Fernen gewohntes Gefühl Gottes äußersten Abstand.
Nächte kamen, da er meinte, sich auf ihn zuzuwerfen in den Raum;
Stunden voller Entdeckung, in denen er sich stark genug fühlte, nach
der Erde zu tauchen, um sie hinaufzureißen auf der Sturmflut seines
Herzens. Er war wie einer, der eine herrliche Sprache hört und
fiebernd sich vornimmt, in ihr zu dichten. Noch stand ihm die
Bestürzung bevor, zu erfahren, wie schwer diese Sprache sei; er wollte
es nicht glauben zuerst, daß ein langes Leben darüber hingehen könne,
die ersten, kurzen Scheinsätze zu bilden, die ohne Sinn sind. Er
stürzte sich ins Erlernen wie ein Läufer in die Wette; aber die Dichte
dessen, was zu überwinden war, verlangsamte ihn. Es war nichts
auszudenken, was demütigender sein konnte als diese Anfängerschaft.
Er hatte den Stein der Weisen gefunden, und nun zwang man ihn, das
rasch gemachte Gold seines Glücks unaufhörlich zu verwandeln in das
klumpige Blei der Geduld. Er, der sich dem Raum angepaßt hatte, zog
wie ein Wurm krumme Gänge ohne Ausgang und Richtung. Nun, da er so
mühsam und kummervoll lieben lernte, wurde ihm gezeigt, wie nachlässig
und gering bisher alle Liebe gewesen war, die er zu leisten vermeinte.
Wie aus keiner etwas hatte werden können, weil er nicht begonnen
hatte, an ihr Arbeit zu tun und sie zu verwirklichen.

In diesen Jahren gingen in ihm die großen Veränderungen vor. Er
vergaß Gott beinah über der harten Arbeit, sich ihm zu nähern, und
alles, was er mit der Zeit vielleicht bei ihm zu erreichen hoffte, war
"sa patience de supporter une âme". Die Zufälle des Schicksals, auf
die die Menschen halten, waren schon längst von ihm abgefallen, aber
nun verlor, selbst was an Lust und Schmerz notwendig war, den
gewürzhaften Beigeschmack und wurde rein und nahrhaft für ihn. Aus
den Wurzeln seines Seins entwickelte sich die feste, überwinternde
Pflanze einer fruchtbaren Freudigkeit. Er ging ganz darin auf, zu
bewältigen, was sein Binnenleben ausmachte, er wollte nichts
überspringen, denn er zweifelte nicht, daß in alledem seine Liebe war
und zunahm. Ja, seine innere Fassung ging so weit, daß er beschloß,
das Wichtigste von dem, was er früher nicht hatte leisten können, was
einfach nur durchwartet worden war, nachzuholen. Er dachte vor allem
an die Kindheit, sie kam ihm, je ruhiger er sich besann, desto
ungetaner vor; alle ihre Erinnerungen hatten das Vage von Ahnungen an
sich, und daß sie als vergangen galten, machte sie nahezu zukünftig.
Dies alles noch einmal und nun wirklich auf sich zu nehmen, war der
Grund, weshalb der Entfremdete heimkehrte. Wir wissen nicht, ob er
blieb; wir wissen nur, daß er wiederkam.

Die die Geschichte erzählt haben, versuchen es an dieser Stelle, uns
an das Haus zu erinnern, wie es war; denn dort ist nur wenig Zeit
vergangen, ein wenig gezählter Zeit, alle im Haus können sagen,
wieviel. Die Hunde sind alt geworden, aber sie leben noch. Es wird
berichtet, daß einer aufheulte. Eine Unterbrechung geht durch das
ganze Tagwerk. Gesichter erscheinen an den Fenstern, gealterte und
erwachsene Gesichter von rührender Ähnlichkeit. Und in einem ganz
alten schlägt ganz plötzlich blaß das Erkennen durch. Das Erkennen?
Wirklich nur das Erkennen? - Das Verzeihen. Das Verzeihen wovon? - Die
Liebe. Mein Gott: die Liebe.

Er, der Erkannte, er hatte daran nicht mehr gedacht, beschäftigt wie
er war: daß sie noch sein könne. Es ist begreiflich, daß von allem,
was nun geschah, nur noch dies überliefert ward: seine Gebärde, die
unerhörte Gebärde, die man nie vorher gesehen hatte; die Gebärde des
Flehens, mit der er sich an ihre Füße warf, sie beschwörend, daß sie
nicht liebten. Erschrocken und schwankend hoben sie ihn zu sich
herauf. Sie legten sein Ungestüm nach ihrer Weise aus, indem sie
verziehen. Es muß für ihn unbeschreiblich befrei end gewesen sein,
daß ihn alle mißverstanden, trotz der verzweifelten Eindeutigkeit
seiner Haltung. Wahrscheinlich konnte er bleiben. Denn er erkannte
von Tag zu Tag mehr, daß die Liebe ihn nicht betraf, auf die sie so
eitel waren und zu der sie einander heimlich ermunterten. Fast mußte
er lächeln, wenn sie sich anstrengten, und es wurde klar, wie wenig
sie ihn meinen konnten.

Was wußten sie, wer er war. Er war jetzt furchtbar schwer zu lieben,
und er fühlte, daß nur Einer dazu imstande sei. Der aber wollte noch
nicht.

_________________________________________________________________

Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes "Die Aufzeichnungen des Malte
Laurids Brigge" von Rilke.

Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge

by Rainer Maria Rilke

May, 2000 [Etext #2188]


Project Gutenberg Etext Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
********This file should be named 8malt12.txt or 8malt12.zip*******

Corrected EDITIONS of our etexts get a new NUMBER, 8malt11.txt
VERSIONS based on separate sources get new LETTER, 8malt10a.txt

 

 

news visuels textes traduction deutsch english interact archiv/es messages guestbook bureau links contact home