WOLFGANG KAEMPFER

Der stehende Sturm (Kadmos 2005)(*)

Einleitung

Über die Unbeendbarkeit der Neuzeit


(1) Das Zählwerk

Kurz vor Erreichen der Jahrtausendwende zeigte am Pariser Eiffelturm ein riesenhaftes Zählwerk unter dem überlebensgroßen Porträt von Jules Verne die Tage an, die den Zeitgenossen von der epochalen Wende trennten. Der alte heilige und der moderne profane Kalender kreuzten sich, einer war in den anderen eingetragen. Jesus Christus (zweitausendster Geburtstag) und Jules Vernes, Prophet nicht mehr von Gottes Gnaden, gaben sich ein Stelldichein.

Sehr originell war das allerdings nicht. Die beiden Zeitrechnungen waren schon vor rund zweihundert Jahren eine Ehe eingegangen, die immer nur vorübergehend, nie endgültig gekündigt worden ist. Die Vernunftehe von verjährter kultureller Überlieferung und aktuellem Interesse ist alt. Ökonomische und konventionelle Regulative bildeten seit jeher die beiden Seiten einer einzigen Medaille.

Allerdings könnte sich der Fundus der historischen Verkleidungen allmählich erschöpft haben, in die das ökonomische Interesse auf seinem langen Weg geschlüpft war: das bunte Wechselbad der Moden, der Ideologeme, die Welt als immer wieder »neuer« Waren-Leviathan. Auch begegnet uns nun zunehmend das nackte Interesse, der internationale Geld- und Kapitalstrom neigt dazu, sich aus der Sphäre auszuklinken, die er mit den Gütern, den Produkten bildete. Mehr und mehr vermehrt er sich nun um und durch sich selbst, als Wechselkurs-, als Spekulationsgewinn, Rendite, Zins, als das universale monetäre Pumpwerk, das weithin schon die Kapazitäten aussaugt und aufsaugt, die die Produktion der Güter und der Waren sichern. Gleich einem riesenhaften Satelliten, der der Führung ermangelt, dessen Funkverbindung mit dem Boden ausgefallen ist, umkreist es den Planeten »auf der Suche nach der verlorenen Anlage«.

Es wäre allerdings ein Fehler, das immanente »Selbstinteresse des Interesses« als neu, als spezifisch aktuell zu begreifen. Das Interesse war von jeher »Selbstinteresse«, das Geld von jeher eine Umverteilungspumpe auf der gleitenden Skala zwischen Reich und Arm. Neu ist allenfalls die Schubkraft, die es entwickeln konnte und mußte, als es sich zur Lokomotive einer ganzen Gesellschaft aufgeworfen hatte. Überblickt man den Zeitraum seit Einführung des antiken Münzwesen im siebenten vorchristlichen Jahrhundert, mit der das Interesse zum ersten Mal Gestalt annahm, so drängt sich der Eindruck auf, es sei von jeher der ständige und stille - oft auch unauffällige - Begleiter der historischen Menschheit gewesen, eine Invariante, ein invarianter Abkömmling des objektiven Willens Schopenhauerscher Konvenienz.

Nicht anders hat es Arthur Schopenhauer übrigens verstanden. Sohn eines vermögenden Kaufmanns und sich beharrlich weigernd, das Geschäft des Vaters auszuüben, läßt er überall durchblicken, wer eigentlich gemeint ist, wenn er vom »Stämpel der Gewöhnlichkeit« und »Ausdruck von Vulgarität« spricht, der »den allermeisten Gesichtern aufgedrückt« sei. Der Normalmensch, »in den Strudel und Tumult des Lebens« eingesenkt, heißt es zum Beispiel, werde die »Dinge und das Leben selbst« (...) gar nicht gewahr«. »Wie der Kaufmann auf der Amsterdamer Börse« vernehme er zwar, was der Nachbar sage, »aber das dem Rauschen des Meeres ähnliche Gesumme der ganzen Börse« höre er nicht (1). Marx konnte sich mit seinen subtilen Analysen des »Bandes aller Bande«, des Geldes, zwanglos auf die Analysen von Aristoteles berufen, den er mit großer Ehrfurcht zitiert. (2) Eine Geschichte des Interesses oder Geldes ließe sich im Ernst nicht schreiben, wohl aber eine Geschichte seiner perspektivischen Brechungen im Spiegel der bürgerlichen Seele. Tabuisierung und Enttabuisierung, Exteriorisierung und Interiorisierung des geheimnisvollen perpetuum mobile (Marx) wechselten je nach der geistigen und/oder materiellen Lage in bunter Folge ab.

Offenkundig durchschreiten wir zur Zeit wieder eine Epoche der Enttabuisierungen und Interiorisierungen. Das ist nur scheinbar ein Widerspruch. Die drei großen Tabu-Zonen der bürgerlichen Gesellschaft: das Geld, die Sexualität, der Tod, sind nun zwar mehr oder weniger wieder aufgelöst; aber eben das erlaubt es auch, sie zu interiorisieren, sie mittels des bestimmten Codes oder Schlüssels beliebig zu aktivieren und zu reaktivieren je nach Bedürfnis und »Vermögenslage«. Die Direktschaltung von Wunsch, Bedürfnis, Anspruch mit der Triebsphäre über einen Code gestattet ja nunmehr, zumindest der Tendenz nach, den unmittelbaren Zugang zu den Gütern und Sensationen dieser Welt. Das materielle Gut konnte so gut wie ausnahmslos in beliebig verfügbare Waren, die erotische Passion zu abrufbaren sexuellen Sensationen, die Todeserfahrung in repetierbare Endspiel-Sensationen umgemünzt werden. Entscheidend ist, daß sie damit zu inneren Erfahrungspotentialen werden konnten. Sie brauchen den Binnenraum der einzelnen abgespaltenen Monade nicht mehr zu verlassen. Die äußere Erfahrung ist allenfalls noch »Anstoß«. Im Maße, wie der Mensch seine Bedürfnisse selbst befriedigen kann, ist er nicht mehr auf sie angewiesen.

Allerdings ist auch diese Lage nicht geradezu neu. Auch sie ist nachgerade in ihre »Posthistorie« eingemündet. Die fetischistische Kodifizierung der Weltverhältnisse (der Direktzugang) ist schon so lange am Werk, daß wir uns an das wachsende Unvermögen zur Kontinuität längst gewöhnt haben. Das zwanzigste Jahrhundert bescherte uns keinerlei kontinuierliche Geschichte mehr. Es ist voll von kurzschlüssigen Direktschaltungen zwischen Wünschbarkeiten (Nietzsche) und ihren Realisierungen, sei es auf kollektiver, sei es auf privatgeschichtlicher Ebene. Von heute aus gesehen, sind das deutsche Dritte Reich oder die russische Sowjetunion nichts als gescheiterte Wahnsysteme, gescheitert an den Klippen des »Realitätsprinzips«. Es gibt Menschen, die in ihrem Leben wenigstens vier politische Regime haben kommen und gehen sehen. Auch der private Lebens(ver)lauf der Menschen ist vielfach schon gestückelt in mehrere unvereinbare »Regime«, darunter sogar schon rein experimentelle, die nur noch begrenzte Zeiträume umfassen. (3) Geschichten verlangen Kontinuität, sie verlangen Umwege, auf der sie sich Zeit zum Wachstum nehmen können, zum Auf und Ab der Kurven zwischen Aufgang und Verfall. Während sie zu qualitativen Veränderungen führen, beschränkt sich das »Wachstum« von Wissen, technischem know how, Kapital, Vermögen usw. auf die sprichwörtlichen Zuwachsraten, ist in gewissem Sinne eingeschlechtlich (»homosexuell«), ist nicht gerichtet, verläuft nicht auf den irreversiblen Bahnen, die zu qualitativen Veränderungen führen. Der Austausch mit äußerer Erfahrung – in Haß, Liebe, Neigung, Abneigung – fehlt. Wo die »Umwege der Geschichte« allmählich aufgegeben werden zugunsten autistischer Selbstbefriedigungspraktiken, wird schließlich auch die Fähigkeit versiegen, die Freud in Triebaufschub, Triebablenkung und Sublimierung erblickt hatte.

Vielleicht ist der letzte Hauch, das letzte flair geschichtlicher Erfahrungselixiere schon um die vorvergangene Jahrhundertwende, die legendäre Fin de siecle, zerflattert. Damals zählt man das elegante, transparente Stahlgerippe, an dem das aktuelle Zählwerk und das Konterfei des verjährten Technikschwärmers hafteten, noch pathetisch zu den »Kathedralen der Moderne«. Diese Kathedralen konnten damals, wie Joachim Umlauf schreibt, ziemlich buchstäblich »den Anspruch von Technik und industrieller Entwicklung auf die Stelle« anmelden, »die ehedem die Religion innehatte.« (4) Der Eiffelturm, erbaut für die Pariser Weltausstellung von 1889 und ursprünglich zum Abriß bestimmt, galt noch als Symbol »ständiger Wandelbarkeit« im nicht mehr abreißenden Strom des »Fortschritts«. Die enorme Masse der Botschaften, die von seinen Antennen in den Äther strahlten - er war der höchste Funkturm seiner Zeit - wurden als eine Art Oratorium ubiquitärer menschheitlicher Kommunikation begriffen und gefeiert. In den frühen Bildern Delaunays, in der Poesie seines Freundes Blaise Cendrars nimmt er einen zentralen Platz ein. Auch haben sich die frühen Technikfans unter den Künstlern über die brutale Anonymität des entfesselten technischen Genies der Menschheit damals im allgemeinen noch nichts vorgemacht. In den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs, der wenige Jahre später - nur scheinbar überraschend - ausbrach, sollten viele die ersten abschreckenden Erfahrungen mit ihm machen, - und die meisten haben sie der Menschheit nicht verhehlt. »Der imperialistische Krieg,« schrieb Walter Benjamin, »ist ein Aufstand der Technik«. (5)

Zwar hat der technisch-technologische Fortschritt unter dem wachsenden Druck ökonomischer Verwertungszwänge inzwischen die Züge des Wiederholungszwangs angenommen, aber sehen wir näher zu, so ist selbst diese »Novität« nur eine Konsequenz längst getroffener Vorentscheidungen und -bedingungen. Wir dürfen uns also nicht wundern, wenn das Zählwerk unserer Kalender immer noch dem gregorianischen Kalender folgt, eingeführt von Papst Gregor XIII. am 15. Oktober 1582. Die Wende von 16. zum 17. Jahrhundert bildet nicht zufällig die Schwelle, an der sich das alte Europa zum ersten Mal als einheitlicher Weltmarkplatz konstituierte. Die damit erforderlich werdende einheitliche Zählung - der sich die protestantischen Länder übrigens erst 1700, England und Schweden erst 1752 bzw. 1753 anschlossen - wurde einfach auf den römisch-christlichen Kalender übertragen in dem damals fortschrittlichsten Gebiet des Welthandels. Daß sie knapp eine Generation später wieder gekündigt werden sollte durch den französischen Revolutionskalender, mußte folglich Episode bleiben - und die Geschichte, die dieser Kalender vorsah, die er dokumentieren sollte, streng genommen Illusion. Denn was wir heute unter dem modisch-aktuellen Namen Globalisierung auftreten sehen, das bekennt im Grunde nur zum ersten Male ein, was sich schon damals angekündigt hatte: die Suprematie der globalen Wirtschaftstätigkeiten über alle übrigen Tätigkeiten der Menschen.

Rätselhaft ist, mit welcher Eindringlichkeit und Eile sich die heimlich-unausgesprochene Mission, die der christlich-abendländische Kalender - sei es ausdrücklich, sei es unausdrücklich - camouflierte, verbreitet und durchgesetzt hat. Alle Versuche, sich ihm zu widersetzen, scheiterten. Auffällig sind ja bereits die Datierungsschwierigkeiten bei der Festlegung des Geburtstags für die neue französische Republik. Das Datum ist dreimal revidiert worden, bevor sich der neue republikanische dem gregorianischen Kalender wieder anschloß (am 1. Januar 1806).

Daß spätestens seit Beginn des 17. Jahrhunderts alle »Straßen«, alle Handelswege »nach Europa« führten, gehört zu jenen »öffentlichen Geheimnissen«, über die man meist kein Wort verliert. In den länderspezifischen Nationalgeschichten findet sich darüber so gut wie nichts. Die Aktivitäten des globalen Handels, des Welthandels sind nicht allein um vieles diskreter und unauffälliger als der eitle und ambitionierte Lärm der offiziellen politischen oder kriegerischen Historie, sie spielen (oder spielten) sich vielmehr meist hinter verschlossenen Türen ab. Eine eigentümliche Tabuzone umschließt sie. Und wo sie sich einmal durchgesetzt haben, wo sie die Suprematie über die Politik gewinnen konnten, da wird die Geschichte eines Volkes, eines Stammes, einer Nation - oder selbst einer Familie - so unauffällig wie diskret zur Leerformel, zur Konvention erstarren - mit der wachsenden Gefahr, von Unberufenen genutzt, zu neuem Scheinleben geweckt, schließlich simuliert und zu einer »zweiten Geschichte«, einem Wiederaufguß, einer opernhaften Trivialgeschichte zugerichtet zu werden. Die Mobilität einer Gesellschaft, welche sich selbst nicht mehr bewegt, welche keinem Entwicklungsgang mehr folgt, führe der nun aufwärts oder abwärts, wird zuletzt ausschließlich von den Antriebsaggregaten des Marktes und des Handels, vom »Motor« der Verkehrszeit angetrieben werden. Aber dieser Motor sichert nur den »Umsatz«, die Notdurft der individuellen Selbsterhaltung. Er sozialisiert die Menschen nicht, er isoliert sie vielmehr, und je mehr die einzelne Monade sich zu helfen und zu sichern weiß in diesem Kampfe aller gegen alle, um so mehr Energien muß sie dem corpus sociale, der Gemeinschaft, Gesellschaft oder selbst der Familie entziehen. Unfreiwillig-unwillkürlich arbeitet sie an der allmählichen Erstarrung, Mumifizierung dieses corpus. Sie entzieht ihm, was sie für sich selbst in Anspruch nimmt: Lebensenergie und- zeit, und so wird es der Gemeinschaft/Gesellschaft allmählich eben daran mangeln. Unversehens erstarrt sie, verliert an Schwung, vergreist.

Das klagten schon die »Idealisten« Hegel, Hölderlin, Schelling im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus (vermutlich 1796) ein. Sie behaupteten dort vom Staat, daß er etwas »Mechanisches« habe und den Einzelnen zum »Räderwerk« herabsetze. (6) Gesellschaftlich wird nun allmählich das ominöse Vakuum entstehen, das die Dämonen anzieht. So nannte Dostojewski - in seinem gleichnamigen Roman - die geschäftigen, skrupellosen Geister und Gespenster, die die bürgerliche Bühne, sobald sie leer zu stehen droht, wieder zu besetzen trachten. Daß sich darunter das aberwitzigste Gelichter finden kann, die blutigen Spießer Hermann Brochs oder die Mordbrenner und Folterer Friedrich Nietzsches (vgl. das Siebte Kapitel), hat uns erst das 20. Jahrhundert gelehrt. Es ist so abwegig nicht, wenn der ehemalige Generalstabschef Halder den monomanischen »Ich-Kult« Hitlers (der für jegliche Kritik so gut wie unzugänglich blieb) auf die schlichte Formel dämonisch gebracht hat. (7)

Übrigens hat sich auch der russische Revolutionskalender nur ein paar Monate lang halten können, und ein iranischer Kalender blieb auf die Jahre zwischen 1976 und 1978 beschränkt. Zwar hat selbst Hitler noch von einer neuen Zeitrechnung geträumt (8), aber nicht mehr Ernst damit gemacht. Auch war ihm der Kultgermane Georg v. Schönerer, eins seiner Leitbilder, bereits zuvorgekommen mit dem Vorschlag eines germanischen Kalenders. In Erinnerung an die Schlacht von Noreja (113 v. Chr.), als die Stämme der Kimbern und Teutonen zum ersten Mal die Römer besiegten, richtete er eine »Zweitausendjahr-Feier germanischer Geschichte« aus und erklärte das laufende Jahr (1888) zum Jahr 2001 n.N. »Vor dem rauhen, aber urkräftig dröhnenden Kriegsgeschrei der Kimbern und Teutonen«, erinnerte er in einem Aufruf, »erbebten die starken Grundfesten des Römerreiches als erste Mahnung des Geschickes: Platz den Germanen«. (9)

Alle Versuche, die Geschichtszeit - oder was man dafür halten mochte - wiederzubeleben, blieben entweder unsicher oder hatten etwas Absurdes, Aberwitziges. Führend blieb das Zählwerk, das die exakte und neutrale Wiederkehr der Zeit garantieren konnte, die Wiederkehr der »Novität«, der Mode, die Wiederkehr der »Termine«, der Forschungs- und Geschäftsreisen, der saisonalen und kommerziellen Rhythmen, des Arbeits- und Bilanzjahrs.

 

(2) Endzeit

Aber der christliche Kalender spiegelt bekanntlich auch eine spezifische, einzigartige Geschichtsauffassung wieder. Es ist die jüdisch-christliche Geschichtsauffassung, nach der die jeweils abgelaufene Zeitspanne (Geschichtszeit) nicht wiederkehren kann. Der christliche Kalender ist von seinem Ende her konzipiert. Er umfaßte ursprünglich die Zeit bis zu diesem Ende selbst. Er maß, er zählte, was in der Christologie die Endzeit heißt - ähnlich wie das abstrakte Zählwerk am Pariser Eiffelturm die Tage zählte bis zum Anbruch der Jahrtausendwende. Das Konzept der Irreversibilität der menschlichen Geschichte ist der Form auch unter weltlichen Bedingungen nicht aufgegeben worden. Es lebte fort in einer spezifisch christlichen Erwartungshaltung, die seit Beginn der Neuzeit zwei widersprüchliche Optionen zugelassen hatte, die Option des »unendlichen Progresses«, der die Endzeit, und die Option der »Endzeit«, die den Fortschritt ausschließen mußte. Auch das erwähnte Pariser Zählwerk scheint dieser doppelten Erwartung Rechnung getragen zu haben. Es suggerierte, daß sich an der kommenden Jahrtausendwende würde entscheiden müssen, wohin die Reise geht: in die virtuelle Unendlichkeit des ‘Neulands’, den der Fortschritt, oder ins Aus der aktuellen planetarischen Verstrickungen, die die Endzeit zu verheißen schien. In beiden Fällen wird an der ursprünglichen christlichen Geschichtsauffassung festgehalten.

Tatsächlich stellt diese Geschichtsauffassung einen Bruch mit der naturwüchsigen Geschichtsauffassung dar. Diese hatte sich meist an die Intervalle angelehnt, die sich in der Natur beobachten lassen. Selbst wo sich die Menschen von diesen Intervallen nach und nach gelöst, oder wo sie rein imaginäre Zeiträume angenommen hatten, die - wie zum Beispiel in der indischen Mythologie - Hunderttausende oder gar Millionen von Jahren umfassen konnten, hatten sie das zyklische Modell des Zeitverlaufs im allgemeinen beibehalten. Die Grundvorstellung war und blieb, daß jedem Untergang auch ein Aufgang folgen müsse - wie ja selbst noch in der biblischen Genesis, die der Katastrophe der Sintflut die Erneuerung der Schöpfung folgen lassen kann. Es gibt zwar schon in der antiken griechischen, römischen oder chinesischen Geschichtsauffassung Anzeichen für die Einsicht, daß alles geschichtliche Geschehen einer Richtung folge, daher auch nicht wiederkehren könne; aber erst die jüdisch-christliche Geschichtsauffassung scheint ein Tabu verhängt zu haben über das mythologische Konzept einer Ewigen Wiederkehr des Gleichen. Dieses Konzept hat ja noch bis in die europäische Moderne hinein Vertreter finden können, so mit Vico, Blanqui, Nietzsche, Spengler oder Toynbee.

Schon die alttestamentarischen Propheten hatten ein Zeiten-Ende angenommen, das nicht mehr ins Diesseits der Geschichte fallen sollte, daher auch keinen neuen Anfang nach sich ziehen konnte. »Denn es geht bei dem, was du geschaut hast, um das Ende der Zeit«, heißt es im Buch Daniel (Dan. 8). Eindeutig ist die neue Botschaft, die ein Jenseits der ganzen bisherigen Geschichte annimmt, allerdings nicht, auch nicht für ihren neutestamentlichen Verkünder Jesus Christus. Das Reich Gottes, das die sterblichen Menschen erwartet, komme »nicht einmal so«, sagt er zum Beispiel, »daß man es beobachten« könne. Es sei vielmehr schon »in eurer Mitte«, breche also keineswegs erst am Ende aller Zeiten an (Lk. 17, 20-21). Oder: »Wenn ich mit Gottes Finger die Dämonen austreibe, so ist schon das Reich über euch gekommen« (Lk. 11, 20). Oder schließlich: »Von ... Johannes (dem Täufer) ... an bis jetzt bricht das Königreich der Himmel durch, und Durchbrecher reißen es an sich« (Mt. 11, 12).

Der rätselhafte Ausdruck Durchbrecher geht auf den alttestamentarischen Propheten Micha zurück, auf den sich Jesus hier offenbar beruft. »Nun steigt der Durchbrecher vor ihnen,« heißt es dort, »sie brechen durch, ziehen ins Tor und heraus, ihr König zieht ihnen voran, der Herr selber ihnen zu Häupten« (Micha 2, 13). Ein mittelalterlicher Kommentator hat zu diesem Vers die folgende Erklärung abgegeben: »Der ‘Durchbrecher’ ist Elia und ‘ihr König’, das ist der Sproß Davids«. (10)

Andererseits läßt sich aber kaum bezweifeln, daß Jesus an einen messianisch-endzeitlichen Richter dachte, wenn er, meist in der dritten Person sprechend, um sein »messianischen Inkognito« zu wahren, das Kommen des Menschensohns verkündete. »Und es werden vor ihm versammelt sein alle Völker und er wird sie voneinander scheiden wie der Hirte die Schafe von den Böcken ...« Die einen werden »hingehen ... zu ewiger Strafe, die Gerechten aber zu ewigen Leben« (Mt. 25, 31-46).

Vom Kommen des Menschensohns hatte schon das Buch Daniel gekündet: »Seine Macht ist eine ewige Macht, die niemals vergeht, und nimmer wird sein Reich zerstört«, heißt es in 7,9-14. Das »Maß der Untaten«, die in den »vier Reichen« begangen worden sind, ist zwar, so wird uns dort berichtet, voll; aber erst als ein weiterer »anmaßender und hinterlistiger König« aufgetreten ist, der »unerhörte Zerstörungen« anrichten und dabei »so geschickt vorgehen (wird), daß er mit seinen Täuschungen Erfolg hat« (Dan. 8), bricht ein Zeiten-Ende an, das nicht wiederaufhebbar, das irreversibel ist.

 

(3) Utopia

Mit dem überlieferten Konzept einer unumkehrbaren Zeit, die notwendig auch an ihr Ende kommen kann und muß, ist ein weiteres christliches Erbe der Säkularisierung unterworfen worden: die Vorstellung von einem Jenseits der Geschichte, das die irdische res gestae transzendieren kann. Denn auch diese Vorstellung ist nicht einfach aufgegeben worden, sondern hat sich erhalten im Traum von einem zeitlosen Nicht-Ort, von Utopia. So nannte Thomas Morus, Lordkanzlers Heinrichs VIII. von England, Humanist und Freund des Humanisten Erasmus von Rotterdam, die von einer befriedeten Gesellschaft bewohnte, geheimnisvolle Insel. Es könnte sein, daß er sie als eine Art seitenverkehrtes Pendant zur Insel England entworfen hat. Es wäre nämlich eine Lesart seines Textes möglich, die in den idealen Verhältnissen auf Utopia im Umkehrverfahren die skandalösen Verhältnisse auf der Insel England im frühen 16. Jahrhundert wiedererkennt. Aber das hieße dieses Buch um seine eigentümliche, suggestive Wirkung bringen, die ja gerade darin besteht, daß es kein himmlisches Paradies mehr vorschlägt, sondern das spezifisch menschheitliche paradis artificiel der Neuzeit oder Moderne. Obgleich als Erzählung vorgetragen, läßt sich der Text daher durchaus auch als Projekt verstehen, als allegorische Revue jener »mittleren Allgemeinheiten«, die zu einer gelingenden Gesellschaft führen können oder sollen »über alle denkbaren Einzelfälle hinaus«. (11) Leitend ist unverkennbar ein systematischer Gesichtspunkt, der dazu verführt, den verheißenen Bürgerfrieden als soziologische Gebrauchsanweisung, als Soziotechnologie mißzuverstehen.

»Es bleibt eine atemberaubende Feststellung, daß das so ausgemacht heidnische Projekt des gläubigen Katholiken Thomas Morus, der für seinen Glauben starb - er wurde hingerichtet, weil er die Suprematie der anglikanischen Kirche nicht anerkennen wollte - fast genau vierhundert Jahre später in »die Phase seiner Verwirklichung« eingetreten ist. (12) Die Protagonisten der russischen Oktoberrevolution haben sich auf Morus ausdrücklich zurückberufen.

Die katastrophalen Folgen dieses »Experiments« sind inzwischen geschichtsnotorisch. Die Ruinen, die es hinterlassen hat, erstrecken sich über den gesamten ehemaligen Ostblock Eur-Asiens. Das Fiasko ist kaum weniger fatal als das Fiasko des kontroversen Projekts, des europäischen Faschismus, der wie der Kommunismus/Sozialismus zum Teil auch auf außereuropäische Länder übergreifen konnte. Beide Bewegungen, die sozialistische und die faschistische, entstanden annähernd zur gleichen Zeit: in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts; beide sind offenbar zum Teil von Denkansätzen ausgegangen, die ihrerseits fast zeitgleich waren: Utopia 1516, Il Principe (das Hauptwerk Machiavellis) vor 1532. Die beiden Denkansätze lassen sich nämlich nicht, wie Gerhard Ritter meinte, auf den Gegensatz zwischen englisch-insulärem und italienisch-kontinentalem Denken zurückführen, jenes im wesentlichen humanistisch, dieses machtpolitisch orientiert; (13) vielmehr bildeten sie die Basis für zwei gegensätzliche Projekte, die zwei gegensätzliche soziale Technologien nahelegten, eine hierarchisch-demagogische (»faschistische«) und eine sozialistisch-egalitäre (»kommunistische«). Der sog. Duce Benito Mussolini scheint sich zwar nicht ausdrücklich auf seinen Ahnherrn und Landsmann berufen zu haben; aber kaum zu verkennen sind gewisse quasi-präfaschistische Elemente im Denken Machiavellis. Wie Ritter hervorhebt, propagierte er - ähnlich wie vor ihm Petrarca oder Boccaccio – bereits die Einheit Italiens, die auf ein Volksheer gestützt werden sollte (eine damals durchaus neuartige, am römisch-antiken, republikanischen Heer abgelesene Idee) und erblickte im modernen Leviathan des Staates einen »irdischen Gott«. (14)

Auch hat der ferne Nachfahr Mussolini keinen Zweifel daran gelassen, daß er das antike Imperium romanum auf seine Weise wiederherzustellen wünschte. »Il popolo italiano,« sagte er nach Abschluß des erfolgreichen Äthiopien-Feldzugs und der Einnahme Addis Abebas (am 5. Mai 1936), »a creato col il suo sangue l’Impero. (...) In questa certezza, levate in alto, o legionari, le insegne, il ferro e i cuori, a salutare, dopo quindici seculi (!), la riapparizione del’Impero sui colli fatali di Roma.« (15)

Auch die Attraktion, die »Ausstrahlung«, die ein quasi-mythologisches, »futurologisches« oder »archäologisches« Utopia auf die Menschen ausübt, kann die Lebensgeister nicht wiedererwecken, die eine geschichtliche Gesellschaft am Leben erhalten. Die Aussicht, die Hoffnung, das Phantasma, die das Versprechen von Utopia weckt, werden ihre Lebenselixiere im Gegenteil verzehren, die Realisierung des Phantasmas den Richtspruch bloß vollstrecken, der darüber entscheidet, ob eine Gesellschaft zum Leben oder Tod verurteilt ist. So gut wie alle Experimente, die auf einem legendären, stationären Nicht-Ort errichtet werden sollten, endeten mit einer Katastrophe.

 

(4) Der Heilstraum

Eines der mörderischsten Jahrhunderte der Menschheitsgeschichte ist zu Ende gegangen. Erstmals hatte sich der Utopismus des siebzehnten bis neunzehnten Jahrhunderts auf eine technisch-technologische Basis stellen lassen, die die totale Mobilmachung aller menschlichen und materiellen Reserven garantieren konnte. Eine bis heute nicht abgerissene Folge von Exzessen war die Konsequenz. Auch »Könige« und »Führer«, die diesen Namen nicht mehr verdienen, die sich durch Täuschung, Hinterlist, Geschick hervorgetan und »unerhörte Zerstörungen« angerichtet haben, hat das Jahrhundert unaufhörlich kommen und gehen sehen.

Bis heute haben die Endzeit-Phantasien und -Modelle kontinuierlich Konjunktur. Beständig hören wir von irgendeinem Ende oder Tod: Das Ende der Geschichte und der letzte Mensch (F. Fukuyama, 1992), Das Ende der Familie (D. Cooper, 1971), Das Ende der Demokratie (J. Guéhenno, 1993), Die Gesellschaft des Verschwindens (S. Breuer, 1992), Das Ende der Aufrichtigkeit (L. Thrilling, 1980), Das Ende des Menschen, verstanden als anthropologisches Konzept (D. Kamper), Das Ende der Wirklichkeit, dargestellt als Mord, als perfektes Verbrechen von J. Baudrillard. Ein Täter für dieses Verbrechen habe nämlich nicht aufgefunden werden können, auch habe es nicht die geringsten Spuren hinterlassen.

Das ist natürlich nur ein verschwindend kleiner Ausschnitt. Aber selbst wenn wir alle Totsagungen zusammenfassen könnten, die sich seit Nietzsches Verkündung, daß Gott ermordet worden sei, zu Wort gemeldet haben, würden sie ja ihrerseits nur einen kleinen Ausschnitt auf einem Bildschirm bilden können, der in unaufhörlicher Bewegung ist. Es ist diese Bewegung, es ist die keinen Augenblick zur Ruhe kommende Drehscheibe der actualitas, die uns von aller Vergangenheit und aller Zukunft zu entlasten und die Ewigkeit des Augenblicks, des imaginären Jetzt-Punkts zu versprechen scheint. Die meisten Menschen werden z.B. längst vergessen haben, was Günter Anders im Jahre 1959 verkündete.

»Mit dem 6. August 1945, dem Hiroshima-Tage,« sagte er, »hat ein neues Zeitalter begonnen: das Zeitalter, in dem wir in jedem Augenblick jeden Ort, nein unsere Erde als ganze, in ein Hiroshima verwandeln können. Seit diesem Tage sind wir modo negativo allmächtig geworden; aber da wir in jedem Augenblick ausgelöscht werden können, bedeutet das zugleich: Seit diesem Tage sind wir total ohnmächtig«. (16)

»Ohnmacht« und »Macht« waren zu Äquivalenten aufgerückt, zu den beiden Seiten einer Gleichung. Das macht sie verdächtig, dem Werkzeugkasten zu entstammen, mit dessen Hilfe wir unsere »Denkmodelle« zu basteln pflegen. Ob das Gewicht der Krisen oder Katastrophen irgendwo in eine Waagschale fällt, die Gegengewichte mobilisiert, können wir nicht wissen. Die unvorstellbaren Katastrophen, die über Hiroshima oder Nagasaki hereingebrochen sind, könnten sich auch immunisierend ausgewirkt haben. Niemand hat seither ein vergleichbares »Experiment« - als das es partiell ja in der Tat gedacht war - mehr gewagt. Auch der Gipfel aller technologisch inspirierten Mordaktionen, der organisierte Völkermord des nationalsozialistischen Regimes, läßt sich nicht verrechnen, paßt in keine Gleichung und hat die Organisation weiterer Mordaktionen nicht verhindert. Die Exzesse des Zeitalters lassen sich schlechterdings nicht mehr »verorten«. Auch die technisch-technologischen »Wege der Forschung« sind der Tendenz nach exzessiv - und damit einer Logik unterworfen, die, freiwillig oder nicht, zur Korrosion der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit beiträgt. Eines nur darf als verhältnismäßig sicher gelten: daß der zeitgenössische Mensch alles Vertrauen in die gängigen Beschwichtigungspraktiken verloren hat. Das Krisenbewußtsein ist fast so allgemein wie das Verhängnis selbst.

Inzwischen konnte sogar der alte christliche Heils- und Erlösungsgedanke eine Wendung nehmen, die ihn von aller Eschatologie befreit. Ulrich Horstmann hält die »nukleare, biologische und chemische« Selbstvernichtung der Menschheit nicht nur für unausweichlich, er hält sie auch für wünschenswert. Die »universale Erlösung«, sagt er, bestünde darin, »daß das ‘Untier’ Mensch ausgerottet« und alles Leben in den »Seinsfrieden des Anorganischen zurückgeführt« wird. (17)

Natürlich blickt auch dieser Gedanke auf eine längere Ahnenreihe zurück. Er findet sich zum Beispiel in Sigmund Freuds Schrift Jenseits des Lustprinzips von 1926 und in Ernst Jüngers Nachkriegsroman Heliopolis von 1949. (18) Als sein Urahn und Urheber könnte sich Arthur Schopenhauer benennen lassen. Erst die restaurative Stickluft der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts machte bekanntlich für seine Philosophie empfindlich - und führte zu zwei weiteren pessimistischen Entwürfen, zur Philosophie des Unbewußten Eduard v. Hartmanns (1869) und zu Philipp Mainländers Philosophie der Erlösung (1876, 1886).

Letztere soll uns hier kurz beschäftigen. Mainländer berief sich nämlich bereits auf den damals noch kaum bekannten Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik (N.L.S. Carnot, 1824; R.J.E. Clausius, 1850). Er geht naturwissenschaftlich vor. Im »Kampfe ums Dasein«, meint er, würden sich die Individuen »zwar vervollkommnen und immer höhere Stufen der Organisation erklimmen, aber dabei schwächer werden.« Die »Grundbewegung« sei die der Entropie, des ‘Weges bergab’: »Zerfall in die Vielheit« mit den beiden Folgen des »Streites, des Kampfes, des Krieges« und der »Schwächung der Kraft«. Unter der »Herrschaft dieses großen Gesetzes« stehe »alles in der Welt, mithin auch der Mensch.« Im »tiefsten Grunde« leite ihn der »Wille zum Tode«. (19)

Der »Wille zum Leben« wäre demnach zwar nur Schein, aber auch der Mensch, der diesem Schein verfallen sei, folge unfreiwillig noch der »Bahn«, die in die Erlösung führe. Abkürzen lasse sich diese Bahn nur »durch klare kalte Erkenntnis«. Ziel sei die verlockende, »in goldenem Licht« erglänzende »Höhe« der Erlösung. (20)

Mainländers Metaphorik ist doppeldeutig wie jede Metaphorik, die Tod und Erlösung verklammert. Die »lichte Höhe« scheint nicht auf den Tod, sondern auf das Leben anzuspielen, und was er die »lange Bahn« nennt, die den gewöhnlichen Sterblichen vom Tode trennt, läßt an die »lange Bahn bergauf« denken, die die Evolution genommen hat, bevor sie auf die »lichte Höhe« führte, auf der das Leben entstand. Das Leben ist die bisher höchste, differenzierteste Organisationsform, die die Evolution hervorgebracht hat, und es bezahlt dies in der Tat mit seiner »Schwäche«. Es bezahlt dies schon unter gewöhnlichen Umständen mit der »kurzen Bahn«, auf die das Leben aller Sterblichen beschränkt ist.

Auch die Todesmetaphorik Mainländers läßt erkennen, daß wir Leben und Tod in Wahrheit gar nicht trennen können. Eins stimuliert und provoziert das andere. Einen Todestrieb (wie Freud) oder einen Todessog (wie Klaus Heinrich) anzunehmen, ist weder schlechterdings falsch noch schlechterdings richtig, da jeder ‘Weg bergab’ auch einen ‘Weg bergauf’ (bzw. umgekehrt) voraussetzt. Das Leben ist ein fortgesetzter Spannungszustand, und so kann die Aussicht auf den Tod, auf die Rückkehr in den scheinbar spannungslosen Zustand der Materie (die in Wahrheit einen Hochspannungszustand darstellt zwischen enormen Ladungspotentialen), natürlich auch mit Erleichterung beantwortet werden.

Mainländer zog nicht nur die Konsequenz aus den Spekulationen Schopenhauers, er nahm auch die Spekulation vorweg, die Sigmund Freuds in seinem Aufsatz Jenseits des Lustprinzips diskutiert. Aber die Annahme eines Todestriebs oder Todessogs berücksichtigt nicht, was zu ihr verführt haben könnte. Sie unterschlägt eine Symptomatik, die der Todesobsession vorauszugehen oder die sie einzuleiten pflegt. Es ist das Syndrom der Melancholie, der sog. endogenen Depression. Die berühmte »Traurigkeit ohne Ursache« ist zwar nahezu so alt wie die zivilisierte Menschheit, sie war schon der Antike bekannt, ein apokrypher Text, den man dem Aristoteles zuschreibt, beschreibt sie bereits in allen Einzelheiten, aber natürlich hatte sie nicht zu allen Zeiten Konjunktur. Diese trat erst wieder im 19. Jahrhundert ein. Auch der Autor der »Philosophie der Erlösung« war davon nicht ausgenommen.

»Ich bin verbraucht, worked out« erklärte er am 22. September 1875, (...) »ich bin bei vollkommen (...) gesundem Körper unaussprechlich müde.« (21). Seine innere Entwicklung vollziehe sich, ergänzte er vier Wochen vor seinem Freitod, »nach dem Gesetz der Fallgeschwindigkeit, d.h. sie nimmt im Quadrat zu.« (22). Buchstäblich scheint er in seinen Tod »gesogen« worden zu sein. Auch muß das Klima des Fabrikantenhaushalts, in dem er aufwuchs, »atemberaubend gewesen sein,« wie Ulrich Horstmann schreibt. (23) Drei der sechs Kinder der Familie begingen später Selbstmord.

Unverkennbar ist ein Leidensdruck, der im Jahrhundert Mainländers einen Schwellenwert erreicht haben muß, der mehr und mehr zur wissenschaftlichen, klinisch-psychiatrischen Bestandsaufnahme nötigte. Auch die Dichtung, die Literatur der Zeit hat diese Symptomatik registriert als spleen, ennui (Baudelaire), als accidia, noia, Langeweile. »Wie ist die Langeweile entsetzlich!« schrieb Sören Kierkegaard. »(...) in Untätigkeit erstarrt liege ich da; ich sehe nichts vor mir als eine gähnende Leere (...) Mein Leben ist ein Tod.« (24)

Die »Uhr des Lebens« ist stehen geblieben, und das ist eben jene Uhr, die den (irreversiblen) Gang des Lebens anzeigt, die ihm die unumkehrbare Richtung - die Intention, wie Husserl formuliert hat - vorgibt und ihm damit Sinn verleiht. Sinn, Richtung, Intention bedeuten insofern dasselbe. Ich habe diese Zeitbewegung bzw. -richtung Geschichtszeit getauft zum Unterschied von der Verkehrszeit, die den Antrieb, die Selbstbewegung der Systeme steuert. Antrieb und Antriebsrichtung (Selbstbewegung und Intention) sind also streng zu unterscheiden. Sie bilden ein Getriebe, das ähnlich dem Getriebe eines Wagens Antrieb und Antriebsrichtung (‘Motor’ und ‘Fahrzeug) synchronisiert.

Dieses Getriebe ist hier offensichtlich ausgefallen. Die ‘Lebenszeit’ stockt, der ‘Wagen’ kommt nicht mehr vorwärts, und so wird sich sein Antriebsaggregat, sein ‘Motor’ (seine Selbstbewegung) mehr und mehr beschleunigen und schließlich die Geschwindigkeit bzw. Höchstgeschwindigkeit erreichen, die als manische Entfesselung der Zeit (Verkehrszeit) erlebt wird. Beide hängen im Regelfall zusammen. Stillstand und Entfesselung der Zeit sind die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Klinisch ist dieses (doppelte) Syndrom als manisch-depressives Irresein beschrieben worden. (25)

Der Melancholiker, dessen innere Uhr stehen geblieben ist, der keinen Weg mehr sieht oder sich vorstellen könnte, der auf der normalen Lebensbahn verliefe, ob sie nun steige oder falle, sieht sich damit der doppelten Bedrohung ausgesetzt, entweder auszurasten und leerzulaufen wie der Motor, der den Wagen nicht mehr antreibt - das wäre seine Selbstbewegung - oder jenen letzten Schritt zu tun, von dem »kein Wandrer wiederkehrt«, den Schritt in den Tod. Das ist ja mit Sicherheit ein irreversibler Schritt, der insofern, wenn auch in einer letzten Volte, in die Bahn des Lebens wiedereinschwenkt. Vielleicht ist hier sogar die Quelle für die manifeste Todestrunkenheit zu suchen, von der ja schon der junge Werther schwärmte in Goethes Jugendroman. (26) Auch hebt er mit Sicherheit die lebensgeschichtliche, tödliche Blockade auf.

Auch dieser Schritt visiert also nicht mehr irgendeine andere und »bessere Wirklichkeit«, sondern er transzendiert die Wirklichkeit. Er führt nicht mehr in irgendein Diesseits, sondern ins Jenseits der Geschichte. Und obwohl dies Jenseits nunmehr säkularisiert und allen metaphysisch-transzendentalen Glanzes entkleidet ist, kann es wunderbarerweise dennoch die Euphorie, die Lust freisetzen, wie sie einmal das biblische Paradies versprochen haben mochte. Insofern bleibt auch dieser profanierte Schritt in den Tod in ein Geheimnis gehüllt, zu dem uns der Schlüssel fehlt.

Alle Heilsträume ähneln sich. Die geschichtlich ältesten und die geschichtlich jüngsten schöpfen aus der gleichen Urerfahrung: daß das Leiden am Leben und auf dieser Erde einen Grad erreichen kann, der keinen anderen Schritt mehr zuläßt als den Schritt ins »Jenseits der Geschichte«. Das unterscheidet sie von allen übrigen Träumen, die durchwegs einen Wirklichkeitsbezug verraten.

Die schrecklichste Variante des alle Diesseits-Grenzen sprengenden Heilstraums hat sich unter den Häftlingen der deutschen Konzentrationslager beobachten lassen. Die Lagerbedingungen, »die alle bisherige Erfahrung verhöhnten«, nötigten die Häftlinge zu einer Form der Entwirklichung, die sich in spezifisch »bild- und handlungsarmen Träumen« niederschlagen konnte. Auch Jean Carol, der die Träume von Lagerinsassen sammelte, nennt diese Träume Heilsträume und unterscheidet sie scharf von allen Träumen, die die Person des Träumers noch in einer angebbaren Wirklichkeit verankerten. (27)

 

(5) Abschied von der Vergangenheit

Das Melancholie-Syndrom hat eine lange Geschichte. Der rote oder vielmehr schwarze Faden dieser Geschichte ist niemals ganz abgerissen. Er ließe sich ausziehen von den frühen Renaissancejahrhunderten bis in die unmittelbare Gegenwart. Er reicht von der Malerei der Bosch, Brueghel, Dürer, Piranesi, Hogarth, Goya bis zu den Schriften Georges Batailles, E.M. Ciorans, Samuel Becketts, Thomas Bernhards. Die Siècles de Lumière, die unter dem Banner der Aufklärung angetretenen Jahrhunderte warfen von Anfang an einen Schatten, der sie beständig zu korrigieren oder zu konterkarieren schien. Die frühen Philosophen, »Intellektuellen«, Naturforscher - Petrarca, Locke, Pascal, Montaigne, Bacon - waren sich offensichtlich noch bewußt, woher dieser Schatten stammte. Es war der Schatten der Vergangenheit, der von dem neuen, scharfen - und scheinbar schattenlosen - Licht geworfen wurde, das in und von der Gegenwart entzündet worden war. Alle Aufklärung will Gegenwart. Ihr Hauptfeind ist die Vergangenheit. Sie fühlt sich von ihr festgehalten und gebremst auf einem Wege, der ins Offene, Unendliche, in die fortgesetzte Gegenwart der Zukunft führt. Es dauerte zwar einige Zeit, bis dieser Weg tatsächlich freigegeben worden war. Der Abschied von der christlichen Geschichte war ein »langer Abschied«, der in gewisser Weise niemals ganz gelungen ist. Das salomonische »Es ist alles eitel«, war noch in vieler Munde, und von Newton wird berichtet, daß er mit Vorliebe das Buch Daniel studierte, von demselben Newton, auf dessen Entdeckungen und Theorien das ganze Gebäude der neuzeitlichen Physik errichtet werden konnte.

Aber der Abschied von der Vergangenheit war gleichwohl unaufhaltsam - und in den Konsequenzen sogar merkwürdig abrupt und radikal. Die Vergangenheit wurde gleichsam eingemauert in eine Art von Schreckenskammer, die rund tausendjährige Periode zwischen der aufgeklärten klassischen Antike und der aufgeklärten Neuzeit als sog. Mittelalter isoliert und abgeheftet, der »Finsternis« und »Barbarei« bezichtigt.

Tatsächlich verwechselte man das Mittelalter mit seinem letzten und finstersten Abschnitt, der überdies zusammengefallen war mit den frühen Perioden der Aufklärungsjahrhunderte. Es sind die Jahrhunderte eines beispiellosen Kampfes zwischen dem ordo der Vergangenheit unter dem Zeichen des Kreuzes und dem ordo der Gegenwart unter dem Zeichen der Aufklärung. Auch die Kirche begann sich nun zu modernisieren, dann ausdrücklich zu reformieren und schließlich wieder - in den katholischen Landesteilen - zu gegen-reformieren. Auch die Inquisitionsgerichtsbarkeit war Teil dieser ‘Modernisierung’. Mit der Einführung der Folter stützte sie sich nicht etwa auf irgendeinen barbarisch-mittelalterlichen Brauch, sondern auf aktuellste wissenschaftliche Argumentationen. Die Wahrheitsfindung sollte nicht mehr allein Gott überlassen werden. Der Mensch sollte ihm dabei zu Hilfe kommen mit der Nachdrücklichkeit von Methoden, die die Wahrheit zu erpressen gestatteten.

Überflüssig fast zu sagen, daß die Vergangenheit/Geschichte abzuschaffen weit über menschliches Vermögen hinausgeht. Das Verfahren ist geradezu die Garantie dafür, daß das Verdrängte unaufhörlich - und in verschärfter, nicht mehr kontrollierbarer Form - wiederkehrt. Die Zweite Barbarei, wie sie Vico nennen sollte, ist insofern gefährlicher als die erste. Sie stellt nicht selten eine Art Gemisch dar, ein Mixtum aus Anmaßung und Servilität, Beherrschtheit und Entfesselung, Raffinesse und Verwilderung, das umso leichter explodieren kann. Sie hat sich nicht zuletzt unter den Militärs, Aufsehern und Kaufleuten der außereuropäischen Kolonien durchgesetzt, jenseits des Einflußbereiches also, über den sich die Herrschaft des neuen, zivilen, alle »Barbarei« verwerfenden oder kriminalisierenden europäisch-bürgerlichen Bewußtseins erstreckte.

Eine Art von Spaltungs-Irresein bereitete sich vor. Die Engagements für Vergangenheit und Gegenwart, die ja normalerweise zusammengehören, traten auseinander. Mehr und mehr gerieten sie außer Hörweite, vernahmen einander nicht mehr. Die unter der Suprematie der zentralen mittelalterlichen Wissenschaft, der Theologie, ursprünglich durchaus verträglichen Idiome von Glauben und Wissen wandelten sich mehr und mehr in Sprachen um, die einander nicht mehr verstanden. Der neue ordo einer mathesis universalis vertrug sich nur scheinbar, wie zum Beispiel bei Kepler oder Leibniz, mit einem von einem persönlichen Gott geschöpften ordo. Mitunter führte der Riß quer durch die Gehirne selbst. Als in diesem Sinne janusköpfig ließen sich selbst Shakespeare, Giordano Bruno, Nikolaus von Kues, Pascal, Francis Bacon betrachten, der ja noch Hexenprozessen vorgesessen hatte. Auch fällt es uns bis heute schwer, uns aus diesem Streit herauszuhalten. Wir sind ja die Erben dieser ‘Schizophrenie’. Das virtuelle Zwei-Parteien-System, zu dem sie geführt hat, west in unseren Köpfen selbst. Wir selbst sind gespalten.

Beschränken wir uns hier auf die Spaltung von Vergangenheit und Gegenwart, vom Riß im europäischen Geschichtsbewußtsein selbst. Als Modell mag uns dienen, was uns das Krankheitsbild erzählt, das diese Spaltung wie in nuce vorführt, das Krankheitsbild der manisch-depressiven ‘Spaltung’. Es hat ja eine überwältigende Entsprechung in den beiden kontroversen Positionen, die sich nunmehr herausbilden mußten, in der melancholisch-pessimistischen, die am christologischen Erbe einer Endzeit festhält, und in der gegenwärtig-zukunftsoffenen, die uns den ‘unendlichen Progreß’ verspricht. Jene zog die Summe aus allen bisherigen geschichtlichen, sozialen oder auch persönlichen Erfahrungen, sie hielt die menschliche Geschichte für beendet, sie hatte alle Ziele ‘hinter sich gebracht’, die noch einen Weg versprochen hatten, den Weg in Richtung einer nennenswerten Zukunft. Diese hatte sich von allen diesen Erfahrungen losgesagt, sie hatte sie abgeworfen wie ein lästiges Gepäck, sie hatte sie an ihrem Wege liegen lassen, konnte sie daher vergessen und marschierte im beflügelnden Bewußtsein einer unbegreiflichen Gepäckerleichterung auf der - scheinbar nicht mehr endenden - Straße der Gegenwart dahin. Denn mit jedem Schritt mußte sich die Zukunft nun in Gegenwart verwandeln. Sie versprach ja keine Ziele mehr, die sich benennen lassen konnten wie das Ziel der christlichen oder einer beliebigen anderen Geschichte. Ziel war vielmehr die Bewegung selbst, die ‘Selbstbewegung’ eben jenes ‘Motors’, der sich aus dem ‘Getriebe’ ausgeklinkt hatte, das ihn mit dem ‘Wagen’ - das den Antrieb mit der Antriebsrichtung - synchronisiert hatte. In einem einzigartigen Akt der Befreiung hatte er die Liaison gesprengt, die ihn mit der Vergangenheit verbunden hatte, so daß die Vergangenheit nun mehr und mehr zurückbleiben mußte, er selbst das Tempo seines Fortschritts unaufhörlich steigern konnte.

Natürlich läßt sich nicht behaupten, daß die Aufklärungs- und Fortschrittsbewegungen keine Ziele mehr ins Auge gefaßt, die konservativen oder restaurativen Bewegungen alle Ziele ‘hinter sich gebracht’ hätten. Oft war geradezu das Gegenteil der Fall. Auch die Wiederherstellung älterer, geschichtlicher oder gar vorgeschichtlicher Verhältnisse verlangt ja noch nach Zielvorstellungen, und wo an ihre Realisierung geschritten werden sollte wie zum Beispiel in den nationalistischen oder faschistischen Bewegungen, da wird die Entfesselung der Zweiten Barbarei - der scheußlichsten Form der Barbarei - unmittelbar genug Programm. Aber so wie hier das Ziel zum Vorwand werden muß, zur programmierten Regression, zum gezielter Appell an die Instinkte, so daß es sich der Tendenz nach auflöst (es führt ja lediglich zurück) - da neigt es in den Aufklärungsbewegungen dazu, in einen unbestimmten Plural zu zerfallen. Die den Aufklärungsbewegungen eigentümliche, nie zur Ruhe kommende Selbstbewegung verlangt ja nicht allein den fortgesetzten Wechsel aller Ziele, sie lädt nicht nur zu beständigen »Zielverschiebungen« ein, wie R. Koselleck formuliert hat, sie ist zudem auseinandergedriftet in den unüberblickbaren Fächer ungezählter Zielgebiete, Wissensgebiete, Disziplinen, Fach- und Einzelwissenschaften. Eine Art von Punktwolke zahlloser Sonnen, zahlloser Attraktionszentren hatte sich gebildet, die von fern an die Punktwolke erinnert, in der der manisch Kranke umherirrt, von einer Attraktion zur anderen stürzend. Er folgt ja keiner angebbaren Richtung, keiner Intention mehr, er ist das Opfer eben jener Selbstbewegung, die ausschließlich den Rotationen seines ‘Motors’, seines Antriebsaggregats folgt.

Das Verhältnis von Geschichtszeit und Verkehrszeit ist insofern reziprok. Wo das Getriebe auszufallen droht, das sie synchronisieren konnte, ist zu vermuten, daß sich die innere Uhr, welche die Geschichtszeit anzeigt, signifikant verlangsamt hat, daß sie stockt, stagniert, in signifikanter Weise nachgeht und damit die Gefahr heraufbeschwört, daß der Motor der Verkehrszeit aus dem Getriebe ausbricht, das er mit ihr gebildet hatte. Dieser Motor droht dann leerzulaufen und wird schließlich nur noch seiner Selbstbewegung folgen können. Was von der Forschung als die beständige Beschleunigung der europäischen Geschichtszeit seit dem späten 17. Jahrhundert beschrieben worden ist, als ihr unerklärlich-rätselhafter Aufbruch zu einer neuen Linearität, Irreversibilität, Unumkehrbarkeit usf., das ist also in Wahrheit gerade umgekehrt dem Verhängnis zu verdanken, daß die Geschichtszeit stockte, stagnierte, mehr und mehr ‘zurückblieb’ - und daß sie damit an ‘Gewicht’ beständig zunahm, schließlich nur noch als Hindernis, lästiges Gepäck empfunden wurde, das es ‘abzuwerfen’ galt.

(6) Neu bis in die fernste Zukunft

Die zentrale Metapher neu, die eine ganze Epoche zu bezeichnen beanspruchte, ließe sich also auch ganz anders verstehen. Daß die sog. Neuzeit kein Über-sie-hinaus gestattete, daß sie bis in die fernste Zukunft bleiben mußte, was sie war: Zeit des Neuen und der Neuheit, verlangte ja, daß sie sich beständig selbst einholen, wo nicht überholen mußte, daß sie mit jedem erreichten Jetzt die gesamte Vergangenheit hinter sich gebracht haben mußte. Sie wird daher schließlich erstens eine Art von Amnesie entwickeln - und an die Stelle der naturwüchsigen Erinnerung allmählich das »historische Gedächtnis« setzen (das sich zudem auf bequeme Weise delegieren läßt an die dafür zuständigen Experten). Und sie wird sich zweitens, weil ja nunmehr unbelastet vom Gewicht der Traditionen, unentwegt beschleunigen auf der tendenziell nicht mehr beendbaren Straße der actualitas. Die Vorauszusetzung ist natürlich der virtuelle, schließlich manifeste Bruch des Zeitgetriebes, das Geschichtszeit und Verkehrszeit, intentionale Bewegung und Selbstbewegung synchronisieren konnte.

Was sich fortan etwa noch Geschichte konnte nennen lassen, das nahm damit nun mehr und mehr die fahle und fatale Farbe jener ‘Strömungen’ an, denen man sich teils überlassen konnte, teils überlassen mußte, die man ignorieren oder gegen die man wohl auch schwimmen konnte. Das schloß die individuelle und persönliche Geschichte, die Lebensgeschichte, keineswegs aus, es machte sie im Gegenteil mitunter überhaupt erst interessant. Das Tagebuch, die Erzählung, der Roman entstehen nicht zufällig in den Jahrhunderten der Neuzeit.

R. Koselleck unterscheidet drei Varianten des Begriffes neu. Er bedeute erstens das »jeweils Derzeitige«, (28) also Jetzt, er melde zweitens einen »qualitativen Anspruch« im »Sinne des ganz Anderen« an, und er könne drittens, »abgeleitet aus den beiden ersten Bedeutungsmöglichkeiten, rückwirkend auch eine Periode meinen, die insgesamt - gegenüber dem Mittelalter - als neu begriffen wird«. (29)

Die Bedeutung des »jeweils Derzeitigen,« des Jetzt, scheint alt. Sie war schon der »additiven Geschichtsschreibung« geläufig, meint Koselleck: usque ad tempus scriptoris, »bis zur Zeit des Schreibenden«, bis zum Jetzt der Stunde also, als der Schreiber seine Niederschrift beendete.

Ganz anders dagegen das neuzeitliche Jetzt, das weder eine zeitliche Sequenz abschließen noch sie eröffnen kann. Eher sucht es beständig den »qualitativen Anspruch« des »ganz Anderen« anzumelden. Es sucht sich zu profilieren und zu inszenieren, es sucht den gerade vorangegangenen »Anspruch« nach Möglichkeit außer Kraft zu setzen nach dem Modell der Mode und den Gesetzen des Marktes. Ich glaube nicht, daß man ihm so leicht beikommen kann, ohne das neuzeitliche Marktgeschehen zu berücksichtigen, das bei Koselleck ausgespart bleibt. Die sich wechselseitig konkurrenzierenden Neuigkeiten, Produkte, Waren, Moden usw. können gar nicht anders, als immer wieder ‘neue’ Liebesblicke zu werfen, um den Adressaten, den Käufer zu verführen. Der Markt ist lateral und räumlich, nicht linear, nicht zeitlich strukturiert. Auch die anspruchsvollsten Moden oder Neuigkeiten werden daher in Wahrheit keiner Linie mehr, keiner erkennbaren consecutio temporum folgen. Sie »kreieren« nicht, sie »schöpfen« nicht im Sinn des sog. Modeschöpfers, sondern propagieren bzw. simulieren, was sich nicht »das Neue«, sondern die »Sensation des Neuen« würde nennen lassen müssen. Mit den Worten von Paul Valéry: »Der absurde Aberglaube des Neuen (...) setzt unseren Anstrengungen das illusionärste Ziel und verhält sie dazu, das Allervergänglichste herzustellen, darunter das Wesen des Vergänglichen selbst: die Sensation des Neuen.« (30) Nur in seiner elaborierten, marktkonformen Ausrichtung auf den je zu erzielenden Effekt kann das Neue als Neues sich behaupten und die Kontinuität vortäuschen, die das Erscheinen der Neuigkeiten in der Zeit mit Sicherheit vermissen lassen würde.

Bleibt die dritte Bedeutung, die unter dem Titel »nova aetas« zum ersten Mal bei Voetius im Jahre 1517 auftaucht. Nach Koselleck kommt ihr jedoch noch keinerlei »weltgeschichtliche« Bedeutung zu. (31) Dieser »Sinn« entstehe erst mit Cellarius im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts. (32) »Erst nachdem die christliche Enderwartung ihre stete Gegenwärtigkeit verlor, konnte eine Zeit erschlossen werden, die unbegrenzt und für das Neue offen wurde,« schreibt er. »Diese Wendung zur Zukunft vollzieht sich erst, nachdem die religiösen Bürgerkriege, die mit dem Zerfall der Kirche zunächst das Weltende herbeizuführen schienen, die christlichen Erwartungen verzehrt hatte«. (33)

... und mit diesen Erwartungen offensichtlich auch die gegenständliche Verbindlichkeit des christlichen Kalenders selbst. Zwar ließe sich die Zeit, die mit der Neuzeit eröffnet worden war, in der Tat als »unbegrenzt« und »für das Neue offen« nennen, aber unter der Bedingung, daß wir dieses Neue als das jeweils aktuelle Jetzt verstehen, das weder aus einer angebbaren Vergangenheit herkommen, noch in eine angebbare Zukunft führen könnte. Es hat sich aus der consecutio temporum, die Zukunft und Vergangenheit verbinden würde, ausgeklinkt. Es ist um ihre beiden Dimensionen virtuell verkürzt, verstümmelt worden zur reinen actualitas.


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Anmerkungen

(1) A. Schopenhauer, Sämtl. Werke, hrg. v. P. Deussen, München 1924, Bd. II (Die Welt als Wille und Vorstellung), 3. Buch, Kap. 31, S. 435

(2) Aristoteles: »Denn die Geborenen sind den Erzeugern ähnlich, der Zins aber ist Geld von Geld, so daß von allen Erwerbszweigen dieser der naturwidrigste.« (K. Marx, MEW, Berlin o.J., Das Kapital, I/171)

(3) Vgl. z.B. die Untersuchungen von U. Beck in Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986, u.a. S. 189

(4) Joachim Umlauf, Mensch, Maschine und Natur in der frühen Avantgarde. Würzburg 1995, S. 57

(5) Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ges. Schriften, Frankfurt am Main 1974, I/2, S. 507

(6) Das Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, entstanden etwa 1796, überliefert von der Hand Hegels, aber wohl von Schelling - unter Mitarbeit Hölderlins - entworfen: »Die Idee der Menschheit voran - will ich zeigen, daß es keine Idee vom Staat gibt, weil der Staat etwas Mechanisches ist. (...) jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln (...)«. Zit. n. H.A. Glaser, W. Kaempfer (Hg.), Maschinenmenschen, Frankfurt am Main, Bern, New York, Paris 1988, S. 10

(7) Vgl. W. Kaempfer, Zeit des Menschen. Das Doppelspiel der Zeit im Spektrum der menschlichen Erfahrung, Frankfurt am Main 1996, S. 180

(8) A. Hitler, Monologe im Führerhauptquartier 1941-1944, München 2000, S. 155 (Äußerung v. 17./18. 12. 41)

(9) Zit. n. Brigitte Hamann, Hitlers Wien, Wien/München/Zürich 1998, S. 350

(10) Vgl. Jesus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, dargest. v. David Flusser, Reinbek b. Hamburg 1968, S. 40

(11) Vgl. dazu W. Kaempfer, Zeit des Menschen, a.a.O. S. 146

(12) Kaempfer, a.a.O. S. 147

(13) Vgl. Gerhard Ritter, Die Dämonie der Macht, Stuttgart 1947

(14) Vgl. Kaempfer a.a.O., S. 280 (Anm. III/17)

(15) Vgl. Rudolf Lill, Geschichte Italiens in der Neuzeit, Darmstadt 1986, S. 338

(16) Günter Anders, Thesen zum Atomzeitalter (1959), in: Die atomare Drohung, München 1981, S. 93

(17) U. Horstmann, Das Untier. Konturen einer Philosophie der Menschenflucht, Wien/Berlin 1983, S. 110, 95

(18) Ernst Jünger, Heliopolis, Tübingen 1955, S. 390 f.: »Das Leben (...) wäre also eine Art von Schimmel, der auf der Erde wuchert, und wo er sich zur höchsten Bildung auswächst, im Menschenleibe, am verruchtesten (...)«

(19) Philipp Mainländer, Philosophie der Erlösung, ausgew. v. U. Horstmann, Frankfurt am Main 1989, S. 54 f.

(20) Mainländer a.a.O. S. 55 f.

(21) Mainländer a.a.O. S. 14

(22) Mainländer a.a.O. S. 27 f.

(23) Mainländer a.a.O. S. 10

(24) Sören Kierkegaard, Entweder/Oder. Ein Lebensfragment, Jena 1911, S. 33

(25) Vgl. dazu W. Kaempfer, Überlegungen zur Struktur der Zeit in manisch-depressiven Zuständen. In: Wahnwelten im Zusammenstoß. Die Psychose im Spiegel der Zeit, hg. v. R. Heinz, D. Kamper, U. Sonnemann, Berlin 1993, S. 147 ff.

(26) Vgl. dazu W. Kaempfer, Das Ich und der Tod in Goethes Werther. In: Recherches germaniques, Strasbourg 1979, S. 55 ff.

(27) Zit. n. R. Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1985, S. 290 f.

(28) Koselleck a.a.O. S. 312

(29) Koselleck a.a.O. S. 310

(30) Zit. n. Walter Benjamin, Ges. Schriften a.a.O. V,1 (Das Passagenwerk), S. 123

(31) Koselleck a.a.O. S. 315

(32) Koselleck a.a.O. S. 306 u. 308

(33) Koselleck a.a.O. S. 315

 

(*) Kaempfer, Wolfgang :Der stehende Sturm
KADMOS - Verlag 2005 ca. 19,90 Euro
 gebunden 12 x 19 cm (»Taschenbuchformat«)  
ISBN 3-931659-78-X

im Internet über : http://www.kv-kadmos.com/

 

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