WOLFGANG KAEMPFER
 

Kindheitspassage

(Skizze zu einem Roman)

 

Ich wusste natürlich, die Familie war bedroht, erfuhr darüber aber nie viel mehr als die paar Worte, die ich zufällig erhaschte … so vor allem durch die angelehnte Tür, wenn die Eltern schlafen gegangen waren und miteinander flüsterten … Dass ihre Tür bis weit in die Nacht  angelehnt blieb, war natürlich kein Zufall. Vielleicht hatte das meine kleine Schwester, vielleicht hatten es die Eltern selbst verlangt. Denn unsicher fühlten wir uns natürlich alle, konnten das aber nicht unbefangen äußern. Ein Stein des Anstoßes war überdies ich selbst, ich war ja beim Jungvolk … und wer garantierte dafür, dass wir Kinder … oder dass ich selbst … dicht hielten, hätten sie uns ihre Geheimnisse verraten. Bis zuletzt haben sie uns verschwiegen, dass Großvater, also der Vater meines Vaters, Jude war. Zwar hatte mich ein Vetter beiläufig darüber aufgeklärt … er war in der gleichen Lage … aber anscheinend behandelte ich auch das mehr oder weniger als Gerücht … und vergaß es wieder. Die Welt schien mir damals voll von Gerüchten. Es war, als ließen sie sich buchstäblich erfinden. Schon der Jude, der Arier undsoweiter waren ja eigentlich Erfindungen. Das Regime arbeitete mit erfundenen Feinden und Freunden, es war im Grunde selbst nur eine Erfindung.

Kurz: alles, was ich hörte oder erfuhr, ich nahm’s auf als zufällige Sequenz des Laufbands, mit dem ich mich bewegte … ohne Kompass, ohne Karte … immer auf Überraschungen gefasst. Die erste Zigarette genoss ich auf einer sommerlichen Parkbank unter Blüten, windbewegten Bäumen … das Flämmchen gedieh nur in der hohlen Hand. Zwei nette, junge Burschen in freundlichen Sommerkostümen hatten mich dazu eingeladen, sie saßen an meiner Seite, lachten, rauchten … aber dann verspürte ich auf meinem linken Schenkel überraschend eine große warme Hand, und es durchfuhr mich wie ein Blitz. Ich musste handeln, ich musste reagieren,  aber wie? Sollte ich davonstürzen, die Zigarette in hohem Bogen von mir schleudern oder … und ich entschied mich für das Oder, sog an dem goldenen Mundstück, suchte das befremdlich-unwiderstehliche Aroma zu genießen … als sich plötzlich auch auf meinen rechten Schenkel eine große warme Hand schob: das verstand ich als Signal. Und ergriff daher nun beide Hände links und rechts, sprang auf die Füße, drehte  eine kleine Pirouette und lachte: „Vielen Dank, meine Herren … für den unerwarteten Genuss!“ … und stakste mit weitem Schritt davon auf meinen nackten Beinen … Tatsache ist, wir trugen damals meist sehr kurze Hosen.

Und das Schönste: ich war im Grunde hochverführbar … ein Kenner, kein Verächter des eigenen Geschlechts. Aufklärung von den Eltern, egal auf welchem Gebiet, konnte ich übrigens vielleicht auch deshalb nicht erwarten, weil sie total überarbeitet waren, der Vater frühmorgens im Büro saß und zu Hause bis spät in der Nacht an seinen Übersetzungen arbeitete, die Mutter nähte, putzte, kochte und für den Vater die Manuskripte abschrieb. Die Arbeitsüberlastung und die Festung, in die sie sich zurückgezogen hatten, weil sie sich nicht frei äußern konnten, haben natürlich auch zu ihren Verteidigungsmaßnahmen beigetragen, unter denen wir Kinder arg zu leiden hatten … die unbeherrschten Ohrfeigen der Mutter, die wir hassten wie die Sünde, die Rohrstockhiebe des Vaters, die er allerdings auf mich beschränkte, den Rädelsführer unserer kleinen Fronde … die für ihr Leben gern alberte und lachte. Zeitweise  betrachtete ich diese Hiebe als der Verhängnisse größtes … und das Leben, wie es sich mir bot, als erträglich unter der einzigen Bedingung, dass sie ausblieben. Gleichwohl hat meine arme Seele auch den Umkehrschluss probiert … und sie gelegentlich vermisst … vielleicht weil ich den Vater selbst vermisste.

Womöglich sollte ich mich als Triebtäter bezeichnen … ein Getriebener war ich (und bin ich) mit Bestimmtheit … und das in einer Zeit, die manifest drogensüchtig war (und ist) … oder was ist das Hantieren mit Worten, die wie Handgranaten explodieren können, anderes? Ich war für alles mögliche empfänglich … bitte achte auf das alles mögliche … wenn auch nie für lange. Um meine diversen Lüste zu befriedigen … Uhren, vor allem Uhren und Radioteile wünschte ich zu kaufen … reichte mein Taschengeld, zehn Pfennige pro Woche, nicht aus, und so sah ich mich früh nach Verdienstmöglichkeiten um und ließ mich eines Tages engagieren … ja, du wirst es nicht glauben … vom Reichspropagandaministerium selbst, um teils irgendeinen Pförtner, teils diesen oder jenen Boten zu vertreten in der Ferienzeit.

Und wer krabbelte da gleich am ersten Tag wie ein Käfer auf drei Beinen die breite Marmortreppe hoch? Er, die Reichpropagandaschnauze selbst … klein, geduckt und humpelnd  … er kam ja von unten, das Pförtnerhäuschen stand auf dem ersten Treppenabsatz, er mußte erst mal zu mir hoch, zu dem Bengel mit den rutschenden Strümpfen, der nicht mal in Uniform, in Jungvolkuniform war, den Arm steif und gestreckt erhoben hatte unter dem Blitzlicht seiner Blicke … wild, schief, misstrauisch …nie im Leben haben mich bösartigere Blicke getroffen. Noch während er an mir vorbei und die Treppe raufhumpelte mit seiner Krücke (oder habe ich mir die Krücke eingebildet?) schoss er sie auf mich ab.  

Es war die Zeit des Bürgerkriegs in Spanien, und ich hatte gelegentlich auch Akten auszutragen von Referat zu Referat … und blätterte natürlich darin, während draußen … es war ein heller Sommertag … eine riesige Bewässerungsanlage das Wasser niederrauschen ließ auf den sattgrünen, kurz geschorenen Rasen … Würde sich das nicht, las ich zum Beispiel (nur diesen Satz dürfte ich behalten haben) propagandistisch verwerten lassen? Irgendein rasanter Angriff deutscher Bombenwerfer auf die spanische Zivilbevölkerung … Der Krieg, so schien mir, hatte heimlich längst begonnen.

Ich habe sogar schon Granaten, scharfe Granaten einschlagen hören … irgendwo am Ostseestrand, so dass das Haus erzitterte, ein großes weites Holzhaus, unser sogenanntes Landschulheim, wo ich allerdings noch eine ganz andere Erfahrung machen durfte. Den lästigen Triebdruck abzubauen wie durch Zauberschlag, jeder Junge lernt das irgendwann und – wie, aber wie man das zu zweit macht … was natürlich noch viel lustiger ist … lernte  ich erst von meinem Zimmergenossen. Er zog sich einfach aus, schloss nicht mal das Fenster, durch das der friedlich-ferne Kinderlärm hereinsickerte, verbot mir sogar, die Turnhose anzulassen, die ich für unentbehrlich hielt … sie war mein Fetisch … und so taten wir‘s denn beide splitternackt … der weiße, magere und ziemlich unansehnliche und mein gebräunter Körper (der das Spielchen gleichwohl niemals wiederholt hat).

Ja, ich könnte ein ganzes kleines Buch verfassen über den Triebtäter … unbeherrscht, unkontrolliert und tückisch … du würdest mich nicht wiedererkennen. Aus seinem dunklen Zimmerchen schoss er mit einer Schleuder kleine, eiserne Krampen ab in Richtung der erleuchteten Fenster hoch oben … oder band mit seinen Freunden eine Serie leerer Konservendosen mit einer langen Schnur an eine Straßenbahn, und als die dann wieder losfuhr mit höllischem Geklapper … zu spät, zu spät … fuhr der Schaffner, die Fäuste schüttelnd, unrettbar mit ihr weg. Einmal setzten wir sogar einen ganzen Platz in Brand. Wir warfen Feueranzünder in die Schalen, die ihn säumten, und zu unserer Überraschung erhob sich eine riesenhafte Rauchwand, die den ganzen Horizont verhüllte … so daß die Leute Feuer Feuer schrien … und dann in der in der Tat die Feuerwehr heranrollte mit schrillendem Geklingel (damals klingelten die Feuerwehren noch).

Zusammen mit einem Freund, dessen Vater hoher Offizier war, ein Fliegeroffizier, dichtete und komponierte ich ein Lied, dem wir den Titel gaben Die Kampfstaffel Ran … und dein Vater, dein eigener Vater, der mich damals in Harmonielehre unterrichtete, assistierte mir dabei. Wir erstellten eine komplette Partitur für gemischten Chor und Orchester, aber das Vergnügen, es zum compositeur gebracht zu haben, hielt wieder nicht sehr lange vor. Auch musste ich den Freund mit der Nachricht überraschen, daß der Krieg … der doch gerade erst begonnen hatte, ich muss also damals schon sechzehn gewesen sein … höchstwahrscheinlich schon verloren sein, weil England standgehalten hatte an der Seite Polens. Das habe mein Vater festgestellt, der Historiker sei, ein ganzes Buch über Hardenberg geschrieben habe. „England, sagt mein Vater, ist eine Weltmacht,“ fügte ich hinzu.

„Eine was?“ schrie er. „Das isses, sagt mein Vater … und mein Vater ist Oberst, Fliegeroberst …  die  längste Zeit gewesen … das isses mal gewesen.“

„Ja, aber hinter England steht Amerika,“ schrie ich.

„Amerika ist neutral,“ schrie er, „Amerika ist eine lahme Ente …“

 „… ist aber auch ein Weltreich,“ schrie ich.

„Höre ich zum ersten Mal,“ schrie er.

Seltsamerweise trübte unser Streit die alte Freundschaft nicht, wir redeten einfach nicht mehr drüber, und lange noch belieferte er mich mit den begehrten Radiorequisiten für meine Bautätigkeit … bis heute weiß ich nicht, wo er die eigentlich bezog. Ich unterhielt nämlich einen Technik-Club … TC lautete das Kürzel  … und sobald eins unserer Produkte die erhofften Laute von sich gab … aus Berlin,  aus Königswusterhausen, wo der Langwellensender stand … feierten wir ein kleines Fest, bei dem einmal auch der Alkohol nicht fehlte, was unverhofft zu einer Katastrophe führte. Einer unserer Techniker erstieg den kleinen Hügel, den wir während unserer Tätigkeit aufgehäuft hatten aus Gerümpel, Abfällen, Papier, Kartons, und hielt eine kleine Rede, die er mit der Forderung beschloß, das Regime … welches Regime, sagte er nicht … müsse über kurz oder lang abgeschafft werden mangels Unterentwicklung.

 „Mangels was?“ schrie eine Stimme.

Aber er überging das mit einer ausholenden, grandiosen Geste, wobei er allerdings das Gleichgewicht verlor und auf das Hügelchen stürzte, das sofort unter ihm zusammenbrach, so dass er ausgegraben werden musste … unter unserem tosenden Gelächter … das uns leider zum Verhängnis werden sollte. Ein bulliger Köter von Portier erschien plötzlich in unserer Runde, bellte einmal kurz auf und jagte uns davon.

Was hätte ich nicht alles zu erzählen … so zum Beispiel auch die kleine Szene, die den Unterschied zwischen Arm und Reich illustrierte.  Wir waren ja sehr arm, und normalerweise brauchte ich mich dessen nicht zu schämen, war überall willkommen mit meinen geflickten Klamotten … die mich überdies nicht störten ... und die mich einmal doch sehr störten. Verpackt in meine alten Knickerbocker, den gestopften Pullover und die Wollstrümpfe … es war im Frühling, der lange Winter kaum vorbei … schlich ich mich nach einer langen eitrigen Angina auf die Straße, trat dann wie im Traum in das Haus, wo ein Freund wohnte, ein geliebter Freund, stieg die Marmorstufen hoch … es war ein feines, ein bürgerliches Haus … stand zögernd vor der massiven Wohnungstür … und klingelte …   und stand ein paar Augenblicke später in der Tür zu einem Zimmerchen, das in der warmen, hellen Frühlingssonne  badete … und den nackten makellosen Körper meines Freundes mit den kleinen schwarzen Höschen, die er überdies aufgekrempelt hatte, mit blendender Tünche übergoss. Er strahlte, ja … er strahlte, die langen langen Beine staksten hin und her, anscheinend suchte er seinen Sonntagsdress zusammen, zog ihn aber nicht an, sondern ließ sich füttern von seiner dunkelhaarigen, gertenschlanken Mutter mit winzigen Stückchen gebratener Leber  … er war ihr zu mager, stets wünschte sie ihn zu päppeln, und er ließ sichs gefallen.

Was für ein Bild, was für ein Freund, was für eine Mutter, und ich …  ich schämte mich, vermochte kaum zu antworten, fühlte mich geschwächt, ausgeschlossen, tot. Dort das Leben, hier der Tod … eine Konstellation, die sich an bestimmten Wendepunkten meines Lebens wiederholen sollte, die ich jedesmal genauestens registrierte, aber nie verstand. Schuld an meiner Scham war natürlich auch der winterlicher Lumpendress, meine Schwäche nach überstandener Krankheit … und die Zügellosigkeit des Begehrens, das, ich wiederhole, immer stärker ist als ich.

Wir kannten uns vom Jungvolk, wir waren in derselben Gruppe … und in derselben Schule, zu der wir durch die halbe Stadt zu fahren hatten  … immer zusammen. Sie lag ja im fernen Tegel, war das alte, deutsch-französische Gymnasium, das den Vorzug hatte, relativ neutrale Lehrer zu beschäftigen … kaum einer teilte die damalige Profilneurose, die Profilneurose Nazi.

Wir waren ungefähr zehn und hielten streng zusammen, flitzten auf Rädern sonntags durch den Grunewald, manchmal auch in weißen Hemden … keine Ahnung, wer auf die Idee gekommen war, aber sie bewährte sich. Man beglotzte uns, wich uns aus, bildete Spalier, Rufe begleiteten uns … Weiss, das kam in der offiziellen Farbenkollektion nicht vor … eine Horde Gespenster huschte durch das lichte, in der Sonne badende Gehölz, grinsend, unheimlich, stumm.

Natürlich nutzte ich den Jungvolk-Dress … schwarz übrigens, wie der klassische faschistische … vor allem als Passierschein für meine Ausflüge. Ich hielt es zu Hause nie sehr lange aus und war überdies in gewisser Weise familiäres Alibi, ein Exponent der damaligen Normalität … und wurde heimlich leider auch so eingeschätzt: als Nazi der Familie. Ja ja, du lachst, aber die Familie machte leider keine Ausnahme von der Regel. Ähnlich den Gespenstern, die im weißen Hemd durch den Grunewald jagten, gehörte ich zu der Sorte Mensch für sie, die Verdacht erregen, und vermutlich verfehlten sie damit genau das, was sich in der Tat als verdächtig könnte klassifizieren lassen: die Ausnahme von der Regel. Denn natürlich war ich eine Ausnahme … wie im Grunde jeder Mensch, solange er noch keinen Schatten wirft im Licht der offiziellen Optiken.

Keine Ahnung, was wir damals mitbekommen haben vom Sammelsurium der NS-Phantasmen. Sportsgeist, Härte, Streitlust ... vielleicht, vielleicht, verbürgen kann ich mich dafür nicht. In meinem Zimmerchen hing das berühmte Foto mit dem Bückling … der Führer-Bückling im Frack, der vergreiste Feldmarschall in voller Rüstung: Helm, Brust, Bauch … das gesamte preußische Dekor. Vielleicht eine halb bewußte Konzession an den familiären Nationalismus, von dem niemand frei war … nicht der Vater und nicht seine Brüder, vermutlich auch der Großvater nicht.  

Ja, und dann H. J. … H. J. Wir wurden einfach übernommen, wechselten sogar die Uniform, sie war auf einmal braun … und ich nun in der Tat ein wohlkostümierter Nazi. Der sogar sofort befördert wurde, eine grüne Kordel trug, zur vormilitärischen Ausbildung abkommandiert wurde … Robben, Hinschmeißen, Grasfressen … und sie weiterzuleiten hatte an die reguläre Truppe als Geländesportwart, wie mein Tarnname lautete. Noch war ich ja die Wachstafel, auf der sich beliebige Eintragungen machen lassen konnten … aber ich widerhole: nie für sehr lange.

Womit man offensichtlich nicht gerechnet hatte. Ich war ja ein Stromer, ein Strolch oder, wenn du willst, Gespenst … nicht ganz zünftig also … oder, was dasselbe ist, nicht ganz wirklich. Wachstafel, Seismograph, eine endgültige Bezeichnung finde ich nicht für mich, ich weiß nur, dass ich plötzlich schwofen ging, mich in Bars, in Kneipen rumtrieb, fürchterlich nach Alkohol, nach Zigaretten- oder Pfeifenrauch zu stinken begann … und mir jedesmal die Zähne putzen musste, wenn ich ins Haus und unter die Nase meiner Mutter trat … die das duldete … kopfschüttelnd allerdings  … die Ohrfeigen blieben sonderbarerweise aus.     

Das Problem war, dass die Hieroglyphen, die man im Lauf der Zeit in das Wachstäfelchen gegraben hatte, keinen Text ergaben … dass sie wirr und unverständlich waren oder blieben wie die klassischen archäologischen.

Ich erinnere mich an eine letzte große Reise durch halb Deutschland …bis nach Ostpreußen, bis an den Spirdingsee, der wie eine Fata Morgana vor mir aufstieg: riesig, etwas diesig, uferlos. Es war das letzte schöne Bild dieser Reise, bevor wir ins Lager einzogen, in ein riesenhaftes Lager. Dass man Menschen lagern konnte wie Fässer oder Schrott, es war mir neu … und ich kann bis heute wenig Unterschied erkennen zwischen den diversen Lagerpraktiken, von denen mich einige in nicht zu ferner Zukunft selbst erwarteten. Ob Arbeitslager, Wohnsilo, Kaserne oder Bidonville, stets läuft's auf Konzentration, auf Isolation hinaus, auf Inzucht, Redeverbot, Anonymität. Essensausgabe, Antreten, Appell, Ausrücken zum Geländesport  … und den womöglich unter meiner Leitung … nein, das war zu viel.

Ich hatte ja zu schwofen angefangen, war wochenlang nicht mehr zum Dienst gegangen, ohne dass mir jemand nachspioniert hätte, wurde vielleicht sogar bereits als Aufsteiger betrachtet, der andere Aufsteiger an die Wand zu drücken drohte … was lag also näher, als der neuen Erfahrung, der Lager-Erfahrung, Rechnung zu tragen und nie wieder zum Dienst zu gehen … und so ging ich denn eines Tages nie wieder zum Dienst.

Was wir harmlos Anpassung nennen, ist so harmlos nicht, auch nicht, wo sie mit Kritik, heimlicher Distanz einhergeht. Ein unauffälliger Zersetzungsprozess, eine Art Krebs der Seele scheint sie zu begleiten … und wird kaum je manifest, lässt sich allenfalls an gewissen Symptomen erkennen, die ich natürlich auch bei mir konstatierte … aber auch behandelte, abwehrte, oft in wilder Wut, weil ich den Selbstekel nicht ertrug. Strahlungsschäden würde ich sie nennen, und es sind diese … kaum je bemerkten … Schäden, die die einfache Unterscheidung von Sympathisanten und Gegnern des Regimes … welche sich in die innere Emigration flüchten zu können meinten … problematisch machen.

Du ahnst wahrscheinlich schon, wovon … besser gesagt: von wem ich rede. Ja ja, von deinem Vater, klar ... aber eben auch von meinem Vater, der unmittelbar nach dem Kriege etwas davon geahnt zu haben scheint, als er das damals gängige Privileg zurückwies, er sei im Widerstand gewesen … eine großartige, höchst präzise Richtigstellung, wie ich finde. Er hatte sich anders in Erinnerung … und machte sich darüber nichts vor … und es ist dieser Andere, es ist der klassische innere Emigrant (der er de facto ja gewesen war), den er damit in Frage stellte ... als Täuschung, Selbsttäuschung, als Opfer von Prozessen, die sich stets erst an den Symptomen zeigen, die sie hinterlassen, und das war in seinem Fall … das überraschende Versagen, besser gesagt Versiegen des Inspirationsquells, auf den der Künstler, der Schriftsteller angewiesen ist. Die Verleger rechneten auf ihn, er hat mir das erzählt, er hat Stücke, er hat einen Roman, er hat Novellen geschrieben … die Übersetzertätigkeit war nur ein Ersatz, der das familiäre Existenzminimum sichern sollte.

Alles, was er nach dem Kriege schrieb, blieb eigentümlich blass, es blieb privat, substanzlos, und anfangs merkte ers nicht mal, verstand nicht, warum ihn niemand mehr verlegen wollte. Der  Übersetzer mag noch eine Zeitlang überlebt haben, der Schriftsteller hat nicht überlebt. Die Strahlungsschäden hatten ihn zermürbt, zersetzt, zerstört.

 

 

© kaempfer 2009