Gestörte Badefreuden
oder
Wie
man zu einem Interview mit dem amerikanischen Präsidenten kommt
von
Prof. Dr. Peter Schäfer (Jena)
In der warmen Jahreszeit pflegte John Quincy Adams (1767-1848),
sechster Präsident der USA, in dem etwa eine Meile vom Weißen Haus
entfernten Potomac regelmäßig zu schwimmen. Allein, ohne Begleitung
und auch ohne Leibwächter, begab er sich, leger bekleidet, zum
Fluss, um seinem morgendlichen Vergnügen zu frönen. Er warf seine
Kleider ab und sprang kopfüber ins Wasser, was ihm sichtlich Spaß
machte. Anschließend trocknete er sich ab, zog sich wieder an und
kehrte zu seinen Amtsgeschäften zurück. Bei einer solchen
sportlichen Erholung wurden ihm schon einmal die am Ufer abgelegten
Kleider gestohlen. Glücklicherweise konnte Adams einen vorbei
kommenden Jungen bitten, ins Weiße Haus zu eilen, um ihm neue
Kleidungsstücke zu holen. Eines Tages aber saß, als er aus dem
Wasser steigen wollte, am Ufer, direkt neben seinen Kleidern, eine
Dame, die den splitternackten Mann daran hinderte, das Wasser zu
verlassen. Es war die Schriftstellerin und Journalistin Anne Newport
Royall, die unbedingt ein Interview mit dem Präsidenten machen
wollte, zu dem sie bis dahin keine Gelegenheit bekommen hatte. Sie
rief Adams zu: „Kommen Sie her!“ Der überraschte Präsident fragte
die resolute Dame, was sie von ihm wolle. Anne Royall erklärte, dass
ihr bislang kein Interview gewährt worden sei, daher werde sie den
Platz nicht verlassen, bis Adams ihre Bitte erfüllt hätte. Der
Präsident verlegte sich aufs Verhandeln, aber vergeblich. Er musste
– bis zum Kinn im Wasser stehend – das gewünschte Interview geben,
bei dem es um eine damals aktuelle wirtschaftspolitische Frage, um
die Zukunft der Bank der Vereinigten Staaten ging. Erst danach gab
die eifrige Journalistin die Kleider frei, und der vermutlich
genervte Präsident konnte in die Zivilisation und zu seinen
Amtsgeschäften zurückkehren.
Es war dies das erste Mal, dass eine Frau ein Interview mit dem
Präsidenten des Landes führte. Eine Zeit danach soll Adams Anne
Royall zu einem Besuch seiner Frau Louisa, einer gebürtigen
Londonerin, ins Weiße Haus eingeladen haben. Diese Begegnung fand
offenbar in freundschaftlicher Atmosphäre statt.
John Quincy Adams war ein kluger und weitgereister Neuengländer, der
seinem Land als Gesandter in Holland, Preußen, Russland und England,
danach dann als Außenminister erfolgreich gedient hatte. Er bezog
1825 das Weiße Haus. Sein Lebensstil war charakteristisch für die
schlichten republikanischen Sitten und Tugenden, die Reisenden aus
dem aristokratisch geprägten Europa zu jener Zeit immer wieder
auffielen. In seinem Tagebuch schilderte Adams Ende 1825 seinen
Tagesablauf auf markante Weise:
„Ich stehe gewöhnlich zwischen fünf und sechs auf – d.h. zu dieser
Jahreszeit anderthalb bis zwei Stunden vor Sonnenaufgang. Beim Licht
des Mondes oder der Sterne oder im Dunkeln gehe ich ungefähr vier
Meilen spazieren. Gewöhnlich komme ich zu einer Zeit heim, um den
Sonnenaufgang vom Ostzimmer des Hauses aus zu sehen. Dann mache ich
Feuer und lese drei Kapitel aus der Bibel mit den Erläuterungen von
Scott und Hewlett. Bis neun lese ich Zeitungen. Es folgt das
Frühstück, und von zehn Uhr bis nachmittags um fünf empfange ich
eine Folge von Besuchern, mitunter ohne Unterbrechung – sehr selten
mit einer Pause von einer halben Stunde – niemals so, dass ich in
der Lage sein würde, irgendein Geschäft, das Aufmerksamkeit
beansprucht, zu unternehmen. Von fünf bis halb sechs wird diniert.
Danach ziehe ich mich für etwa vier Stunden in mein Zimmer zurück,
schreibe in dieses Tagebuch oder lese Akten in irgendeiner
öffentlichen Angelegenheit – außer wenn ich gelegentlich von einem
Besucher unterbrochen werde. Zwischen elf und zwölf gehe ich ins
Bett, um am nächsten Morgen wieder um fünf oder sechs aufzustehen.“
Ein Präsident, der mit dem Morgengrauen aufsteht, danach ausgiebig
spazieren geht und seinen Ofen selbst heizt, wirkt auf unsere
Vorstellung unbedingt sympathisch. Das gilt auch für die sportlichen
Ambitionen des damals 58jährigen Mannes. Adams liebte ausgedehnte
Fußmärsche durch Washington zum Kapitol oder nach Georgetown, bei
denen er sich mitunter um einen persönlichen „Streckenrekord“
bemühte. Noch im hohen Alter schwamm er im Potomac. Und dieser
Präsident war es auch, der zum ersten Mal einen Billardtisch im
Weißen Haus aufstellen ließ, um nach dem Dinner mit Verwandten und
Freunden einige Runden spielen zu können. Seine Bibliothek war eine
der größten privaten Bibliotheken des Landes. Nach dem Ausscheiden
aus dem Präsidentenamt, das er lediglich für eine Amtszeit inne
hatte, verbrachte er viel Zeit mit Lesen und Schreiben. Sein Enkel
beschrieb ihn als einen „alten Mann, ganz beschäftigt mit Arbeit und
öffentlichem Leben. Er schien immer zu schreiben – und in der Tat
war es auch so […] ein sehr alt aussehender Gentleman, mit kahlem
Kopf und weißen Haarsträhnen – schreibend, schreibend – mit einem
ständigen Tintenfleck am Zeigefinger und Daumen der rechten Hand.“
Mit 63 Jahren bewarb sich Adams um ein Abgeordnetenmandat im
Repräsentantenhaus, darin eine seltene Ausnahme unter den
amerikanischen Expräsidenten (nur Expräsident Andrew Johnson war
später kurzzeitig Senator), und war anschließend tatsächlich noch 17
Jahre als Abgeordneter aktiv. Er setzte sich für Bürgerrechte und
für die Abschaffung der Sklaverei als sozialer Institution ein und
verdiente sich die Achtung vieler Zeitgenossen, zog aber auch den
Hass der Sklavereibefürworter in und außerhalb des Kongresses auf
sich. Während einer Debatte im Kongress erlitt der 80jährige 1848
einen Schlaganfall, an deren Folgen er wenige Tage später verstarb.
Man zeigt Besuchern im Kapitol noch heute den Platz, auf dem der
unermüdliche Adams zusammenbrach. Als Präsident zählte er nicht zu
den herausragenden Persönlichkeiten in diesem Amt. Als Politiker und
Mensch nimmt er dagegen einen Ehrenplatz in der Geschichte seines
Landes ein, für dessen Wohl er seit seiner Jugend stets Sorge
getragen hatte.
Anne Newport Royall (1769-1854) war, als sie 1824 für längere Zeit
nach Washington kam, die Witwe eines Jahre zuvor verstorbenen
Veteranen des Unabhängigkeitskrieges. Sie bemühte sich damals lange
vergeblich beim Kongress um eine Pension für ihren verstorbenen
Mann, der den Rang eines Obersten bekleidet hatte. Royall begann
ihre journalistische Laufbahn als Schriftstellerin und erwies sich
dabei als aufmerksame Beobachterin ihrer Zeit. Sie schilderte ihre
Eindrücke einer Reise von Virginia bis in die Neuenglandstaaten in
den „The Scetches of History, Life and Manners in the United States“,
die 1826 erschienen. Das Buch machte die Schriftstellerin durch
seine ungeschminkte Darstellung der Einrichtungen des jungen Landes
rasch populär. Die reformorientierte Royall beschrieb Politik,
Bildung, Religion, soziale Mißstände, die sie allerorts aufmerksam
studiert hatte. Auf ihren Reisen, die noch in die Zeit des
Präsidenten James Monroe fielen, hatte sie manche prominente
Persönlichkeiten kennengelernt, darunter auch den Außenminister der
Monroeregierung, John Quincy Adams, den sie als Schriftsteller
bewunderte und als Politiker schätzte. Seine Frau, der sie bei
diesem ersten Besuch der Bundeshauptstadt offenbar gleichfalls
begegnete, beschreibt sie in den „Scetches“ ebenso mit größter
Sympathie und bemerkt, sie sei eines solchen Ehemanns würdig.
Ihre Kritik an Korruption und Inkompetenz, ihr Eintreten für das
Erscheinen von Sonntagszeitungen und ihr Bemühen um Toleranz
gegenüber Katholiken und Freimaurern verdienen noch heute
Anerkennung. Später gab sie verschiedene Zeitungen heraus, in denen
sie ihre Ansichten weiter mutig verbreitete. Erst ihr Tod im Alter
von 85 Jahren beendete ihre bemerkenswerte Tätigkeit als
Journalistin.
Unsere Badeepisode fand offenbar während eines zweiten Besuchs von
Frau Royall in Washington, nun bereits während der Präsidentschaft
von Adams, statt. Sie ist aus mehreren Gründen der Erinnerung wert:
Zunächst spiegelt sie die einfachen, unzeremoniellen Verhältnisse
wieder, von denen die oberste Macht des Landes damals geprägt war.
Zu jener Zeit hatte jedermann Zutritt zum Weißen Haus. Nach der
Zerstörung im Krieg gegen Großbritannien im August 1814 war es in
der Bundeshauptstadt Washington wieder aufgebaut worden und diente
nun erneut - wie schon seit 1800 - als Amtssitz des Präsidenten der
USA. 1817 war es von Präsident James Monroe und seiner Gattin wieder
bezogen worden. Ein Besucher aus Deutschland, der
Reiseschriftsteller Traugott Bromme, staunte über die Formlosigkeit
des Zugangs zum Präsidenten. Als er in Begleitung eines Freundes
Monroe seine Aufwartung machen wollte, fand sich im Parterre des
Hauses niemand, der die Besucher hätte melden können. Bromme
berichtet: „Mittlerweile höre ich Geräusch in einem Zimmer neben der
Halle, öffne die Türe und sah einen Mann in blau- und
weißgestreiften Hausrock auf dem Stuhle dicht am Fenster schaukeln
und das eine Bein auf dem Fensterbrett liegen. Nachdem ich ihn
gegrüßt, fragte ich nach seiner Excellenz. ‚Ich bin Monroe’
antwortete er aufstehend, ‚womit kann ich Ihnen dienen!’ – Diese
plötzliche Bekanntschaft hatte mich verlegen gemacht, es kam mir so
unerwartet, dass er leicht meine Verlegenheit bemerken konnte.“
Einige Jahre später, als Präsident Adams am Sonntag vom Gottesdienst
zurück kam, stand er sogar vor verschlossenen Türen. Der Pförtner
war samt Schlüssel eben gerade nicht anwesend. Das Haus war damals
noch kleiner als heute, die späteren Anbauten des Ost- und
Westflügels fehlten. In dem weitläufigen Garten weideten die zum
Haushalt des Präsidenten gehörenden Kühe, Pferde und Schafe.
Nebenbei züchtete Adams sogar Seidenraupen.
Wie die geschilderten Vorgänge um Monroe und Adams erkennen lassen,
waren Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz des Präsidenten zu jener
Zeit unbekannt. Adams streifte häufig ganz allein durch die Stadt.
Einen Leibwächter zum Schutz des Präsidenten gab es in der jungen
Republik noch lange nicht. Dies änderte sich erst mit dem
Bürgerkrieg.
So konnte auch ein Revolverattentat auf den Nachfolger von Adams,
Andrew Jackson, gegen Ende von dessen zweiter Amtszeit 1835
ungehindert geschehen. Als Jackson nach einer Trauerfeier für einen
Abgeordneten gerade das Kapitol verlassen wollte, gab ein geistig
verwirrter Hausmaler zwei Schüsse aus unmittelbarer Nähe auf den
Präsidenten ab. Der Revolver versagte allerdings beide Male, so dass
Jackson unverletzt blieb. Der resolute Präsident ging seinerseits
mit seinem Spazierstock auf den Attentäter los, der überwältigt
werden konnte und nach dem Prozess in einer Anstalt für
Geisteskranke landete. Auch Adams war zuvor als Präsident von einem
aus der Armee entlassenen Sergeanten tätlich bedroht worden, ohne
dass es dabei aber zu einem wirklichen Anschlag auf sein Leben
gekommen wäre.
Der Anschlag auf Jackson war das erste Attentat, das auf einen
Präsidenten der USA verübt worden ist. Ihm folgte dreißig Jahre
später gegen Ende des Bürgerkriegs der Anschlag auf Abraham Lincoln,
der während einer Theatervorstellung in Washington – während sein
Leibwächter nicht anwesend war – Opfer eines Mordanschlags wurde, an
dessen Folgen der Präsident verstarb. Seither wurden Schritt für
Schritt Leibwächter und ein Sicherheitsdienst zu einer ständigen
Einrichtung im Weißen Haus. Dennoch verloren noch drei Präsidenten
(Garfield, McKinley und Kennedy) ihr Leben durch ein Attentat, und
eine Reihe weiterer Präsidenten (Theodore Roosevelt, Franklin
Roosevelt, Truman, Ford und Reagan) überlebten Anschläge, die ihnen
gegolten hatten.
Schließlich wirft unsere Episode um das Badeinterview ein
bezeichnendes Licht auf die Stellung der Presse, die seit der
Gründung der USA eine wichtige Rolle in den demokratischen
Einrichtungen des Landes spielte. Von Thomas Jefferson, dem 3.
Präsidenten der USA, ist das Wort überliefert, wenn er die Wahl
hätte zwischen einem Land mit einer freien Presse, aber ohne eine
Regierung oder einem Land mit einer Regierung, aber ohne Presse,
würde er unbedingt das Erstere wählen. Zwischen 1810 und 1835 stieg
die Zahl der Zeitungen, die bereits überall im Lande erschienen, von
376 auf 1200. Tageszeitungen waren noch in der Minderzahl, meist
kamen die lokalen Blätter einmal in der Woche heraus. In den 1830er
Jahren fand man die ersten Zeitungen auf dem Markt, die lediglich
einen Penny - also einen Cent - kosteten („Penny Press“) Sie ebneten
damit langsam den Weg zur Massenpresse. Zeitungen wurden seitdem
für ein breiteres Publikum erschwinglich. Das Volk wurde als Käufer
und Leser von Zeitungen entdeckt. Damit änderte sich auch das Profil
der Nachrichten, indem Unglücksfälle, Naturkatastrophen, Verbrechen
und Ähnliches jetzt stärker als früher berücksichtigt wurden.
Allerdings dauerte es noch eine geraume Zeit, bis gegen Ende des 19.
Jahrhunderts die Sensationspresse („Yellow Press“) ihren Siegeszug
antrat, der während des Spanisch-Amerikanischen Krieges 1898 seinen
ersten Gipfelpunkt erreichte. Von dieser Art Journalismus konnte zu
Lebzeiten von Anne Royall noch keine Rede sein.
Adams vergaß die dreiste Journalistin bis ins Alter nicht mehr. Fast
20 Jahre nach dem Badeabenteuer mit ihr verglich er sie in seinem
Tagebuch mit einem „ritterlichen Mannweib (virago-errant) in
verzauberter Rüstung“.
Ungeachtet ihrer exzentrischen persönlichen Züge leistete Royall
einen achtenswerten Beitrag zur amerikanischen Sozialgeschichte und
zum Journalismus der Republik. Ihr Werk zeigte, wie man in der
American National Biography lesen kann, „die Möglichkeiten der
Presse als Wachhund der Freiheit gegen Korruption und Misswirtschaft
der Regierung.“
Es stellt sich schließlich die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der
Badeanekdote. Noch vor hundert Jahren gab es am Ufer des Potomac den
„Anne Royall Rock“, den Stein, auf dem unsere Journalistin bei ihrem
Präsidenteninterview gesessen haben soll. Später wurde das Gelände
bebaut, und der Stein verschwand. In den Schriften von Adams bzw.
Royall findet die Episode keine Erwähnung. Die heutige Forschung
bezeichnet die Anekdote in der Regel als „apocryphal“, also unecht.
Dies ändert aber nichts daran, dass sie auf ihre Weise ein
eigentümliches Licht auf das Leben im Weißen Haus zu jener Zeit
wirft.
_____________________
Literaturhinweise:
Paul F. Boller, jr. Presidential Anecdotes,
New York
1982.
Die amerikanischen Präsidenten. 44 historische
Portraits von George Washington bis Barack Obama, hg. v. Christof Mauch, 5.
Aufl., München 2009.
Daniel Walker Howe, What Hath God Wrought. The
Transformation of America,
1815-1848, Oxford 2007.
Ronald Kessler, In the President’s Secret
Service. Behind the Scenes with Agents in the Line of Fire and the Presidents
they Protect, New York 2009.
Alice S. Maxwell, Marion B. Dunlevy, Virago!
The Story of Anne Newport Royall (1769-1854),
Jefferson, N.C. 1985.
Paul C. Nagel, John Quincy
Adams. A Public Life, a Private Life,
Cambridge, Mass. 1997.
Peter Schäfer,
Die Präsidenten der USA in Lebensbildern. Von George Washington bis George W.
Bush, 3.
Aufl., Köln 2005.
Sketches of History, Life and Manners in the
United States by a Traveller,
New Haven
1826.
Veröffentlicht in:
Wie der gordische Knoten gelöst wurde. Anekdoten der Weltgeschichte, historisch
erklärt
Hrsg.: Steinbach, Matthias
250 S.
ISBN: 978-3-15-020227-2
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