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JENS BADURA

Globalisierung(en) denken

(Essay)

Abstract

Der Signifikant ‘Globalisierung’ ist eine Chiffre für Komplexität, nicht aber Kennzeichnung eines homogenen Phänomens - das ist in Kurzform die These des Beitrages. Die Debatte um ‘die Globalisierung’ sollte daher auch als eine Debatte verstanden werden, die auf die Frage reagiert, wie Komplexität angemessen verstanden und wie mit ihr umgegangen werden kann. Bevor also Lösungsrezepturen für die Bewältigung von durch ‘die Globalisierung’ verursachten Problemen vorgelegt werden, die Triebkräfte ‘der Globalisierung’ monokausal bestimmt, moralische Leitplanken für ‘die Globalisierung’ postuliert oder aber Täter und Opfer ‘der Globalisierung’ benannt werden, wäre also zu klären, was ‘die Globalisierung’ eigentlich genau bezeichnet. Vor diesem Hintergrund verfolgt der Beitrag das Ziel, Denkmotive poststrukturalistischer Provenienz fruchtbar zu machen für eine Modellierung dessen, was ‘Globalisierung’ konstituiert. Die leitende These dabei lautet, dass die Phänomenlagen, auf die poststrukturalistische Autoren reagiert haben, strukturelle Ähnlichkeit mit dem haben, was sich heute im Subtext der Globalisierungsdebatte findet: Die Diffusion des übergeordneten Ordnungsmusters, die Pluralität möglicher und inkommensurabler Welterzeugungsweisen, die Wucht der Eigendynamik technischer und sozialer Prozesse etc.. Anhand einer von Denkfiguren wie dem Widerstreit (Lyotard) und dem Rhizom (Deleuze/Guattari) inspirierten Metapher, dem Niemandsland, soll daher versucht werden, einen Suchraum für das Verständnis der Funktionslogik ‘der Globalisierung’ zu eröffnen.

1. ‘Globalisierung’: Eine Chiffre für Komplexität

Heute ist allerorten von ‘der Globalisierung’ die Rede. Die Gesellschaft verblasst hinter einer ‘Weltgesellschaft’, die Volkswirtschaft hinter einer ‘Weltwirtschaft’, das Web ist WorldWide und konstituiert den Public Space des Global Village, die Verschränkung des Nah- und Fernbereichs heutiger Handlungsoptionen eines Durchschnittsakteurs lässt diesen im Modus der Glokalität operieren. Soweit einige Schlagworte, mit denen die Suggestion gefüttert wird, dass wir im „Zeitalter der Globalisierung" leben. Was aber ist das eigentlich, ‘die Globalisierung’? Die verbreitet pauschale Rede von ‘der Globalisierung’ suggeriert, dass es sich um ein der Art nach homogenes Geschehen handelt, das einer spezifischen (und hochgradig eigendynamischen) Logik folgt, einer Schicksalslogik, auf die man nur im Modus der Fügung reagieren kann. Doch worauf gründet sich diese neue ‘große Erzählung’ von ‘der Globalisierung’? Zu beobachten ist vor allem eines: die beschwörende Pauschalität der Rede von ‘der Globalisierung’: Der Sprachgebrauch zeigt ein Phänomen im Singular an und erläutert diesen mit Subsumptionen: Wirtschaft, Gesellschaft, Politik. Die Auseinandersetzung erfolgt dann jeweils auf die subsumierten Bereiche bezogen und in den Kategorien disziplinärer Kategorien und Codes (der Wirtschafts-, Sozial- oder Politikwissenschaften), ohne dass es letztlich zu einer Erfassung dessen käme, was jenseits dieser etablierten Perspektiven das Phänomen ‘Globalisierung’ in der Lebenswirklichkeit auszeichnet. Vielmehr erfolgt die Substantiierung dessen, wofür ‘Globalisierung’ steht, mit Bezugnahme auf bestimmte Ursachen: Der Neoliberalismus, der Waren- und Informationsfluss etc. werden - je nach Sprecherperspektive - als die zentralen Triebkräfte ‘der Globalisierung’ identifiziert bzw. häufig affirmiert oder kritisiert.

Hinzu kommt die öffentliche Polarisierung der „Globalisierungsdebatte": Der Diskurs ist durch den Streit zwischen Globalisierungskritikern und Globalisierungsbefürwortern in einer Polarisierung gefangen, welche die Frage, ob das, was kritisiert oder befürwortet wird, eigentlich sinnvoll so pauschal adressiert werden kann, vernachlässigt. Beide Seiten unterstellen gleichermaßen die Existenz ‘der Globalisierung’ und die Suggestion, in einem Begriff dasjenige benennen zu können, was Ängste und Hoffnungen in einer wachsenden Komplexität von Interaktionsverhältnissen jeglicher Art schürt: die Welt wird - in je nach politischer bzw. moralischer Überzeugung unterschiedlicher Weise - als steuerbar angesehen; die Zahl der Regelparameter scheint im Gestus der „großen Erzählung" erfassbar zu sein (Leggewie 2003), der Raum, um den es bei ‘der Globalisierung’ geht, scheint klar bestimmt zu sein: So zieren etwa die meisten Bücher zum Thema ‘Globalisierung’ Bilder „der Welt" aus einer außerweltlichen „göttlichen" Perspektive - aus dem Weltraum geschossen und vermittelnd, dass diese Welt als Einheit vorhanden ist und gleich der Astronomie vermessen und untersucht werden könnte. Entsprechend sind die wissenschaftlichen Debatten zur ‘Globalisierung’ häufig von der Unterstellung eines distinkten Gegenstandsbereichs geprägt: Möglicherweise, und das ist die Spur der ich hier nachgehen möchte, ist diese Welt, deren Mondialisierungen mit dem Wort ‘Globalisierung’ adressiert wird, aber weniger ein solches Faktum im Weltraum, sondern eine Sphäre, die sich entlang der Prozesse menschlicher Interaktion aufspannt – material wie ideal. Dann, das liegt nahe, gäbe es viele mögliche Weisen, die Welt anzuschauen, nicht aber die Möglichkeit einer Abbildung der Welt (de Bernard 2001a). Die Welt, die entsteht, wenn man Informationsflüsse visualisiert ist eine andere als die, die entsteht, wenn man Migrationsbewegungen nachzeichnet; die Welt die entsteht, wenn Weltbilder aus beweglichen Kugeln geformt werden, die sich bei jeder Berührung verändern (Scheps et al. 1999: 412f.). Mit Blick auf die Frage, wie wir unsere Welt(en) verstehen können, mag es deshalb sein, dass die Dominanz der astronomistischen Globalisierungsdebatte, also jenes Diskurses, der sich auf das Weltbild aus dem Raumschifffenster bezieht, auf ein Abbild eines festen Körpers mit einem bestimmten Ort im Universum rekurriert und so einen klar begrenzten Gegenstandsbereich festschreibt, das Wesentliche des Signifikats von ‘der Globalisierung’ übersieht: das Denken der Welt wird reduziert auf ein Denken in den Kategorien des visuell-gegenständlichen, es wird als ein Denken in vorgeblichen Faktenlagen zugerichtet. Doch in welchem Sinne kann im Kontext der „Globalisierungsdebatte" eigentlich von Fakten gesprochen werden? Ist das Phänomen ‘Globalisierung’ gewissermaßen die Summe von „Fakten" wie weltweiter Waren- und Datenverkehr, Migration usw. (Le Monde diplomatique 2003)? Oder ist es nicht vielmehr dasjenige, was über diese „Fakten" über das klare Bild der Welt hinausgeht? Eben jene neuen Sphären und Phänomene der Lebenswelt, die entstehen, wenn Wirtschaftsräume entgrenzt und Kapital, Waren, Informationsflüsse autopoetisch werden, wenn das Modell von Moral, Gesetz und Sanktion durch die Diffusion und Hybridisierung staatlicher Rechtssicherstellungskompetenzen oder Wertesysteme zu einer neuen Funktionslogik der sozialen Interaktion führen, wenn Souveränität vom Souverän sich ablöst und das Politische aus einer staatlich-organhaften Verfassung zurück in den Raum sozialer Bewegung drängt (Rancière 2002)? Wenn also, zusammengefasst, eine neue Dimension von Komplexität entsteht, die mit den etablierten Strategien der Komplexitätsreduktion nicht mehr fassbar ist? Müsste als dringliches Desiderat einer Forschung zur ‘Globalisierung’ nicht zunächst eine Topologie entwickelt werden, die sich dieser Komplexität stellt, ohne zu unterstellen, dass diese bereits mit den Mitteln der jeweiligen Disziplinen erfasst werden kann?

Eine solche Topologie könnte kaum wie eine klassische reaktive Landkarte oder ein Relief beschaffen sein, weil dieses Denken die Welt wiederum als distinkten „Stern" im Weltraum deutet und diesen nach Art des Landvermessers adressiert. Es müsste eine Topologie sein, die die Welt als Prozesse (materielle, kulturelle etc.) denkt und sie in ihrer Vieldimensionalität und Dynamik, aber auch hinsichtlich ihres Möglichkeitscharakters (im Gegensatz zur Wirklichkeitsunterstellung des astronomistischen Diskurses) anerkennt – und damit auch die Option, immer wieder anderes topographieren zu können und zu müssen.

Kurz: diese Topologie müsste Suchräume für das Denken und Beschreiben möglicher Welten katalysieren, neue Bilder und Metaphern kreieren, neue Ausdrucksformen erschließen und ausprobieren, ohne dem Zwang des metatheoretischen Einheits-Endprodukts zu unterliegen. Insbesondere seitens der Kunst wird dies seit geraumer Zeit auch mit Bezug auf das Thema ‘Globalisierung’ getan und es wäre wünschenswert, wenn diese Ansätze stärker als bisher verwirklicht in Kontakt mit dem wissenschaftlichen Diskurs gebracht würden (Scheps et al. 1999; Maharaj 2002; Raunig 2003). Welche Resonanz eine quer zum disziplinären Establishment liegende Auseinandersetzung mit ‘der Globalisierung’ haben kann, zeigte sich am Beispiel von Hardt und Negris „Empire" (Hardt 2002): Einmal abgesehen davon, dass man die marxistischen Intentionen Negris nicht teilen muss ist der Erfolg des Buches wohl vor allem darauf zurück zu führen, dass neue Beschreibungsformen gewählt wurden, um ‘Globalisierung’ zu erfassen - im übrigen unter Anleihe bei poststrukturalistischen Autoren, vor allem bei Deleuze und Guattari.

Aus zumindest drei Perspektiven kann diese Topographie von philosophischer Seite befördert werden: Zum einen aus epistemologischer Warte die Frage, wie ‘die Globalisierung’ bzw. die Welt(en), die hier in Zusammenhänge verflochten wird bzw. werden, eigentlich in Modellen fassbar gemacht werden kann/können ohne der astronomischen Metaphorik zu verfallen. Aus Sicht der Kulturphilosophie wäre die Frage zu stellen, in welchem Sinne Kulturalität und Interkulturalität als Daseinssphäre der humanen Welt erschließbar gemacht werden können und wie sie mit Blick auf eine substantielle Pluralität der Lebensformen und ihrer wechselseitigen Verwiesenheit kulturtheoretisch zu erfassen sind. Zum dritten schließlich wäre die Frage zu klären, wie moralische Orientierung in einer ‘globalisierten’ Welt möglich ist – was wohl auch die Frage danach aufwerfen würde, wie man sich die Bedingungen der Möglichkeit von Ethik im Kontext der ‘Globalisierung’ zu denken hätte.

Natürlich ist dies eine Agenda, die nicht nur den Rahmen eines Artikels sprengt. Insofern können diese Fragen hier nicht befriedigend geklärt werden. Worum es mir vielmehr geht ist das Aufzeigen von Perspektiven, wie man sich diesen Fragen nähern könnte. Ich möchte dazu – exemplarisch - auf Denkfiguren zurückgreifen, die es ermöglichen, genannte Phänomene besser beschreib- und erschließbar zu machen. Dazu, so die Absicht, sollen Ideen reaktiviert werden, die im so genannten „postmodernen" (bzw. wie in Folge weil m. E. treffender verwendet ‘poststrukturalistischen’ (Münker/Roesler 2000) Diskurs entstanden sind. Ihre heuristische Bedeutung bleibt meist deshalb aus dem Blick, weil in einem pauschalen Abgesang alles das, was auch nur entfernt mit dem buzzword „Postmoderne" Verbindung hatte, heute in der Philosophie als desavouiert gilt (Bohrer/Scheel 1998; Jurt 1998). Erst langsam beginnt dieser Schleier der Nichteinbeziehung poststrukturalistischer Überlegungen zu schwinden und ein etwas unaufgeregterer Umgang Platz zu greifen - ein Umgang, der zunächst einmal danach fragt, was eigentlich die Motivlagen für die Entstehung poststrukturalistischer Philosophie waren (Borsche 2001).

II. Exkurs: Der schleichende Verlust der Eindeutigkeiten

Wenn Gott tot ist, so ist er langsam gestorben; hat Etappen des Nicht-Wahrhaben-Wollens, der Trauer, der Verdrängung ausgelöst, die erst nach und nach, wie in einem Indizienprozess, zur Einstufung des Falles als Todesfall geführt haben. Ich möchte hier die Vermutung äußern, dass der poststrukturalistische Diskurs eine solche „Todesfallzuschreibung" war, und zwar eine, die zugleich bemüht war, die „Nachfolgeregelung" in einem Sinne zu thematisieren, in der eine Leerstelle zunächst einmal als Leerstelle sichtbar gemacht wird und eine „reécriture" (Lyotard 2001) dessen zugelassen wird, was eigentlich die Aufgabe des Gottes war: Er hat Komplexität reduziert und die Versuche, seine Funktion als Reduktor in ‘Aufklärung’ zu übersetzen, sind nicht ohne Probleme vor sich gegangen. So stand er nicht nur für eine Erklärbarkeit des sinnvollen Weltzusammenhaltes (was die Naturwissenschaften zu ersetzen versuchen), sondern auch dafür, Unerklärbarkeit und Vieldeutigkeit zulassen zu können oder, anders formuliert, einen Vertrauensraum zu eröffnen, in dem diese Vieldeutigkeit kein Problem und ihre Anerkennung die Aufgabe einer ‘fröhlichen Wissenschaft’ ist: Eine Wissenschaft, die - frei nach Bataille - konzediert, dass auch wenn Gott tot ist, das Heilige überlebt, dass es Bereiche gibt, in denen nicht Erklärung, sondern Auslegung der adäquate Weltzugang ist. Genau diese Einstellung kann aber eine Wissenschaft und eine kollektive Atmosphäre nicht ermöglichen, die als ihre Losung die völlige Erklärbarkeit der Welt einfordert. Und genau diesen Punkt haben die „Postmodernen" in ihren Anfängen thematisiert. Sie repräsentieren somit eine Auseinandersetzung mit dem Konzept der ‘Vernunft’, welche dieser einen Anspruch auf den Masterplan abspricht und dies damit begründet, dass sich die „God’s eye view"-Perspektive in ihren Binnenrationalitäten verstrickt, ohne diese höherstufig integrieren zu können; dass sie nicht damit umzugehen weiß oder auch nur anzuerkennen bereit ist, dass alles - und vor allem die humane Welt (Kambartel 1989) - auch ganz anders zu beschreiben und zu deuten wäre und letztlich jede Deutung ohne zwingende Gründe andere Deutungen (gewaltsam) ausschließt. Zugleich ist der poststrukturalistische Diskurs - jedenfalls bei den genannten Autoren - keineswegs ein Plädoyer für Beliebigkeit, wie es die alltagssprachlich eingebürgerte Rede von der „postmodernen Beliebigkeit" insinuiert. Vielmehr geht es darum, Vernunft nicht mehr als orientierende Instanz, sondern als Modus der Selbstorientierung (Luckner 2004) zu verstehen, deren genuine Aufgabe es ist, die Pluralität möglicher Weltbeschreibungen mit dem Bedarf an Verbindlichkeit für eine Verortung in der Welt immer wieder neu ins Vernehmen zu bringen. Liest man vor diesem Hintergrund etwa „Mille plateaux" von Gilles Deleuze und Felix Guattari (Deleuze/Guattari 1992), so findet man eine Vielzahl von Beobachtungen aus unterschiedlichsten Erkenntnisbereichen, die allesamt darauf hindeuten, dass es eine manifeste Vertrauenskrise in die Möglichkeiten eindeutiger Welterschließung bzw. die Adäquatheit verfügbarer Erkenntnismodelle gab. Zugleich aber wird ein kreativer Umgang mit den Möglichkeiten, andere Welten zu denken und zu leben, vorgeführt: Raum, Subjekt, Erkenntnis, Wissenschaft, Ethik - diese und andere Themenfelder sind es, die in der postrukturalistischen Kritik aufgegriffen und in Richtung alternativer Deutungsoptionen reflektiert werden.

Vor dem Hintergrund der skizzierten Deutung des Entstehungskontexts poststrukturalistischer Philosophie liegt es nun nahe, Elemente dieses Diskursinventars dafür zu nutzen, um alternative Sichten auf ‘die Globalisierung’ entwickeln zu können: Der Poststrukturalismus kann, so sollte es dieser kurze Exkurs verdeutlichen, als eine Reaktion auf das Realisieren neuer Komplexitätsdimensionen verstanden werden - neu sowohl was die zu berücksichtigenden Faktoren, als auch was das Eingeständnis der begrenzten „Eigentlichkeitskompetenz" im Umgang mit Faktoren überhaupt angeht. Der Diskurs zur ‘Globalisierung’- wie oben ausgeführt - kann ebenfalls als die diskursive Repräsentation einer allerdings diesmal kollektiven Realisierung neuer Komplexitätsdimensionen im Umgang mit der (je eigenen und der kollektiven) Welt verstanden werden. Während aber der Poststrukturalismus ein reiches Kompendium an Analysen, Terminologien und Instrumentarien entwickelt hat, wie die geschilderte Komplexitätserfahrung auf den Begriff gebracht werden kann, rekurriert der gängige Globalisierungsdiskurs noch auf die klassischen Modellierungen disziplinärer Wissenschaft, was zwar für Partikularphänomene effektiv, für ein Verständnis dessen, was ‘die Globalisierung’ im Ganzen ausmacht jedoch nicht hinreichend ist.

Um das heuristische Potential des poststrukturalistischen Instrumentariums für eine Auseinandersetzung mit ‘der Globalisierung’ nutzbar machen zu können, bedarf es einer Lesart der poststrukturalistischen Philosophie, die sich nicht auf das Konstatieren von fahrlässiger Beliebigkeit in den Konsequenzen vernunft- und universalismusnihilistischer Analysen beschränkt (Borsche 2001), sondern diese Analysen und Begriffs- und Denkangebote – wie angedeutet - als Reaktion auf eine Welt versteht, in der Gewissheiten verblassen und Kontingenz zur Herausforderung für die „Integrität des Denkens" (Lyotard) wird.

III. Denkbeispiele: Die Welt als ein Niemandsland

Im Sinne der vorangegangenen Überlegungen möchte ich nun beispielhaft vorstellen, wie die Bezugnahme auf poststrukturalistische Denkfiguren für neue Zugangsweisen auf das Phänomen ‘Globalisierung’ fruchtbar gemacht werden könnte - am Beispiel der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von moralischen Forderungen im Rahmen einer ‘globalisierten’ Welt, die eine Pluralität von Lebensformen in Beziehung bringt. Das Vorgehen geschieht nicht im Duktus der ‘Anwendung’ einer Theorie, sondern vielmehr durch den Versuch, Denkstilen zu folgen und sie in konkretes Denken zu überführen. Dabei spielen hier insbesondere der „Widerstreit" Lyotards und das „Rhizom" von Deleuze und Guattari eine Rolle: Lyotard führt die Figur des Widerstreits ein (Lyotard 1989), um zu verdeutlichen, dass es für kommunikatives Handeln keine allgemeinverbindliche Metaregel gibt, und dass somit eine Vielheit möglicher Weisen, etwas auf den Begriff zu bringen, inkommensurabel nebeneinander steht (stehen kann). Er fordert, diese Pluralität ernst zu nehmen und sich für sie zu sensibilisieren, sie im praktischen Leben als ständige Aufgabe der Selbstbeschränkung anzunehmen, um so der Gefahr entgegenzuwirken einem Terror der Eindeutigkeit zu verfallen. Das Rhizom (Deleuze/Guattari 1977) sensu Deleuze/Guattari stellt den Versuch dar, das Werden bildlich darzustellen: ‘Werden’ im Sinne eines fortlaufenden Entstehens jenseits dichotomischer Aufsplitterungen und ohne zentrale Steuerung. ‘Rhizom’ steht somit für einen Modus permanenter Veränderung und wechselseitiger Durchdringung von Entitäten, die auf diese Weise ihren Einheitscharakter stets verlieren (sich deterritorialisieren), um sich dann in neuer Formation zu reterritorialsieren. Die Frage, auf die eine mit solchen Bildern infizierte Metaphorik Reaktion sein soll lautet: Wie kann man sich eine Welt vorstellen, in der der Mensch, der sich in so vielen Weisen zum Ausdruck bringt und ein Möglichkeitswesen ist, der mit dem Widerstreit leben kann und den Glauben an den ‘großen Plan’ aufgibt, ohne „die Integrität des Denkens" (Lyotard) zu verlieren bzw. die Ernsthaftigkeit im Ringen um Selbstorientierung verliert. Diese Frage adressiert zentrale Themen der ‘Globalisierungsdebatte’: Interkulturalität, Verständigung, Steuerung, Dynamik sozialer Prozesse etc. sind Fragen, die hier thematisiert werden.

Wie also könnte man im Rahmen einer ‘globalisierten’ Welt zur Formulierung moralischer Standards gelangen? Durch Bezugnahme auf ein universales normatives Fundament (wie in den gängigen universalistischen Ethiken propagiert) oder durch Freilegung geteilter Wertorientierungen (wie z.B. im „Projekt Weltethos")? Wie hat man sich, anders formuliert, die Rolle der Ethik in diesem Zusammenhang vorzustellen? Als Orientierungslieferant, der verbindliche Regeln formuliert (wie im gängigen Globalisierungsdiskurs meist gefordert) oder als nostalgisches Gutmenschentum, das angesichts eines ausgeprägten moralischen Relativismus chancenlos ist? Diese Frontstellung ist ein gutes Beispiel für das, was im ersten Teil des Beitrages skizziert wurde: das Verharren in traditionellen Denkmustern bei der Auseinandersetzung mit jenen Fragen und Problemen, die sich hinter dem Phänomen ‘Globalisierung’ verbergen. Statt nach den Bedingungen der Möglichkeit von Ethik im Kontext einer pluralen Welt zu fragen, wird über bestimmte materiale Normen gestritten; statt nach einer geeigneten dynamisierten Modellierung kultureller Pluralität zu fragen (Gruzinski 1999; Bhabha 2000) wird diese im altbackenen statischen Patchwork-Denken festgeschrieben.

Wie können nun Widerstreit und Rhizom zu einer alternativen Bestimmung inspirieren und einem Denken der Globalisierung förderlich sein? Wie könnte Ethik jenseits des Streits von Universalismus und Relativismus, jenseits eines Denkens auf Fundamenten konzipiert werden? Wenn, wie im Denken des Widerstreits angelegt, das aktuell Realisierte (der normative Status quo oder die dominante Kultur) stets andere Möglichkeiten, einen Status quo zu bestimmen, um ihren Ausdruck bringt, dann müsste ein widerstreitssensitives Umfeld der Feststellung bestimmter Realisierungen (und damit der Festschreibung des Unrechts der willkürlichen Dominanz eines Status quo) bereits von seiner Konstitution her strukturell entgegenwirken. Es müsste sich, anders gesprochen, der Boden, auf dem sich normative Status-quo-Realisierungen als Dauerhafte einzuschreiben versuchen, stets entziehen und ein nicht besetzbarer Raum entstehen. Eine solche Konstellation würde die Bezugnahme auf normative Fundamente verunmöglichen, weil die Idee eines Fundamentes ohne Voraussetzung eines festen Bodens, auf dem das Fundament ruht, sinnlos wird. Ein solches Denken würde demnach das fundamentistische Denken unterspülen und eine alternative Konzeption von Geltungsgenese fordern: Eine solche, die keinen Rekurs mehr auf Territorien gesicherten Wissens zulässt, weil Territorialität im Sinne einer Landnahme obsolet geworden ist. Dieses Denken wäre m. E. hilfreich, um das Thema Ethik im Kontext der Globalisierungsdebatte einer Revision zu unterziehen: ein diesem Denkmodell korrespondierendes Raummodell möchte ich das „Niemandsland" nennen. Das Niemandsland ist ein sich fortlaufend entziehender Raum, der es unmöglich macht, jenseits präsenter Interaktion (die als Pluralität von Ausdrucksformen zu denken ist, nicht also beschränkt wird auf argumentative Diskurse) Geltungsbezüge herzustellen.

Das Niemandsland steht für die Idee, die Unmöglichkeit, die je eigenen Überzeugungen in einem Evidenzgrund zu verankern, auf die Spitze zu treiben; es repräsentiert zugleich ein Plädoyer für die Dynamik normativer Orientierungsmuster. Das Niemandsland kann Niemandem zustehen, kann kein Territorium werden, da es keinen Halt für Besetzungen bietet. Die Raumidee des Niemandslandes steht für einen fließenden Raum, es bietet keine Anspruchsgrundlage für Jemanden, der es für sich reklamieren könnte: wie beim Schwimmen im Wasser oder beim Durchqueren der Wüste tilgt das Medium des Aufenthalts die Spuren, die beim Eintritt in das Niemandsland entstehen, es lässt nichts dauerhaft in sich einschreiben, verweigert die Grenzziehung.

Man kann sich das Leben im Niemandsland vorstellen wie ein Leben auf Treibsand: Treibsand hat die interessante Eigenschaft, dann stabil zu werden, wenn man über ihn läuft, aber nachzugeben, wenn man stehen bleibt. Der Treibsand ist ein nötigendes Medium, das Bewegung fordert und kein Wurzeln ermöglicht, das ein Denken in der Metaphorik des fest verwurzelten Baumes ermöglichen würde (Deleuze/Guattari 1977: 26-31).

Wir sind gewohnt die Welt vorrangig territorial zu verstehen, also von spezifischen Orten auf statischen Bezugskarten her; das Niemandsland hingegen ist die Nötigung, sich ohne diese Territorialitätsbezüge allein aus einer dynamischen Immanenz heraus zu verstehen, die stets aus der Bewegung gespeist wird, die ein Leben auf Treibsand erfordert (Deleuze 1996). Im Niemandsland wird der Gestus des Anspruchs auf einen Platz obsolet, der ein Eigener ist bzw. der Einen definiert. Jeder Aufenthaltsort im Niemandsland ist stets Aktualisierung einer gleichermaßen kontingenten und flüchtigen Besetzung (Deleuze/Guattari 1992: 496-510), die geschieht, weil man ist, nicht aber deshalb, weil einem ein spezifischer Ort zusteht, weil man irgendwo herkommt oder irgendwo gestanden hat.

Wozu, so mag man fragen, diese phänomenologisch-aphoristischen Überlegungen zum Niemandsland? Das Niemandsland, so die Idee, könnte aufgrund seiner Konstitution als sich entziehender Raum ein Denken unterstützen, das den Widerstreit nicht verdeckt, sondern zulässt - und zulassen kann, weil niemand die Validierung der je eigenen verwirklichten Möglichkeiten gegenüber anderen unverwirklichten Möglichkeiten durch Anspruch auf festen (und neutralen) Boden stützen kann. Damit bietet die Idee des Niemandslandes genau jenen Suchraum an, der Bedingung für ein nicht annexionistisches Modell von Ethik ist, innerhalb dessen eingedenk des Widerstreits das richtige Handeln nicht als Produkt einer privilegierten, die Richtigkeitsbedingungen definierenden Grammatik gedacht wird. Vielmehr wird das Entstehen immer neuer, je aktueller Grammatiken zwischen den pluralen Möglichkeiten des Menschseins schon durch die Umstände selbst provoziert. Anders gesprochen: Jede Regel ist immer nur momentgebundene Überbrückung des Zwischen der Vereinbarenden und bedarf stets der Schaffung eines konkreten Verhältnisses, ohne dass die Regel gewissermaßen zu Boden fallen und im Sand versinken würde. Damit sind Verkrustungen im Sinne sich verselbständigender Regelkonstitutionsmodelle (die dann wieder die Figur des „Richters" repräsentieren, dessen Position Lyotard im Widerstreit für unbesetzbar hält) schon durch die Modellierung des Bezugsraumes ausgeschlossen und dasjenige, was Lyotard als totalitaristische Tendenz von Universalisierungsstrategien kritisiert, wird unterlaufen. Doch es fordert zugleich, das Denken all dessen einer Revision zu unterziehen, was unsere gängige Rede und Praxis der Verpflichtung und Verbindlichkeit angeht: Verpflichtung hat keine Außenquelle mehr zur Verfügung, keine Vernunft, Tradition usw. aus der sie sich speisen kann. Verbindlichkeit ist nur noch einem konkreten Anderen gegenüber herzustellen, mit dem sich Schnittmengen bilden bzw. mit dem man ein Stück des Weges auf dem Sand gemeinsam zurücklegen will oder muss. Verpflichtung und Verbindlichkeit sind im Niemandsland strikt aktual zu fassen, der „Richter" wird abgeschafft zugunsten des eingestandenen Bedarfs immer neuer, konkreter Regulation, die im Zwischen, das zwischen den Regulierenden entsteht - und nur dort - ihren Platz finden muss. Das Soziale wird zum Netz provisorischer Übergänge zwischen Versionen des Möglichen des Menschseins (Röttgers 2003).

Die Quellformel des Toleranzgedankens, jenes Gedankenexperiment „Der Andere könnte auch ich sein", die auch in den Subtext der üblichen Universalisierungsstrategien eingeschrieben ist, verändert sich im Niemandsland zur Überzeugung „Ich werde ein Anderer sein"; es findet eine Transformation von dem Gedankenspiel des „sich hinein Versetzens in den Anderen" hin zur Anerkennung der eigenen Ich-Dynamik, des immer anders werden des Eigenen aufgrund des Bedarfs an Fort-Bewegung statt. Die normative Grundhaltung des Niemandslandbewohners ist nicht mehr die eines Landverwalters, sondern die eines Nomaden, für den Unterwegs-Sein kein Reisen sein kann, sondern als notwendiger Daseinsmodus auf Dauer steht.

Im Jemandsland hingegen ist diese Form der eingestandenen Fundamentlosigkeit, das Anders-Werden um leben zu können, nicht hinreichend kultiviert, um mit dem Widerstreit leben zu können - hier kämpft man um ein Stück Boden statt um einen echten Austausch.

IV. Ein vorläufiger Abschluss

Das Denken der Globalisierung(en) bedarf, so sollte gezeigt werden, neuer Modelle, Metaphern und Zugänge. Die Welt als Niemandsland zu konzipieren ist ein Versuch, im „Widerstand gegenüber der Gegenwart" (Deleuze/Guattari) heuristische Utopien in Anschlag zu bringen, die aus den Blockaden des astronomistischen Globalisierungsdiskurses herausführen. Natürlich ist dies nur ein (kursorisch gezeichnetes) Beispiel, das in einer Reihe vielfältiger Aktivitäten in Wissenschaft, Kunst und Kultur in Auseinandersetzung mit dem Phänomen ‘Globalisierung’ steht. Diese Ansätze müssen allerdings verstärkt darauf hinwirken, den etablierten ‘Globalisierungsdiskurs’ zu überlagern und in einen Möglichkeitsdiskurs zu transformieren. Dazu müssen alle kreativen Potentiale und Ausdrucksformen mobilisiert werden, um dem Charakter aktueller Prozesse der Konstitution einer humanen Welt voll dynamischer Wechselbeziehungen gerecht zu werden und nicht disziplinären wissenschaftlicher Binnenlogiken geschuldete Vereinseitigungen und selbsternannter Deutungsautoritäten bezüglich ‘der Globalisierung’ das Feld zu überlassen. Die Frage, die es zu klären gilt, lautet: Wie ist Menschsein in einer pluralen Welt möglich, einer Welt die plurale Identitäten genauso wie plurale Artikulationsmodi zulässt, die ihr fortlaufendes Werden als Gestaltungsspielraum nutzt, zugleich aber auch gegenüber der Mühe ständiger Selbstorientierung sensibel bleibt, also den Widerstreit nicht unter der Fassade von Eindeutigkeiten verdeckt? Die Antwort kann nicht „das Menschsein" definieren, für das einem neuen (göttlichen) Masterplan gleich eine statische Landkarte gezeichnet werden könnte. Antworten kann es wohl nur geben in Form von Vielheiten möglicher Formen des Menschseins, die in pluralen Modi des Austauschs mögliche Welten durchwuchern.

Es bleibt spannend.

 

Für Anregungen und Kritik danke ich Michaela Ott, Gisela Badura-Lotter und Stephan Steiner.

 

Literatur

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