WK | MANCHESTER
Einer der Ursprungsorte der ersten industriellen Revolution ist
bekanntlich das Gebiet in und um die Stadt Manchester,
und der Zufall wollte es, dass ich auf einigen privaten Reisen
Bekanntschaft mit ihm machen konnte. Aber nicht von dieser
„Reisebekanntschaft“ selbst sei abschließend hier berichtet,
sondern von einem Ausflug, der mich in die ältesten, längst
aufgegebenen Industriereviere führte. Auf den üblichen Karten
waren sie natürlich nicht verzeichnet, ich konnte sie daher nur
finden, weil mir die Namen der einschlägigen Bezirke bekannt
waren. Wie überall auf der Welt, wo sich die Industrie von einem
umgrenzten Gebiet, einem Arreal verabschiedet hat, das nicht
mehr ihr Interesse findet, dessen Ressourcen erschöpft oder
dessen Produkte nicht mehr an den Mann zu bringen sind, bildeten
sie ausgedehnte Ruinenlandschaften, die mitunter direkt an
unbebautes Gebiet, an die „Wildnis“ grenzten.
Ich traf auf so gut wie keinen Menschen. Katzen und hungrige
Hunde schlichen umher. Aus einem blechernen Schornstein stieg
eine dünne Rauchsäule auf, aus dem halb geöffneten Tor drangen
Arbeitsgeräusche. Offenbar hatte sich dort jemand eine marginale
Werkstatt eingerichtet. Die zentralen Arbeitshäuser, die
Fabriken, die einstigen Sklavenställe, waren von erstaunlichem
Ausmaß: fünf- bis siebenstöckig, so viel ich mich erinnere,
meist wohlproportioniert, einige noch im klassizistischen Stil
erbaut und an Kanäle grenzend, die einst den Transport gesichert
hatten und in denen jetzt eine träge, ölig schimmernde Brühe
stand. Riesige Fensterhöhlen, die oft über mehrere Stockwerke
reichten, die Dächer offenbar seit langem eingestürzt, aber die
Skelette, die Baukörper hatten sich erhalten und konnten sich
mit den durchschnittlichen „Baudenkmälern“, vor denen wir
bewundern stehen, durchaus messen. dass die „Bewunderer“, die
Archäologen, die Fremdenführer usw. fehlten, gereichte ihnen in
gewisser Weise sogar zum Vorteil. Keine Tabu-Zone, kein
Berührungsverbot umgibt sie. Ähnlich den verfallenden Dörfern im
Südgürtel Europas verfallen sie ungeschützt und ungehemmt, die
Würde des Denkmals mit der Natur, der Grazie des Verfalls
verbindend.
Ob mir eine gewisse Frage schon damals oder erst später durch
den Sinn ging, lässt sich nicht mehr feststellen, nur die Frage
hat sich erhalten, die Frage, was passieren würde, wenn wir die
überall herumstehenden Industrieruinen zum Erzählen einladen
würden, wie wir es tun mit den sanktionierten Ruinen. Wo diese,
eine gewisse, mittlere Prominenz vorausgesetzt, mit Scharen von
Historiographen rechnen können, die ihnen ihre Geschichte
zu entlocken wissen, so dass sie zu reden anfangen – alle
sanktionierten Ruinen sind redende Ruinen – bleiben
diese Ruinen im wesentlichen stumm.
Nichtsdestoweniger ist diese Sprachlosigkeit offenbar nicht
einseitig die Schuld der (ausgebliebenen) Experten, sondern hat
ihren Grund an einer Grenze, die so leicht nicht überschritten
werden kann, ohne dass es uns das Wort verschlägt. Der stumme
Nekrolog, den wir diesen Ruinen allenfalls entlocken könnten,
müßte der Idee nach ja einen Arbeits-Aufwand umfassen – das
unermessliche Reservoir der poros, peine vieler
Generationen – der erstmals in der menschlichen Geschichte keine
nennenswerten Spuren, keine „Schichten“ hinterlassen hatte,
denen sich noch eine „Physiognomie“ zusprechen lassen könnte.
Die Schichten der industriellen „Hinterlassenschaft“ sind
wesentlich neutral, verwechselbar, anonym, sie bilden nicht viel
mehr als Müll. Und ähnlich wie die Dinge selbst schien auch der
ungeheure Arbeitsaufwand, der darauf verwendet worden war – der
geschichtlich größte Arbeitsaufwand überhaupt – dazu verdammt zu
sein, dem Vergessen überantwortet zu werden, sich als
vergeblich, als verschwendet, als „unnütz“ einzubekennen. Nicht
mehr der natürliche Verfall der produzierten Dinge bildete seine
Grenze, vielmehr war er für diesen Verfall – für den Verschleiß,
die „Konsumption“ – bereits ins Werk gesetzt worden.
Das heißt natürlich nicht, dass die Historie des („schuftenden“)
Industrieproletariats nicht aufgearbeitet worden wäre. Sie füllt
bekanntlich ganze Bibliotheken. Aber es erging dieser Geschichte
nicht viel anders wie allen übrigen Geschichten, die aus dem
geschichtlich-gesellschaftlichen Kontext herauszufallen und eine
Art von Unfall, von Verkehrsunfall auf der breiten gangway der
Universalgeschichte darzustellen scheinen: sie wurde isoliert,
der geschichtlich-gesellschaftlichen Kontinuität, die sie auf
eigentümliche Weise unterbrochen hatte, entrissen und
verfiel damit derselben Amnesie, wie sie nach einem
Schockereignis eintritt.
Dass diese Ruinen ihre „Erzählung“ bisher schuldig bleiben
mussten, ist in gewissem Sinne vielleicht aber auch ermutigend.
Mit Versuchen, wie sie gewisse Romanciers des 19. Jahrhunderts
hinterlassen haben – Victor Hugo, Charles Dickens, Emile Zola –
wäre ihrer Geschichte heute nicht mehr beizukommen. Sie ist ja
bis auf den heutigen Tag nicht abgeschlossen und gehört
vielleicht zu den Geschichten, die wir uns überhaupt erst
zu erzählen wüßten, wenn wir sie erzählen müssen,
weil ein andere Weg der gesellschaftlicher Selbstverständigung
nicht mehr übrig bleibt.
Wie mir ein Prospekt verriet, der mir per Zufall in die Hand
fiel, ist geplant, in diesen Ruinen demnächst eine Reihe
luxuriöser Eigentumswohnungen einzurichten. Sogar die Baupläne
liegen bereits vor. Es ist der bekannte Versuch, die Schönheit
ehemals peinigender Schaustücke teils zu erhalten, teils mit
einer aseptischen Isolierschicht zu überziehen. Aber Vermummung
und Mumifizierung lassen sich ja nicht säuberlich trennen, und
so besteht zumindest eine – sei es auch geringe – Aussicht, dass
auch diese Ruinen eines Tages zu reden anfangen, weil ein
noch unbekannter Archäologe ihnen ein „Mundstück“ zugespielt
hat.
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aus: Wolfgang Kaempfer, Der
stehende Sturm (Berlin 2005, pp. 245-247)
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