Nachtrag zu Wolfgang Kaempfers Zeittheorievon Stefan Kaempfer
Folgende Überlegungen können als
„Nachtrag“ zu Wolfgang
Kaempfers Zeittheorie und der dort festgestellten
Wechselwirkung zwischen zwei als fortschreitend-irreversibel und
zyklisch-wiederkehrend definierten
Zeitverläufen gelesen werden. –
Gleichzeitig aber versteht sich das hier skizzierte Modell als
ein neuer Ansatz, der auch auf anderen und eigenständigen
Gedanken zum Problem der Zeit beruht.
1. – Problemstellung
1.1. –
Wolfgang Kaempfers Modell zweier verschiedener Verläufe der Zeit
und ihrer Synchronisierung bzw. Desynchonisation („Bruch“) wird
im Folgenden auf Lebewesen beschränkt, die über eine „Eigenzeit“
verfügen, deren Verlauf im Sinne eines nicht umkehrbaren Reife-
und Altersprozesses irreversibel-endlich ist. – Als vom Modell
geforderten Gegenpart nehmen wir eine „Allgemeinzeit“ an, die
wir als externen „Zeitgeber“ definieren, über deren Endlich-
oder „Unendlichkeit“ wir nicht entscheiden können, die jedoch
die Eigenzeiten der verschiedensten Lebensformen dieser Erde
überdauert und synchronisiert. Diese Funktion erfordert einen
zyklisch-wiederkehrenden Verlauf, der ebenfalls in der Eigenzeit
der Lebewesen beobachtbar ist und dort im Dienste der
„Selbsterhaltung“ der Organismen steht. – Die Eigenzeit
verläuft also einerseits auf einer unumkehrbaren Linie, die über
Wachstum, Reife und Alter mit dem Tod der einzelnen Lebewesen
endet, andrerseits aber in Zyklen zur Erhaltung der Organismen,
die ihre – als „wesentlicher Mangel“ interpretierten –
periodisch wiederkehrenden Bedürfnisse zeitlebens befriedigen
müssen. Dazu haben sich die Lebewesen einer
anderen Zeit anzupassen, welche auch die zyklische Wiederkehr
der „Befriedigungsobjekte“ regelt, indem sie alle in einem
gegebenen System wirksamen, einander bedingenden Eigenzeiten
synchronisiert.
1.2. – Wenn man die Bedürfnisse der komplexeren auf unserer Erde lebenden Wesen untersucht, stößt man – neben den berühmt-berüchtigten Zyklen des Fressens und Gefressenwerdens – auch auf eine andere Art von „Bedürfnisbefriedigung“, da die große Mehrzahl der Pflanzen ausschließlich von anorganischen Elementen – wie Licht und Wärme, Kohlendioxid und Wasser – lebt, deren Verfügbarkeit von einem zyklisch-wiederkehrenden Zeitverlauf abhängt, der hauptsächlich von den Bewegungen der Erde um sich selbst und um unsere Sonne, sowie den damit zusammenhängenden klimatischen und saisonalen Bedingungen gesteuert wird. Diese Beobachtung spricht dafür, dass es sich hier um einen lebensnotwendigen „Zeitgeber“ handelt, da auch alle anderen komplexen Lebensformen mittel- oder unmittelbar von den Zyklen der Pflanzenwelt abhängen und sich darüber hinaus ebenfalls auf die durch den Rhythmus der Tage, Nächte und Jahreszeiten bedingten Temperatur- und Lichtverhältnisse, und nicht zuletzt auf die Verfügbarkeit des Trinkwasssers einstellen müssen. – Wolfgang Kaempfers Modell eines „Zeitgetriebes“ und der von ihm postulierte „Bruch“ sind nur verständlich, wenn wir diese „natürliche“ mit einer spezifisch „menschlichen“ Zeit vergleichen. – Es ist bekannt, dass der Mensch sich nicht mehr ausschließlich an die Natur, sondern diese – als seine so genannte „Umwelt“ – im Zuge der technologischen „Errungenschaften“ zunehmend an die eigenen – realen oder vermeintlichen – Bedürfnisse anpasst. Nur hört er dadurch keineswegs auf, ein Naturwesen zu sein, wenngleich bestimmte Entwicklungen auch auf die Emergenz eines mehr und mehr „künstlichen“ Geschöpfes hinzudeuten scheinen. – Wolfgang Kaempfer (1991) nennt die beiden antagonistischen Zeitverläufe „Geschichts“- und „Verkehrszeit“, erstere auf Veränderung, letztere auf Erhaltung eines gegebenen Systems zielend. Darüber hinaus merkt er einen historisch datierbaren „Geschichtsstillstand“ an, dem er in seinem Modell zweier sich einander bedingenden Geschwindigkeitsvariablen eine „rasende Verkehrszeit“ gegenüberstellt. Somit wäre die menschliche Zivilisation, wie auch andere Autoren behaupten, in eine „posthistorische“ (bzw. „postmoderne“) Phase eingetreten, in der keine Veränderung mehr möglich ist und die okzidentalisierte Menschheit sich den grenzenlos beschleunigten Kreisen ihres kollektiven Selbsterhaltungstriebes ausgesetzt sieht.
1.3. – Aus unserer Sicht ist
der in der Tat beobachtbare, so genannte „Bruch des
Zeitgetriebes“ im Sinne einer grundlegenden Desynchronisierung
nicht systemimmanent zu erklären, sondern beruht auf der
Diskrepanz zwischen dem schon von Descartes (1637) formulierten
menschlichen Herrschaftsanspruch über die Natur und ihrer
„realen Übermacht“ (Adorno & Horkheimer 1947). Dass die
technologischen und zivilisatorischen „Errungenschaften“ uns
nicht unerheblich von den rauen natürlichen Bedingungen
„befreien“, bedeutet keineswegs, dass wir ihnen nicht immer
wieder – individuell oder kollektiv, regional oder planetarisch
– ausgeliefert sind, nicht zuletzt durch unsere physiologische
Konstitution als sterbliche zur Selbst- und Arterhaltung
genötigte Lebewesen. Und dass die „Bedürfnisbefriedigung“
nunmehr über globale Netzwerke und Verteilungsprozesse läuft,
die vielleicht das schöne Ziel verfolgen, einmal alle
menschliche Not zu tilgen, bedeutet nicht, dass dies schon
geschehen oder überhaupt realisierbar ist: Angesichts der
Ungleichheit der Handelsbeziehungen („Terms of Trade„)
und nicht enden wollenden kriegerischen Aggressionen, sowie der
flächendeckenden Zerstörung der natürlichen „Ressourcen“ und
„Biodiversität“ könnte man fast glauben, dass unser kollektiver
„Selbsterhaltungstrieb“ schon in sein Gegenteil umgeschlagen
ist. – Aus diesen Überlegungen folgt, dass der
beobachtete und zu erklärende „Bruch“ auf einer
Verselbständigung („Selbstläufigkeit“) der „Zeit des Menschen“
(Wolfgang Kaempfer 1994) beruht, die nicht mehr durch einen
„natürlichen“ Zeitgeber gesteuert wird. Somit sind auch die hier
erkennbaren Desynchronisationsphänomene in erster Linie
Auswirkungen des fundamentalen „Bruchs“ zwischen menschlicher
und natürlicher Zeit. Denn obwohl die menschliche „Uhrzeit“
nunmehr als systemimmanenter Zeitgeber fungiert, hängt
unsere Eigenzeit, wie auch die der verschiedensten Lebewesen,
die neben uns diese Erde bevölkern, weiterhin von einem
externen Zeitgeber ab. Da sich jedoch die „Zeit des
Menschen“ im selben Grade verselbständigt, als wir uns von den
natürlichen Bedingungen zu befreien suchen, ist auch der
Zeitgeber der Natur für unsere planetarischen Aktivitäten nicht
mehr maßgebend, was nur zu einer fortschreitenden
Desynchronisation der menschlichen und natürlichen Uhren führen
kann, deren teils katastrophale Konsequenzen schon heute als
Anzeichen des gescheiterten menschlichen
Alleinherrschaftsanspruchs gedeutet werden dürfen.
2. – Diskussion
2.1. – „Zeit“ wurde in
ihrer wesentlichen Verbindung zum Leben überhaupt
vorgestellt, entbehrt aber als solche noch einer Definition.
– Die endliche Lebenszeit des Einzelnen wurde als
„Eigenzeit“ bezeichnet. „Körperlichkeit“ und „Mangel“,
„Bedürfnis“ und„Notwendigkeit“, die das organisierte Leben
im Allgemeinen charakterisieren, legen aber auch eine andere
Zeitlichkeit nahe, die im Sinne der Selbst- und Arterhaltung
die Merkmale der Reproduktion und Zyklizität trägt, also
neben dem irrevesibel-endlichen Moment auch den
verschiedenen Eigenzeiten der Lebewesen zugesprochen werden
muss. Daraus folgt, dass die Eigenzeit ihrerseits aus zwei
verschiedenen, sich einander bedingenden Zeitverläufen
besteht. Da nun die teils sehr unterschiedlichen Eigenzeiten
der verschiedenen, von einander abhängigen oder sich
bedingenden Lebensformen eines gegebenen Systems („Natur“)
miteinander synchronisiert sein müssen, um ihr notwendiges
Zusammenwirken zu gewährleisten, nehmen wir eine als
„Zeitgeber“ („Synchronisator“) definierte „Allgemeinzeit“
(„Fremdzeit“) an, deren Verlauf notwendig
zyklisch-wiederkehrend sein muss, um dieser Funktion zu
entsprechen. – Der „natürlichen“ wurde eine
„menschliche“ Zeit entgegengesetzt: Nun ist die Zeit in der
alltäglichen Erfahrung des heutigen Menschen zu einem
weitgehend autonomen Synchronisator geworden, der
„Gleichzeitigkeit“ und „Pünktlichkeit“ erzeugt, Zeit- und
Terminpläne auf die Minute genau festlegt, Produktions- und
Leistungsprozesse regelt, etc. – Hierbei handelt es sich um
Zeit, die wir haben oder nicht haben, vor allem aber können
wir sie kaufen und verkaufen. Mit der bekannten Formel „Zeit
ist Geld“ rückt eine neue Messgröße auf den Plan, die einen
bestimmten sozialen und ökonomischen Rahmen vorgibt, in dem
sich die unwiederbringliche Lebenszeit des einzelnen
Menschen in reproduzierbare Arbeitszeit – Kraft, Energie –
konvertieren muss, um in den menschlichen Leistungs- und
Produktionsprozess „eingebunden“ zu werden. – An
diesem Punkt drängt sich der Gedanke auf, dass die
gigantische Produktions- und Leistungsmaschine der heutigen
Menschheit zwar einerseits auf die – möglichst schnelle und
umfassende – Befriedigung der Bedürfnisse zielt,
andererseits aber im Arbeitsprozess selbst mit „Verzicht“
einhergeht, und zwar nicht nur als „Triebaufschub“ (Freud),
sondern auch als Absage an „Singularität“, „Einmaligkeit“,
„Irreversibilität“. – In diesem Zusammenhang ist zu
bemerken, dass der Verzicht auf unmittelbare Befriedigung
der eigenen Bedürfnisse naturgemäß im Dienste der
Arterhaltung steht und wie im Tierreich – vornehmlich bei
Endothermen (oder Homoiothermen), also Säugern und
Vögeln – auch bei uns Menschen der so genannte
„Brutpflegeinstinkt“ existiert, der sich in der „Arbeit“ für
das Wohl der heranwachsenden Generation äußert. – Nicht
zuletzt ist zu betonen, dass ein großer Teil der Menschheit
weiterhin auf das Nötigste verzichten muss, da derzeit nur
die Bewohner der so genannten „reichen Länder“ mit einer
mehr oder weniger umfassenden Befriedigung ihrer –
„natürlichen“ und „künstlichen“ – Bedürfnisse rechnen
dürfen.
2.2. – Im bekannten physikalisch-relativistischen Modell existiert Zeit überhaupt nur in Verbindung zum Raum als eine („vierte“) Dimension desselben. Der hier benutzte Begriff der „Eigenzeit“ findet dort eine spezifische Anwendung, die in unserem Zusammenhang nicht näher besprochen werden kann. – Auch Kant hat schon die „Gleichartigkeit“ von Raum und Zeit hervorgehoben, indem er beide – und nur diese – als „Formen der Anschauung“ bezeichnet, also auf die „Erfahrung“ eines „Beobachters“ bezieht und so im Grunde schon das Feld der „absoluten Zeit“ der klassischen Physik verlässt. Diese „phänomenologischen“ Aspekte der „Zeiterfahrung“ setzen nun ein „Zeitbewusstsein“ voraus, das Dauer und Punktualität, Gleichzeitigkeit und Nacheinander von Prozessen, Ereignissen, Bewegungen erfassen und unterscheiden kann. Die Frage stellt sich, ob Zeiterfahrung das Bewusstsein wesentlich bestimmt, ob also Bewusstseinsprozesse überhaupt zeitlich zu verstehen sind, und wie Zeit im Zusammenhang mit einem wie immer gearteten „Bewusstsein“ zu definieren wäre. Hierbei ist zu bedenken, dass auch die „Raumerfahrung“ eine wesentliche Rolle im Bewusstsein spielen muss, sofern dieses als eine lebendige, „verkörperte“ Instanz aufgefasst wird und nicht mehr als der vom Körper – und den „Sinnen“ – getrennte „Geist“, wie noch die „res non extensa“ der Cartesianischen Metaphysik. – Die „mentale Inexistenz“ der Scholastiker und von Franz Brentano (1874) neu interpretierte sowie von Husserl (1900) übernommene Idee der Intentionalität, derzufolge jedes Bewusstsein „Bewusstsein von…“ – also zielgerichtet, objektgebunden – ist, lässt erstens eine „zeitliche Distanz“ zwischen einer Intention und ihrer – wie Husserl schreibt – „Erfüllung“ oder „Enttäuschung“ erkennen, zweitens aber auch eine mögliche Entfernung und Bewegung im Raum, die wiederum in zeitliche Begriffe wie Dauer und Geschwindigkeit gefasst werden kann. – Die Husserlsche Konzeption der Intentionalität muss jedoch so lange rätselhaft bleiben, wie die physiologischen Beweggründe der Lebewesen von der Analyse ausgeschlossen („ausgeklammert“) bleiben. Nun leuchtet aber ein, dass unsere bewussten Intentionen auf Bedürfnissen – oder „Trieben“, „Wünschen“ (Freud 1900) – beruhen, die ihrerseits durch die schon erwähnte Verkörperung und den damit zusammenhängenden „wesentlichen Mangel“ allen Lebens bedingt sind. So dürfte auch die erste überwältigende Zeiterfahrung des Neugeborenen diejenige der Differenz zwischen seinem Wunsch und der entsprechenden Erfüllung bzw. Enttäuschung sein. Wenn ersterer in unserer Terminologie „eigen-zeitlich“ zu verstehen ist, so setzen letztere die Erfahrung einer „Zeit des Anderen“ voraus: Die reale „Wunscherfüllung“, die nicht mehr nur halluziniert oder geträumt wird, geschieht von außen und impliziert sowohl räumliche „Ent-fernung“ als eine An- und Abwesenheit, Erscheinen und Verschwinden trennende Zeit, so dass hier die „Urerfahrung“ der „Exteriorität“ überhaupt in ihrer radikalen Differenz zur eigenen Zeit stattfindet und sich im Gegenzug überhaupt erst eine „Innenwelt“ offenbart. Dieser Gedankengang legt nun aber nahe, dass Eigen- und „Fremdzeit“, Innen- und Außenwelt erst im Laufe der Entwicklung des Lebens differenziert werden und hierfür – wie auch in der modernen Physik – die Position eines Beobachters und „Experimentators“ gegeben sein muss. 2.3. – In Situationen der Gefahr oder Not und dem damit zusammenhängenden „Zeitdruck“ – der „Zeitnot“ des Schachspielers – ist „dringendes“ Handeln gefordert: Abgesehen von Reflexreaktionen muss hierfür ein Gefahr oder Not erkennendes und mehr oder weniger antizipierendes Wesen gegeben sein, das eine Strategie ersinnen kann, um Not und Gefahr zu vermeiden bzw. zu bekämpfen. – Je nach Bedrohlichkeit der Situation, bei der es „um Leben und Tod“ gehen kann, muss die Dauer zwischen der Wahrnehmung einer Gefahr oder Notsituation und der angemessenen Abhilfe möglichst kurz sein: Dabei dürfte eine Beschleunigung der Zeit sowie ein erhöhter Energieverbrauch des betreffenden Lebewesens bei der Behebung des Missstandes festgestellt werden. – Dieser schnellen Verausgabung oder gar Verschwendung von Energie steht nun eine längere Zeit gegenüber, die ihre Generierung oder Regenerierung durch Nahrungsaufnahme und „Erholung“ (Schlaf) erfordert. – Allerdings ist der Begriff der Energie in der modernen Physik nur im Zusammenhang mit der Materie zu verstehen, die als „res extensa“ (Descartes 1637/41) ihrerseits „räumlich“ begriffen werden muss, wobei Energie und Materie, bzw. Zeit und Raum in der Physik keine absoluten Gegensätze mehr darstellen, wie es noch in der klassischen Philosophie der Fall war, sondern in einem komplexen System als Stabilisierungs- und Transformationsprozesse auf verschiedenste Weise interagieren. Dabei ist interessant – wie auch Wolfgang Kaempfer (1991) bemerkt -, dass sogar schon in den basalen Prozessen der Erhaltung und Dissipation („Entropie“) von Energie zwei verschiedene Zeitverläufe – Zyklizität und Irreversibilität – zu erkennen sind. – Wie schon bemerkt, können diese Informationen allerdings nur zur Kenntnis genommen, nicht aber in unserem Rahmen näher erörtert werden oder Anlass zu Spekulationen geben. 2.4. –
„Bewusstsein“ ist als bemerkenswertes Resultat der
lebendigen Evolution auf unserem Planeten anzusehen, das die
Lebewesen dazu befähigt, ihre Umgebung und eigene Regungen
korrekt wahrzunehmen und darüber hinaus Strategien zur
Verwirklichung bestimmter lebenswichtiger oder Vermeidung
bedrohlicher Situationen zu entwickeln. Diese minimale
Definition von Bewusstsein legt nahe, dass hier schon ein
„Zeitgefühl“ gegeben sein muss, welches es „bewussten“
Lebewesen ermöglicht, zyklisch-wiederkehrende, andauernde
oder „vergängliche“ Prozesse zu unterscheiden und im
Rahmen eines wie immer gearteten Erinnerungs- und
Vorstellungsvermögens „zukünftige“ Situationen zu
antizipieren, um sich darauf einzustellen. Da dieses
„Bewusstsein“ ein Resultat der Evolution zu immer
komplexeren Lebensformen ist, kann davon ausgegangen werden,
dass es einerseits höhere Überlebenschancen bietet,
andrerseits aber damit auch die zunehmende Fragilität
hochkomplexer Organismen – wie die schon erwähnten
Homoiothermen – kompensiert. – Nun kann eine
„Zeit des Menschen“ nicht ohne ein gegebenes
„Zeitbewusstsein“ vorgestellt werden, das einerseits
individuell – eigenzeitlich – und andrerseits
kollektiv – allgemeinzeitlich – zu verstehen ist. –
Während die ursprüngliche, durch Uhren und Kalender
geregelte Zeit des Menschen sich noch an den circadianen und
saisonalen Rhythmen der Natur orientiert, so setzt sich
zunehmend eine „neue“ Zeit durch, die immer genauere
Messungen und Anpassungen von Leistungs- und
Produktionsprozessen fordert, in die sich unsere eigenen,
endlichen Lebenszeiten nicht zuletzt aufgrund einer
fortschreitenden Monopolisierung der
Bedürfnisbefriedigung einfügen müssen. Dabei bemerken
wir eine fortschreitende Alternativlosigkeit, die sich auch
darin äußert, dass die Befriedigungsobjekte nur noch als
„Waren“, also über gültige „Zahlungsmittel“ erstanden werden
können, die ihrerseits vom Großteil der Menschheit durch
Arbeit – also Zeit- und Energieaufwand – „verdient“ werden.
– Dieser gigantische Produktions-, Leistungs- und
Konsumprozess der technologischen Menschheit hat sich
weitgehend verselbständigt: Obst und Gemüse kann ganzjährig
in Treibhäusern angebaut oder von verschiedenen Klimazonen
aus rund um die Erde verschickt werden. Massentierhaltung
verläuft unabhängig von natürlichen Rhythmen und
Weideflächen. Kraftwerke aller Art liefern die notwendige
Energie für unsere Aktivitäten „rund um die Uhr“. Heizungs-
und Klimaanlagen schützen uns vor unangenehmen
Witterungseinflüssen. Künstliche Beleuchtung macht unsere
Nächte zu Tagen. Und wie die legendären Bewohner der
Platonischen Höhle an unsere Bildschirme gefesselt, erfahren
wir die „Außenwelt“ mehr und mehr als endlos
reproduzierbares, von uns selbst gestaltetes „Digitalisat“.
2.6. – Wir sind davon ausgegangen, dass die verschiedensten Rhythmen der „natürlichen“ Lebensformen durch einen externen Zeitgeber synchronisiert werden, der das Zusammenwirken einer Vielzahl von Organismen in einem gegebenen Ökosystem ermöglicht und sich in wiederkehrenden Zyklen äußern muss, um diese Funktion erfüllen zu können. Auch haben wir für jedes „sterbliche“ Lebewesen eine Eigenzeit angenommen, die ihrerseits in zwei verschiedenen Richtungen verläuft: einerseits als irreversibler „Wachstums- und Verfallsprozess“, andrerseits als sich periodisch wiederholende, lebensnotwendige und weitgehend triebgesteuerte „Bedürfnisbefriedigung“, die der Selbsterhaltung der Organismen dient. Hinzu kommt nun die bei den meisten Tieren ebenfalls instinktive „Arterhaltung“, die mit der durch die Reife der Individuen bedingten sexuellen Reproduktion wiederum einen im Sinne der Evolutionstheorie irreversiblen Aspekt zeitigt, wobei Artveränderungen oder Mutationen als Anpassung an veränderte Naturbedingungen sich teils über lange Zeitspannen vollziehen. – Während die Selbsterhaltung in Form von Nahrungsaufnahme und Ruhezeiten („Schlaf“) zur Regenerierung der lebensnotwendigen Energie meist circadianen Rhythmen folgt, so unterliegt die Arterhaltung der verschiedenen Lebewesen eher saisonalen Zyklen. Daraus können wir schließen, das zwar ein externer – oder philosophisch ausgedrückt: ein „transzendentaler“ – Zeitgeber existieren muss, um die verschiedenen einander bedingenden „Biorhythmen“ eines gegebenen Ökosystems zu synchronisieren, aber auch eigenzeitliche („ontogenetische“) und artspezifische („phylogenetische“), also „systemimmanente“ Synchronisationsprozesse angenommen werden müssen, welche die „Zeit der Natur“ zu einem äußerst komplexen und fragilen „Netzwerk“ gestalten. Es versteht sich von selbst, dass die hier notwendigen Recherchen und Analysen den Rahmen dieser kurzen Präsentation sprengen würden. – Von Wolfgang Kaempfers Modell ausgehend, haben wir nun dem natürlichen „Zeitgeflecht“ eine „Zeit des Menschen“ gegenübergestellt, die zwar, so lange wir natürliche Wesen bleiben, weiterhin von „kosmischen“ und „organischen“ Zeitgebern abhängig ist, aber auch eine immer stärker werdende Tendenz zur „Abkopplung“ erkennen lässt, die wir auf den menschlichen Herrschaftsanspruch über die Natur – also ihre fortschreitende „Formatierung“ und Anpassung an unsere „Bedürfnisse“ und „Eigenheiten“ – zurückgeführt haben. Um die hohe Komplexität der sich hier stellenden Probleme vor Augen zu führen, sind ebenfalls gründliche Untersuchungen notwendig: Dafür hat jedoch Wolfgang Kaempfer in seinen Essays und Büchern bedeutende Vorarbeit geleistet!
3. – Fazit
3.1. – Der so genannte
„Bruch des Zeitgetriebes“ ist nur als spezifisch
menschliches Phänomen verständlich. Dass sich der Bruch
innerhalb der Menschenwelt vollzieht, erklärt sich daraus,
dass wir uns als natürliche Wesen von der „Zeit der Natur“ –
und letztlich von unserer Natur selbst – zu „befreien“
suchen, obwohl wir weiterhin „Mängelwesen“ bleiben, unsere
Bedürfnisse periodisch befriedigen müssen und dabei einem
Wachstums- und Altersprozess unterliegen. In meinen
Anmerkungen zu Wolfgang Kaempfers Zeittheorie habe ich
zwei höchst aufschlussreiche Befunde unseres Autors
angeführt: Zum einen den kulturgeschichtlichen Bruch mit der
Gegenständlichkeit (Figuration), der im Fin de Siècle
und anfangenden 20. Jahrhundert anzusiedeln wäre. Er ist
sowohl in der abstrakten Malerei als in modernen
Naturwissenschaften wie der Quantenphysik zu beobachten.
Auch die Musik und die Literatur weisen Spuren dieses Bruchs
auf, erstere in der disharmonischen Komposition, letztere in
der Handlungslosigkeit oder, wie ich hinzufügen kann, im
Sinnverlust, der in künstlerischen Bewegungen wie Dadaismus
und Surrealismus Programm geworden ist. – Zum anderen hat
unser Autor (1993) die psychologisch-psychiatrischen
Symptome der Melancholie („Depression“) und Manie als Folgen
zweier im Sinne seines Modells abgekoppelte Zeitvektoren
interpretiert, wobei der eine stagniert und der andere einer
„gegenstandslosen Raserei“ verfällt. – Beide Beispiele
sprechen für sich. Weitere Recherchen ergeben hier einen
Verlust der Körperlichkeit, der seinerseits in eben der
Cartesianischen Metaphysik gründet, deren Ziel es war,
Körper und Geist zu trennen und die Natur zu unterwerfen,
also auch den Geist – das Bewusstsein – als Herrscher und
Gebieter über den Körper zu setzen. Das wiederum zeigt, dass
ein erster Bruch schon in der Europäischen Moderne vollzogen
wird, insbesondere als Befreiung von den religiösen
Autoritäten, um einen beispiellosen
wissenschaftlich-technologischen Durchbruch zu erzeugen, der
nicht zuletzt als Beweis für die Umsetzung des
Cartesianischen Mottos „Nous rendre comme maîtres et
possesseurs de la nature“ gelten kann.
3.2. – Zu untersuchen wären also zum einen die verschiedenen kollektiven – rationalistisch-technologischen oder politischen, kulturellen, wirtschaftlichen – Aspekte, zum anderen die psychologisch-psychiatrischen Manifestationen des menschlichen Geistes. In ersteren kann man den Alleinherrschaftsanspruch des Menschen über die Natur und seine eigene Körperlichkeit erkennen. Mehrere Fragen stellen sich hier: Soll man sich mit der heutigen Annahme einer „Posthistoire“ oder „Postmoderne“ begnügen und sagen, dass die Menschheit definitiv in eine Phase der Stagnation – in eine Selbstreproduktionsschleife – eingetreten sei, die keine Aussicht mehr auf grundlegende Veränderung im Sinne eines irreversiblen Paradigmenwechsels – eines Geschichtsschubes – zulasse? Dabei sind die verheerenden Konsequenzen der menschlichen Hegemonie zu betrachten, zu denen nicht zuletzt die Zerstörung der Natur und der Artenvielfalt gehört. Hieraus folgt wiederum, dass der zur Überwindung unseres zerstörerischen Herrschaftsanspruchs notwendige Paradigmenwechsel notwendig zu einer Reduktion der menschlichen Aktivitäten und Ausbreitung auf der Erde führen muss, was heute noch nicht absehbar ist, obwohl gesellschaftliche Tendenzen in diese Richtung existieren. – Aber, wie auch Wolfgang Kaempfer fragt (2005): Ist – wenn hier ein Bruch vorliegt – das „Zeitgetriebe“ überhaupt reparabel? Ansätze gibt es zweifelsohne: Freuds Modell der menschlichen Psyche verdient dabei unsere besondere Beachtung, denn auch er hat den Bruch – bewusst vs. unbewusst – aufgezeigt und mit der Psychoanalyse eine therapeutische Methode zur „Reparatur“ entworfen, die seinerzeit großen Anklang fand. Daraus kann geschlossen werden, dass die parallel von Husserl festgestellte „intentionale Ausrichtung“ des Bewusstseins zu einem unbewussten Teil „triebgesteuert“ ist und hier eine Reihe Konflikte sowohl auf kollektiver als auf individueller Ebene entstehen, die teilweise katastrophale Konsequenzen zeitigen. Schon der Entwurf einer kritischen Anthropologie wäre hier von großem Nutzen, um nicht dieselben Fehler im Sinne eines „Wiederholungszwanges“ endlos reproduzieren zu müssen. Auf individueller Basis ist derzeit eine Orientierungslosigkeit der Menschen festzustellen, die auf den Verlust natürlicher Bezugspunkte hindeuten könnte, mit dem auch ein oft problematischer Identitätsverlust einhergeht, der sich wiederum in teils sehr suspekten „identitären“ Bewegungen äußert. Nun ist die Orientierung an zivilisatorischen Markierungen aus mehreren Gründen schwierig geworden, da diese durch Manipulierungen zum Teil künstliche Desorientierung – zum Beispiel in Form von „Desinformation“ – erzeugen, außerdem eine permanente Reproduzierbarkeit der Zeit vorgetäuscht wird, die mit den uns gleichzeitig bestimmenden natürlichen Bedingungen nicht vereinbar ist. Wenigstens theoretisch würde hier schon ein einfaches Memento Mori den Herrschaftsanspruch des „transzendentalen Bewusstseins“ in Grenzen halten. Dabei muss die so genannte Moderne Metaphysik auf das befragt werden, was sie ausschließt und durch die experimentelle Hintertür doch wieder integriert: Die reproduzierbar gemachte Erfahrung der naturwissenschaftlich-technologischen Bestrebungen, die jede Singularität oder Einmaligkeit ihrer Irreversibilität zu berauben scheinen und somit auch – ganz im Sinne der überlieferten Metaphysik – eine vermeintliche „Unsterblichkeit“ oder „Endlosigkeit“ heraufbeschwören, die in der Natur nirgends zu finden ist. 3.3. – Wir nehmen an das die Träume als Leistungen der Imagination – der „produktiven Einbildungskraft“ (Kant 1781) – einen wesentlichen Beitrag zur Konstitution unseres Bewusstseins leisten, und sich hier ein weites Feld sowohl anthropologischer als psychologischer Untersuchungen eröffnet. Eine Hypothese ist, dass im Traumschlaf Orientierungsversuche in einer imaginären Dimension unternommen werden, in der die Raumzeit des wachen Bewusstseins einer Kompression oder andersartigen Transformation unterliegt. Nun sind hier aber, wie oben bemerkt, gleich drei verschiedene Perspektiven zugleich am Werk: die des weitgehend unbewussten Traumgestalters, des ins Traumgeschehen eingebundenen Akteurs und des beobachtend-reflektierenden Traumbewusstseins, das im so genannten „Klartraum“ (Hervey de Saint-Denys 1867) sogar auf die weitere Traumgestaltung Einfluss nehmen kann. Nachgewiesen ist, dass der „Stoff“ der Traumgestaltung großteils aus wachen Erlebnissen und Erwartungen besteht, deren zeitliche Koordinaten – als Erinnerung, Wahrnehmung oder Antizipation – und somit auch die begegnenden Räume („Schauplätze“) und Personen kaum oder nicht klar identifiziert werden. Hinzu kommt die aktuelle psychische Verfassung des Träumers, die sich in den Traumaffekten niederschlägt, sowie körperliche Mangelerscheinungen – „Triebregungen“ – und deren imaginäre Befriedigung. Hier liegt die Vermutung nahe, dass im Traum Kompensationsprozesse wirksam sind, denen die Handlungen und Bewegungen des wachen Lebens entsprechen, die hier halluziniert und „abreagiert“ werden, wahrscheinlich – wie Freud annimmt – um die Fortsetzung des Schlafes zu gewährleisten. – Wir nehmen weiterhin an, das Imagination im Allgemeinen und unsere Träume ganz besonders auf Antizipation im Rahmen eines gegebenen Erfahrungshorizontes ausgelegt sind. Die ebenfalls beobachteten Momente der Verklärung und Verfremdung – „Verdichtung“ und „Verschiebung“ (Freud) – ergeben sich aus dem Zusammenspiel von aktualitätsbezogenen Erinnerungen, der gegenwärtigen psychosomatischen Verfassung des Träumers und seinen Erwartungen oder den im Traum präsentierten Möglichkeiten. Hier sei die Auffassung vieler alter Kulturen erwähnt, die in den Träumen Prophezeiungen und Orakel sahen. Wenn dies als Traumtheorie aus rationalistischer Sicht nicht haltbar ist, kann doch von einem wesentlichen Bezug der Träume zum Kommenden – zur Vorstellung der Zukunft -, ja sogar von einer biologische Funktion der Anpassung an veränderliche Bedingungen ausgegangen werden. – Man sieht, dass hier Schlüsse zur Konstituierung des Zeitbewusstseins gezogen werden können, wenn man unsere wache – in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterteilte – Zeitauffassung mit der in den Träumen und Künsten beobachtbaren imaginären Dimension in Verbindung bringt, die im wachen Zustand meist diskret („unbewusst“), im Traumschlaf aber vorherrschend ist. Hier sei insbesondere das sowohl in der wachen Wahrnehmung als auch im Traum wirksame, permanente Aktualitätsbewusstsein hervorgehoben: Im Wachen wie im Traumschlaf bemerken wir die oben angesprochene Verdoppelung des Subjekts in eine motorisch-handelnde und eine beobachtend-reflektierende Instanz, die den Zuständen der Bewegung und der Ruhe entsprechen und im Schlaf-Wach-Rhythmus als entspannte oder konzentrierte Vigilanz einerseits, und ruhiger oder bewegter („paradoxer“) Schlaf andrerseits erscheinen. – Dass nun der Schlaf-Wach-Rhythmus der zeitgenössischen Menschen beträchtlichen Störungen ausgesetzt ist, steht außer Frage. Dazu gehört die fortschreitende und zeitraubende Beschäftigung der Menschen mit den aktuellen Medien, die teils schon als interne Zeitgeber funktionieren und deren Inhalte die Vorstellungskraft nachhaltig beeinflussen; sowie nicht zuletzt auch die anfangs erwähnte Einbindung der Menschen in die so genannten „globalisierten“ Leistungs- und Produktionsprozesse, die ihrerseits zunehmend an menschlichen Uhren orientiert und von natürlichen Zeitgebern abgekoppelt sind.
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LITERATURHINWEISE
Wolfgang Kaempfer :
Siehe auch:
Philosophische Schriften
Zum Traumschlaf:
Stefan Kaempfer – Berlin, Ende 2017
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