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Wolfgang Kaempfer, Schriftsteller (1923-2009)

Die Geldbeziehung. Zur Geschichte der Temporalherrschaft
von Wolfgang Kaempfer (2004)

 

Wir pflegen zwischen Vergangenheit und Zukunft eine scharfe Zäsur anzunehmen und bezeichnen sie als Gegenwart. Das ist eine Täuschung. Die wandernde aleatorische Zäsur ist weder gleich der Gegenwart, noch trennt sie die beiden realen temporalen Dimensionen. Sie unterscheidet lediglich die Kategorien „Vergangenheit” und „Zukunft” voneinander, ohne daß uns das zu Bewusstsein kommt.

Die Täuschung hat allerdings Methode. Sie beruht nämlich auf einer Verstümmelung (Amputation) des realiter Vergangenen und realiter Künftigen zugunsten ihrer abstrakten Kategorisierung (unter den Namen (Nomina) „Vergangenheit” und „Zukunft”). Der wahre Zeitverlauf ähnelt eher einem ausdehnten „Zeitfeld”, wie Edmund Husserl formulierte. Er bildet etwas wie einen komplexen, dreidimensionalen „corpus temporale”, dessen Grenzen fließend sind und sich beständig verschieben, ein Fließgleichgewicht aus „vergangenen” und „künftigen” – oder wie Husserl formulierte: retenierten und protenierten – Partikeln oder Elementen bildend, von denen keines jemals gleich bleibt. Auch das „retenierte Bruchstück”, wenn es ein zweites (oder drittes) Mal wiederauftaucht, ist nicht mehr das gleiche.

Insofern dieses eigenartige Übergangsfeld, dieser „corpus temporale” nun aber höchstwahrscheinlich die Basis, die „Struktur” darstellt, die allen Wachstums- und Alterungsprozessen zugrunde liegt, aller „lebenden Materie”, allen „Lebewesen” (oder auch ihren Vergesellschaftungspraktiken, ihrer sozialgeschichtlichen Entwicklung), müssen sich alle „Eingriffe” in ihre Verlaufsform, ihren fließend-temporalen „Körper” wie chirurgische Schnitte ausnehmen und auswirken, die von einem bestimmten Punkt an, einem „ point of no return, auch tödlich verlaufen können oder müssen.

Wie wir gesehen haben, hatte der sich beständig beschleunigende und verdichtende Verkehr allmählich zu einem eigenen „Zeitregime” führen müssen. Zu den „Programmpunkten” der Aufklärungsphilosophie, die diesen Prozeß begleitete, gehörte nicht zufällig die Forderung, sich von aller Tradition, Vergangenheit, „Geschichte” usw. tunlichst zu befreien. Undurchschaut blieb, daß die „Bewegungsbegriffe”, mit denen sie zumeist operierte, in Wahrheit nicht die Bewegung der Geschichte („Geschichtszeit”), sondern die Bewegung der Verkehrszeit abbildeten bzw. simulierten. Sie standen ja als solche fest. Ähnlich dem „Verkehrsnetz”, das der neuzeitlich-moderne Verkehr erfordert hatte, bildeten sie ein festes Wege- oder Schienennetz.

Was wir unter dem harmlosen Namen „Verkehrszeit” kennen gelernt haben, das war in Wahrheit längst dabei, flächendeckend zu werden. Und berücksichtigen wir nun, daß das neue Zeitregime aus der klassischen Mechanik bezogen worden war – anders hätte es seine moderne Exaktheit und Zuverlässigkeit nicht erreichen können – so erhellt, daß es im Laufe seiner schrittweisen „Befreiung” (Entfesselung) ein eigenes Instrumentarium entwickelt haben mußte für die erforderlichen „Eingriffe” in den heiklen Leib, auf den sich das Leben angewiesen sieht als seine ihm zugrunde liegende „Struktur”. So wie sich die lebenszeitlichen Prozesse einer Art Stromdelta vergleichen lassen würden, das sich beständig ändert, so die verkehrszeitlichen Prozesse einer Art Kanalsystem, dessen wesentliche Bestimmung gerade umgekehrt in der „Festigkeit” (Unveränderlichkeit) besteht.

Der fragile und verletzliche corpus temporalis der lebenszeitlichen Prozesse wurde in eine Art Prokustusbett gezwängt, das seine sukzessive Verstümmelung verlangte. Wir kennen das hierzu erforderliche Instrumentarium bereits. Es sind die eigentümlichen Sonden, die die Zeit zerteilen (zerschneiden) können in drei scheinbar unabhängige Bestandsstücke: „Vergangenheit”, „Zukunft” und die aleatorische Grenze, an der Vergangenheit und Zukunft „zusammenstoßen” können. Dieser „Eingriff” in den „Leib der Zeit” konnte vor allem deshalb unauffällig bleiben, weil er gleichbedeutend (gleichursprünglich) mit dem „Ersatz” der amputierten Glieder – Vergangenes/Künftiges/die lebendige Vermittlung auf dem „Zeitfeld – ablaufen konnte. Dem neuen und neutralen „Zeitleib” war schlechterdings nicht anzusehen, daß er aus Prothesen bestand. Bis heute halten wir die abstrakten Elaborate „Vergangenheit”, „Zukunft”, „Gegenwart” für die realen „Vertreter der Zeit”. Sie sind aber allenfalls die von einem unauffälligen Expertengremium gewählten Vertreter.

Nun kennen wir aber noch ein weiteres Vehikel, dem die rätselhafte Fähigkeit zugeschrieben werden kann, die realen Zeitverhältnisse zu „liquidieren” (was hier sogar wörtlich zu verstehen wäre) und sie wieder an den Tag zu bringen als kategoriales („purifiziertes”) Quantum. Dieses Medium ist das Geld. Es funktioniert bekanntlich wie ein Lösungsmittel. Wie das „Königswasser” scheint es unterschiedslos alle „Substanzen” zu „verzehren”. Es könnte daher sein, daß erst an dem unermüdlichen Vehikel des neuzeitlichen Verkehrs, am Geld, das Verfahren abgelesen worden ist, wie man den Zeitverlauf manipulieren, untergehen lassen, wiederauferstehen lassen kann. Geld ist ja in der Tat gemünzte Zeit (dem die lebenszeitlichen „Investitionen” nicht mehr anzusehen sind).

Der rätselhafte Fetisch, der seinen „Wert” vergangenen „Leistungen” verdankt, die der Zeit, der „Lebenszeit” bedurften, hat folglich alle Zeit – im Sinn der Hegelschen Redeweise – aufheben, sie also zugleich vernichten und bewahren können. Das ist der Grund, weshalb es sie – ähnlich den Fichteschen Kategorien – zu jedem beliebigen „Zeitpunkt” wieder „aus sich hervorgehen lassen” kann in der verwandelten Gestalt, der ihre Herkunft nicht mehr anzusehen ist. Vorauszusetzen ist also auch fürs Geld, daß es sowohl Vergangenes als Künftiges – also das, was sich in ihm sedimentieren lassen konnte und das, was wir künftig damit (oder daraus) machen werden – stillschweigend in den beiden Kategorien abgelagert hatte, die wir „Vergangenheit” und „Zukunft” nennen, – und daß es sie dort bereithält für einen ganz bestimmten „Zeitpunkt”, für den Zeitpunkt nämlich, an dem es Vergangenheit und Zukunft „zusammenstoßen” lassen wird an der aleatorischen Grenze, an der „der Funke springt”, das Geld wieder ausgegeben (angewendet) wird. Im Gebrauch, in der Ausgabe des Geldes, die bekanntlich in jeden beliebigen „Zeitpunkt” fallen kann, beziehen wir aus der Vergangenheit, was es deponieren konnte, und investieren wir in die Zukunft, was wir damit zu machen willens sind. Nicht zufällig ist das Geld stets actualiter verfügbar. Es hat die bestimmte Zeit, die in ihm versteckt ist, in unbestimmte (disponible) Zeit übertragen, so daß die Zeit zur Menge werden konnte, zu einer Art von kategorialem „Möglichkeitsbehälter”, aus dem sich auch in Zukunft „schöpfen” lassen kann.

Geld schleppt ein altes Schuldverhältnis weiter, es auf eigentümliche Weise profanierend. Entstanden im 7. vorchristlichen Jahrhundert in den Pflanzstädten des antiken Griechenland, am kleinasiatischen Ufer (in Lydien?), hat es zwar eine lange Reihe antiker und neuzeitlicher Metamorphen durchlaufen, lässt aber bis heute zwei charakteristische Merkmale erkennen: das Schuldverhältnis und das Abstraktionsverhältnis. Es ist ein Abkömmling der griechischen Naturphilosophie, in der wir – mit Klaus Heinrich – vor allem den technologischen Ansatz sehen dürfen, zu dem demnach auch die Geldabstraktion gehört. Sie ist in erster Linie Technik, deren Ziel es offenbar gewesen ist, die Güterverteilung, ursprünglich das Privileg der Aristokratie, auf demokratische Weise zu regeln, die genealogischen Ketten gewissermaßen zu durchschneiden, längs derer die Güter, der Besitz weitervererbt (weitergegeben) worden waren. Das würde den „momentanistischen” Effekt der Geldabstraktion (die relative „Zeitlosigkeit”) erklären. Die Geldbeziehung steht quer zu den geschichtlich-genealogischen Beziehungen.

Die „technologische Profanation“ des alten Schuldverhältnisses hat dieses eigentümlicherweise nicht abgeschwächt, gemildert oder relativiert (vielleicht hat sie es sogar verstärkt). Der superiore der beiden Vertragspartner, der Geldgeber, der „Gläubiger“ – schon der Name sagt das ja – setzt sich der Idee nach an die Stelle des Schöpfers, der das Leben lediglich verleiht, der Opfer dafür fordert („Zinsen“) und es schließlich, einem „unerforschlichen Ratschluß“ zufolge, wieder zurücknimmt. Die Spuren des urtümlichsten der Schuldverhältnisse lassen sich bis hin zum säkularsten, „modernsten“ der Schuldverhältnisse erkennen. In gewisser Weise setzen sie es fort, sind ähnlich „geisterhaft“, stützen sich – zumindest solange sie leidlich eingehalten werden – auf keinerlei äußeres Gewaltverhältnis, sind ähnlich schwer zu fassen, ähnlich rätselhaft. Eine lange Gewohnheit, eine lange Reihe unmerklicher Übergänge scheinen dazu geführt zu haben, daß im profanen Schuldverhältnis das uralte heilige – in immer wieder anderer Gestalt – mehr oder weniger erhalten bleiben konnte. Sie teilen ja nicht nur die rätselhafte „Spiritualität“ mit ihm (die sozusagen nur in den Köpfen existiert), sondern auch die Verbindlichkeit.

Neben das physische war ein psychisches Zwangs- und Abhängigkeitsverhältnis getreten, neben die traditionelle Territorialherrschaft eine rudimentäre Temporalherrschaft. Das Verhältnis beider wird sich in den kommenden Jahrhunderten immer wieder neu und anders arrangieren, es wird Kompromisse eingehen, sie wieder kündigen, in den „Untergrund“ gehen, zur Korruption einladen usf. Grob lassen sich zwei manifeste Schübe des „Vormarschs“ unterscheiden, den die Geldwirtschaft („Temporalherrschaft“) genommen hat, der erste in die griechisch-römische Antike fallend, der zweite in die neuzeitliche Aufklärungsperiode. Der immense Zeitraum von rund tausend Jahren, das sog. „mittlere Alter“ (Mittelalter) zwischen der antiken und der neuzeitlichen Ära trennt sie. Es wird den Kampf um die Hegemonie der beiden „Herrschaftsformen“ nicht allein fortsetzen, es wird ihn auf eigentümliche, leidenschaftliche Art verschärfen. Die Botschaft des Gottessohnes Jesus Christus ist eindeutig. Sie schließt die Hegemonie der Geldwirtschaft aus.

Soweit damit ein „Tabu“ verhängt worden war, das seine Kraft aus einer religiösen Quelle schöpfte, könnte es im Laufe der Zeit allerdings auch zu heimlichen Übertretungen eingeladen haben, zum heimlichen Bündnis mit der Gegenmacht (dem „Teufel“). Die Ausstrahlung scheinbar unangreifbarer Tabus ist stets zwiespältig. Auch die amtliche Dogmatik war nicht zu allen Zeiten „eindeutig“ oder verstieg sich sogar, und zumal in ihrer Spätzeit, zu so „surrealen“ Paradoxien wie den Ablasshandel. In der Handelsmetropole Florenz wurde Gottvater gelegentlich ein eigenes Konto eingerichtet (das er offensichtlich niemals beanspruchte, so daß es sich grenzenlos vermehren konnte). Auch Kompromisse zeigten sich früh, so etwa in der Lehre des Thomas von Aquin (der nicht zufällig aus italienischem Hochadel stammte). Sie ließ den fluchbeladenen „Wucherzins“ teilweise wieder zu. Nicht zu übersehen war außerdem der Hang zum Luxus, wo nicht zu den Lastern der “Völlerei“ und „Hurerei“, denen sich zu gewissen Zeiten der Klerus hingab, oft in erstaunlicher Unbefangenheit.

All das könnte zu der eigentümlichen Entwicklung beigetragen haben, die die Geldwirtschaft“ („Temporalherrschaft“) im christlichen Europa (und christlichen Amerika) schließlich nehmen sollte. Zwar blieb die historische Form der alten Territorialherrschaft dem Anschein nach erhalten, war aber schließlich nicht mehr unabhängig – und zuletzt gar manifest abhängig – von Geldwirtschaft und Kapitalbildung. Noch scheute der neue, ungekrönte Souverän das Licht, noch war er vorwiegend im „Untergrund“ tätig, dort aber umso effizienter. In gewisser Weise hat sich dies Verhältnis ja bis heute durchgehalten: oberirdisch die illüsten Bauten der Nationalstaaten, unterirdisch das „invisible hand in hand“ der Geldwirtschaft, das sie am Leben erhält.

Mehr und mehr dürfte sich der „Souverän“ im „Seelenhaushalt“ der Menschen – und zumal der Mächtigen – eingerichtet haben. Gewissermaßen rächte er sich dafür, daß ihm die „Krone“ bisher vorenthalten worden war. Den alten Unsichtbaren Gott (mit dem er die „Unsichtbarkeit“ ja teilte) teils verdrängend, teils ersetzend, trat er auf seine Art – auf dezente, unscheinbare Art – die Herrschaft an.

Dem antiken Menschen wäre diese Herrschaft noch als Perversion erschienen. „Denn die Geborenen sind den Erzeugern ähnlich, der Zins aber ist Geld von Geld, so daß von allen Gewerbszweigen dieser der naturwidrigste ist,“ lesen wir bei Aristoteles (20), der bereits beobachtet hatte, daß der Trieb zur Reichtumsmehrung an keine feste Grenze mehr stoßen kann (als solcher also tendenziell „unendlich“ ist). Und hatten sich noch Shakespeare (etwa im Timon von Athen), Erasmus von Rotterdam oder Thomas Morus in der Rolle des Ankläger gefallen, der die mittelalterlich-christliche Tabuisierung des Geldes mit neuen (säkularisierten) Argumenten versorgte, so stellten sich ab der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert schon die ersten Apologeten ein, darunter zum Beispiel Voltaire (der sich über die „Fluchwürdigkeit“ des Mammon nur noch lustig gemacht zu haben scheint). Gewöhnung, Resignation, das heimliche oder offene Einverständnis, die heimliche oder offene Reichtumshäufung bis zu – selbst für heutige Verhältnisse – märchenhaften Höhen, all das spricht für eine Form der Verdrängung (bzw. Verleugnung), die zu einer eigentümlichen „Halbbewusstheit“ geführt zu haben scheint (Hörisch). Zu diesem eigentümlichsten der „Verdrängungsprozesse“ könnte allerdings auch beigetragen haben, daß das calvinistische oder anglikanische Glaubensbekenntnis den alten Fluch über die Reichtumsmehrung kurzerhand in einen Segen umgedeutet hatte.

Daß die eigentümliche Form der Sozialisierung, die das Geld verheißt, paradox an ihre Aufhebung geknüpft ist, im gleichen Atemzug also wieder zurückgenommen wird, hat jedoch nicht allein das neue, äußere Manöverfeld eröffnet, auf dem mehr oder weniger nun wieder „Naturverhältnisse“ eingeführt werden konnten (the „survival of the fittest“), sondern auch ein inneres und „innerliches“, das am Selbstverhältnis der Menschen rütteln mußte, an ihrer Sichselbstgleichheit, „Identität“. Sie sind ja nunmehr zwei Forderungen konfrontiert, die einander widersprechen, ja ausschließen, denen sie sich jedoch nicht entziehen können: sich mit allen Menschen zu verbinden oder zu verbünden, indem sie sich von allen Menschen trennen oder isolieren. Das Geld besorgt (fordert) ja beides, und beides ist untrennbar, eins die Bedingung des andern. Der eine Appell richtet sich an unser Geselligkeitsbedürfnis, er schließt uns in die menschliche Gemeinschaft ein, der andere an unseren Egoismus („the survival of the fittest“), er schließlich uns aus der menschlichen Gemeinschaft aus. Einerseits öffnet uns der Reichtum alle Türen, andererseits verschließt der Reichtum alle Türen, sobald sich ein „Unbefugter“ nähert. Timon von Athen (der Held in Shakespeares Stück) ist reich und freigiebig, in seinem Hause tummeln sich die Freunde; aber sein Reichtum ist nicht unbegrenzt, und kaum ist er ihm ausgegangen, da verschwinden die Freunde wie ein Spuk.

Als Gregory Bateson und die Schule von Palo Alto den Gründen für die familiäre Schizophrenie nachspürten, stießen sie überraschend auf ein reiches Arsenal sog. Beziehungsfallen, die gleichwohl alle nach demselben Modell gebaut sind. Sie prägten dafür den Ausdruck double bind, das zwei widersprüchliche, einander ausschließende Forderungen von gleicher Unausweichlichkeit verknüpft. Eine Mutter fordert von ihrer Tochter die Selbständigkeit einer unabhängigen „Erwachsenen“, tut jedoch heimlich, unbewusst und unwillkürlich alles, um diese Forderung zu sabotieren. Entsprechend widersprüchlich sind die Vorwürfe, die sie an sie richten kann. Die Unabhängigkeitsbestrebungen (die Tochter kommt zu spät nach Hause) deutet sie als Lieblosigkeit, die Anhänglichkeit als Unselbständigkeit. Ergebnis: die Tochter wird schizophren.

Tendenziell begegnen wir hier demselben Einschluß-Ausschluß-Schema wie in der Selbstbeziehungsfalle, die der Geldcode erheischt: „Einschluß“ ist nur über „Ausschluß“ möglich, „Sozialisierung“ nur über „Desozialisierung“. Am Ende können sich daher durchaus auch zwei Wesen gegenüberstehen, die einander fremd sind, zwei Wesen in Personalunion (von denen eines sich jetzt natürlich auch abspalten und auf einen veritablen Fremden übertragen (projizieren) lassen kann). Dieser Zweite, Fremde oder Feind – „every man is Enemy to every man,“ hatte es noch bei Thomas Hobbes geheißen – hat sich nunmehr in der individuellen Seele selbst erhoben, ist aber nicht schlechterdings ihr eigenes Produkt, sondern gleichsam der Agent, der „Außenminister“ ihrer auswärtigen – ihrer monetären – „Angelegenheiten“. Vergessen wir nicht: die Geldbeziehung ruht auf einer rationalen (rechnerischen) Grundlage, sie bedarf der „Buchhaltung“, die Sozial- oder auch Intimbeziehungen (zu denen auch die Selbstbeziehungen gehören) ruhen dagegen auf einer irrationalen (emotionalen) Grundlage. Der Widerspruch kehrt ja bereits in den eigentümlichen „Direktschaltungen“ wieder, die sich zwischen Kalkül und Bedürfnis („Begierde“) herstellen lassen (oder die sich vielmehr selbst herstellen). Der Feind sei, sagte Carl Schmitt, seine „eigene Frage als Gestalt“. Bekanntlich fragte er nicht lange, sondern extrapolierte den Feind, schrieb ihn fest als Kategorie, ein festes, „brauchbares“ Freund-Feind-Schema errichtend.

Benjamin Nelson dagegen schrieb (und meinte das begütigend-positiv): „In modern capitalism are all the brothers, in being equally ‚others’. “Der Andere ist der Bruder, und der Bruder ist auch nur ein Anderer.“

So ist es. Und weil der Bruder oder Freund „auch nur ein Anderer“ ist, sind wir dieser „Andere“ auch selbst, haben wir uns gespalten in die sprichwörtlichen beiden Seelen, die eine einzige Brust bewohnen. Was bereits Goethe gewusst hat, ist offenbar vor allem deshalb so schwer einzusehen (zu „verkraften“), weil es uns an einer Metasprache fehlt, die beide Forderungen als pathogenen Widerspruch erkennen und uns – vielleicht – dazu bestimmen könnte, nach Lösungen zu suchen, die nicht innerhalb, sondern außerhalb der Geltungsgrenzen dieses Widerspruchs liegen.

Wer ist nun aber in Wahrheit dieser „Andere“? Er geht, er kommt, ist einmal draußen, einmal drinnen, begegnet uns als „Fremder“, „Feind“, als Doppelgänger unserer selbst. Wahrscheinlich wäre es zu einfach, ihn als Agenten oder Geheimagenten unserer „außenpolitischen“ Geschäftstätigkeit (und -fähigkeit) zu identifizieren. Vielmehr neigt er zu „Ausweichmanövern“, wie es scheint, gibt sich nicht gern zu erkennen, wechselt die Gestalten wie der Teufel, dem wir in Thomas Manns Roman Doktor Faustus begegnen. Anscheinend wünscht er selbst nicht schlechterdings zu sein, der er ist, sondern seinerseits „ein anderer“, ein „Gegenspieler“ seiner selbst. Hat der Spaltungsprozeß erst einmal eingesetzt, wird sich das Versteckspiel, Maskenspiel so leicht nicht mehr beenden lassen. Je est uns Autre, bekundete der Poet Arthur Rimbaud. Jochen Hörisch kommt in seinem Beitrag zu diesem Buch – der eine Novelle Gottfried Kellers über die Mehrdeutigkeit der Geldbeziehungen behandelt – angesichts einer Versammlung von Literaten zu dem Schluß: „Jeder ist ein ander, als er zu sein scheint; jeder heißt anders, als in seinen Ausweispapieren zu lesen steht; und jedem geht es um etwas anderes, als er vorgibt.“

„Geld synthetisiert,“ sagt derselbe Hörisch, „(…) die unterschiedlichsten Ich-Zustände zu einem transzendentalen, sich gegenüber ‚Objekten’ und anderen Subjekten distinkt ‚setzenden’ Subjekt.“ Oder in „A. Sohn-Rethels provokanter Formulierung: Das Transzendentalsubjet – sprich: die „transzendentale Subjektivität“ Kants (W.K.) – ist in der Waren bzw. Geldform versteckt.“

Mit anderen Worten: wir haben bereits das klassische historische „Subjekt“ als ein Substrat unsichtbarer Prothesen, Ersatzglieder usw. zu betrachten. Es organisiert seine Ich-Zustände nach einem „Schema“, dem es sich in Wahrheit angeschmiegt, will sagen: subaltern gefügt hat. Es simuliert die von Kant geforderte „Einheit des Bewusstseins“ im vollen Bewusstsein ihrer faktischen (und praktischen) Unhaltbarkeit (die doch schon von David Hume, der „Promotor“ Kants, nachgewiesen worden war).

Geld als „Zweitcodierung“, wie Hörisch formulierte, als die „universale Simulation“, die ich für „bare Münze“ nehmen muß, wenn ich nicht unter die Räder kommen will. Der „Einnehmende“, der “Ausgebende“ als „ausführendes Organ“, willfähriger Agent eines unpersönlich-megalomanen Mechanismus, der seinen Treibstoff aus dem zerstörten oder verworfenen Erbe bezieht, das er „vergessen“ durfte. Geld als gemünzte Vergesslichkeit, die fortschreitende Entwertung seit dem späten Mittelalter das unfreiwillige Reversbild von Verwerfung, Zerstörung, Verschleuderung unzählbarer materiellen Güter. Würden wir die überall herumstehenden Ruinen der aufgelassenen Industriegebiete Europas oder Amerikas zum Erzählen einladen, wie wir es tun mit den antiken Ruinen, sie würden uns aller Wahrscheinlichkeit nach einen enormen Katalog verschwendeter, verworfener, vergessener, vergeblicher Arbeit präsentieren (von der wir nichtsdestoweniger zum Teil bis heute profitieren).

Geld ist, um das hier abschließend zu resümieren, reine Verfügung über Zeit – genauer: Lebenszeit – die uns über die Voraussetzungen und Bedingungen dieser Verfügung im Dunkeln lässt. Als reiner Möglichkeitsbehälter, der jeweils actualiter – sprich: jederzeit – Verwirklichung versprechen kann, den umstandslosen Umschlag ins palpable Haben, kann er abstandslos, gleichsam im Nahverkehr, mit der Triebssphäre korrespondieren. Die im Geldfetisch sedimentierte „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ hat das real Vergangene oder Künftige in abstrakte (kategoriale) Quanta übersetzen und ein Depot von ihnen anlegen können, aus dem sie jederzeit (in beliebiger Menge) wieder abgerufen werden können. Der Abruf ist gleich dem „Zeitpunkt“, der die (verborgene) „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ wieder aktualisieren („an den Tag bringen“) bringen kann.

 

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Wolfgang Kaempfer :
Das Geldverhältnis
(Ein Abstrakt)

 

Meine Intervention schlieβt an meinen Beitrag Intériorisation du code monétaire  im Dictionnaire critique de la mondialisation (Paris 2006) an. Diesmal versuche ich die Annäherung an die monetäre Form der Sozialisation (Desozialisation) über die Zeit. Im Geldcode ist ja die Investition an Arbeitszeit/Leistungszeit versteckt, die in ihn eingegangen ist, ohne daβ ihm das anzusehen wäre. Wie geht diese Investition in Wahrheit vor sich? Was müβte ihr vorangegangen sein? Was ist die „Bedingung ihrer Möglichkeit“?

Antwort: die Kategorisierung der Zeit. Die Zeit wurde (im deutschen Sprachraum gegen Ende des 18. Jahrhunderts) in die beiden Kategorien Vergangenheit und Zukunft aufgespalten. Zuvor hatte sich stets angeben lassen müssen, was als vergangen oder künftig angesehen wurde: ein vergangenes (oder künftiges) „Zeitalter“, eine „Epoche“, eine bestimmte, zeitlich eingegrenzte Periode. Mit der Kategorisierung (Neutralisierung) von „Vergangenheit“ und „Zukunft“ konnten beide künftig wie Behälter funktionieren, in denen sich das realiter Vergangene oder Künftige gleichsam „deponieren lassen“ konnte – um bei Bedarf (und das heiβt im Grunde: jederzeit) wieder „abgerufen“ zu werden.

Schon Herder war sich bewusst, in einer Epoche zu leben, die durch die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ charakterisiert ist (sprich: durch die mit der eigenen Kultur ungleichzeitigen Kulturen der Gegenwart oder auch Vergangenheit). Die Frage ist, ob die neue, eigentümliche Fähigkeit, eine beliebige (vergangene oder künftige) Epoche mit dem neu entstandenen geschichtlichen Bewusstsein – auch das Kollektivsingular Geschichte entsteht erst im letzten Drittel des 18.Jahrhunderts – gleichzeitig werden zu lassen, also seinerseits gewissermaβen nach Bedarf „abrufen“ zu können, im Sinne der modernen „Historiographie“, nicht ursprünglich an der Praxis abgelesen worden ist, die der Geldcode erheischt hatte, seit er zum zentralen Sozialisierungscode aufgestiegen war. Wie das neue, neutralisierte Geschichtsbewusstsein, la nouvelle philosophie de l’histoire, wie bereits Voltaire formuliert hatte, setzt offenbar auch der Geldcode voraus, daβ Vergangenes und Künftiges (die in ihm sedimentierten vergangenen und die zu erwartenden künftigen Leistungen) zu Kategorien aufgestiegen sind, die wie neutrale Behälter (für diese Leistungen) funktionieren können. Auch im Geld kann auf diese Weise das Ungleichzeitige gleichzeitig  werden, die Kategorie „Vergangenheit“, wenn ich es wieder ausgebe, in die Kategorie „Zukunft“ umschlagen.

 

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