HAJO
EICKHOFF
Der Geschmack des Design
Kriterien des guten Geschmacks
(Essay)
I. Die Natur
1. Der Geschmack der Natur
Welt ist Natur. Ursprünglich. Das Sein von
Mineralien, Pflanzen und Tieren. Dinge, Gegenstände, Objekte kennt die Natur
nicht. Erst mit dem Menschen betritt aus dem Natur- und Tierreich heraus ein
Lebewesen die Welt, das Kultur schafft – einen Entwurf gegen die Natur, eine
Gegenwelt der Dinge und des Geistes.
Die Natur kommt zum Menschen durch die
Sinnesorgane. Durch Nase und Auge, durch Tastorgan und Schmerzsinn, durch
Tiefensensibilität, Ohr und Zunge. Die Elemente der Natur, die potenziell
Nahrung sind, werden mit dem Geschmackssinn geprüft – dem Zusammenspiel von
Zunge, Gaumen und Nase. Die Prüfung gilt der Verträglichkeit und der
Bekömmlichkeit. Nahrung ist verträglich, wenn sie nicht giftig ist, bekömmlich,
wenn sie nicht giftig ist und darüber hinaus Energie liefert und Nährstoffe
enthält. Einen guten Geschmack hat Nahrung, wenn sie das Geschmacksorgan
erfüllt, was von unterschiedlichen Kriterien abhängt, bei denen Tradition,
Gewohnheit und die Differenziertheit (Feinheit) des Sinns eine Rolle spielen.
Alles von Menschen Hergestellte ist ein
Ding. Keine Natur, sondern umgeformter Naturstoff. Gestaltung. Design. Ding und
Design sind untrennbar, von Anbeginn an, denn der Mensch ist ein Wesen der
Gestaltung, das seinen Erzeugnissen eine Gestalt gibt und nur geben kann. Kein
Ding ohne Design.
Wie die Naturstoffe kommen auch die Dinge
zum Menschen durch die Sinnesorgane. Sie sind die Einfallstore für Materialität,
Qualität und Design der Dinge.
Ding und Natur werden durch den Geist
bearbeitet, der die wahrgenommene Natur und die wahrgenommenen Elemente
Materialität, Qualität und Design der Dinge bearbeitet. Er
begleitet die Sinneswahrnehmungen nicht nur, sondern gibt ihnen eine den
Menschen angemessene Struktur. So wird der Geschmack aus den Komponenten
Naturstoff, Ding, Geschmackssinn und Geist erzeugt und als
Norm an nachfolgende Generationen weitergeben, so dass jede Kultur und jede
Kulturphase eine eigene Welt des Geschmacks erhält, die im Speiseplan und in
typischen Dingen ihren Ausdruck findet.
Der Mensch wird durch die Natur
erzogen, gebildet, verändert, indem er sie hört, sieht, ertastet, schmeckt, sich
einverleibt und erkennt. Mit der Umwandlung der Natur in eine Dingwelt gewinnen
auch die Dinge Einfluss auf den Menschen, indem sie seine Sinne, sein Denken und
Fühlen modifizieren und sein Wissen und Können erweitern.
Das macht einerseits deutlich, dass der
Geschmackssinn über Leben und Tod entscheiden kann und für das Überleben eine
große Bedeutung hat, andererseits wird verständlich, wie der Geschmack zu einem
Begriff für alle anderen Sinne und zu einer Metapher für Kultiviertheit und
Bildung werden konnte. Seitdem spricht man einem Menschen, der wohltuende
Wahrnehmungen wie wohlklingend, wohlanfühlend, wohlriechend, wohlhandelnd und
wohlurteilend als ein Wohl erkennen und wahrnehmen kann, guten Geschmack zu.
Anwendungsbereiche des guten
Geschmacks sind Mode und Möbel, Nahrung und Architektur, Werke der Kunst und
Gebrauchsgüter aller Art. Guten Geschmack haben bedeutet, sicher durch diese
Welten zu gehen. Durch die Welt der Nahrungsmittel ebenso wie durch die Welt der
Sinne, des Geistes und die Welt des Design. Guten Geschmack haben heißt
vertrauend gehen, sicher urteilen, gut in der Welt wohnen.
2.
Natur und Design
Die moderne Warenwelt ist eine
unermessliche Ansammlung von Objekten. Von Dingen und Design. Unüberschaubar.
Chaotisch. Verunsichernd. Geräte und Maschinen, Medien und Werkzeuge, Apparate
und Aggregate. Sie finden sich in Schaufenstern, auf Bühnen und in Auslagen und
warten darauf, gekauft und verbraucht zu werden. Wie locken und verführen sie
die Menschen? Unter welchen sachlichen, geistigen und moralischen Bedingungen
gelangen die Massen an Gütern zu den Massen von Menschen? Gibt es Kriterien,
Merkmale und Unterscheidungszeichen, nach denen Güter geprüft und ausgewählt
werden.
Es ist Aufgabe der Gemeinschaft –
der Schule, Eltern und beruflichen Einrichtungen –, jungen Menschen die
Fähigkeit zu geben, aus dem immensen Güterangebot das Geeignete auswählen zu
können, denn für die Entwicklung des Menschen ist es von grundlegender
Bedeutung, mit welchen Dingen er aufwächst – mit Gütern wie Teekannen und
Radios, Pinseln und Automobilen, Lampen, Tischen und Ohrringen, Tassen, Kleidern
und Zitronenpressen, Füllfederhaltern und Computern, Hemden und Maschinen,
Brillen, Schuhen und Handtaschen, Mobiltelefonen und Stühlen, Büchern,
Rasierklingen und Hüten. Doch gegenwärtig tragen diese Institutionen wenig zur
Ausbildung des guten Geschmacks bei, denn sie schaffen keine Alternativen dazu,
dass die Medien die Sinne überfrachten, begrenzen und abstumpfen. Abgestumpfte
Sinne führen zur Geschmacklosigkeit und wer nicht schmecken kann, keinen
Geschmack hat, gilt als stumpfsinnig.
Von größerer Bedeutung für den Menschen
ist, mit welcher Qualität der Objekte des Nutzens und der Lust er aufwächst und
mit welchem Design. Die Güter der modernen Welt sind größtenteils Massenprodukte
von schlechter Qualität und schlechtem Design – Mittelmäßigkeit, die
desorientiert. Die Desorientierung wird dadurch verstärkt, dass viele Güter
nicht nur in zahllosen Marken und von derselben Marke in mannigfachen
Güteklassen vorkommen, sondern dass sie in einem Tempo weiterentwickelt werden
und innerhalb eines Jahres ein halbes Dutzend Varianten nach sich ziehen, dass
ein permanenter Innovationsdruck besteht, der die Produkte einem hohen
moralischen Verschleiß unterwirft: Sie sind nicht verbraucht und funktionieren
noch, werden aber nicht mehr geliebt, weil Marketing und Medien permanent
Bedürfnisse nach aktuelleren, moderneren und leistungsfähigeren Erzeugnissen
wecken. In der Situation erhebt sich die Frage nach den Kriterien, nach denen
Menschen ihre Wahl treffen. Treffen könnten oder sollten, denn gutes Design hat
eine grundlegende individuelle, gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung.
3.
Wie Produkt und Design in die Natur gelangen
Dinge sind grundsätzlich Produkte.
Erzeugnisse des Menschen. Sie sind das mit der Hand aus der Erde
Hervor-geführte, das Pro-ducere – hervor (pro) und führen (ducere). Mit der
Umwandlung der Natur durch die menschliche Hand beginnt die Evolution der Dinge
und mit ihr die Evolution des Design. Das der Natur Entnommene, Entführte
gehörte einst den kosmischen Mächten und musste sorgsam behandelt werden. Es war
dieses sorgfältige Produzieren, das die Dinge in den Rang des Kostbaren erhob.
Vom schonenden Umgang mit der Natur leitete sich das Schöne ab, denn die
Schönung der Dinge war die Schonung der Natur. Schönheit und Schonung sind noch
heute Ausdruck des guten Geschmacks, der die ursprüngliche und Schutz gebende
Weise des Menschen war, in der Natur zu sein und mit ihr umzugehen.
Da jedes von Menschenhand erzeugte Produkt
immer Gestalt hat und Form, ist es immer auch Design, das so alt wie Ding und
Produkt und damit so alt wie die Menschheit ist. Design lässt sich eingliedern
in den Willen, den Zwang und die Lust des Menschen zur Gestaltung.
II. Das Design
4. Der Kern des Design
Design ist Produkt und Produkt Design. Nur
eine jeweils andere Seite derselben Sache. Es ist das Bemühen, Naturstoff durch
Menschenhand Funktion, Qualität und Gestalt zu geben.
Dass Produkte Design sind bedeutet, dass
sie durch die Sinne wahrnehmbar und damit in Raum und Zeit gegeben sind, denn
alles Raum-Zeitliche hat Gestalt und Ästhetik, worauf das griechische Wort
aisthesis hinweist. Ästhetik war zuerst die Lehre von der sinnlichen
Wahrnehmung, später die Lehre vom Schönen, in der die Gesetzmäßigkeiten, die
Proportionen und die Harmonie der Naturformen sowie die Formen der Dinge und der
Kunst erörtert wurden.
Design ist Kultur. Ist das, was der Mensch
aus der Natur schöpferisch hervorbringt – Dinge, Formen und Geist – und das, was
er der Natur entgegenstellt als Gegenstand, Ding, Gebilde.
Design ist Zeichnung, Plan und Idee. Ein
geistiger Entwurf von etwas, das realisiert werden soll.
Design ist gute Form, gute Funktion, gutes
Material und guter Umgang mit den im Produkt verwendeten Materialien. Das Gut
bezieht sich auf das, was den Menschen durch die Sinne hindurch innen berührt:
was das Gefühl positiv stimmt und den Geist anregt. So sind im Design Ethik und
Ästhetik, das Gute und das Schöne, Philosophie und Politik, Ökonomie und
Ökologie miteinander verknüpft.
Design entsteht als inneres Design. Denn
Objekten, Zeichnungen und Entwürfen liegt eine Idee zugrunde. Bevor aber Ideen
auf Papier und Bildschirm als Design realisiert werden können, muss Design im
Gestalter angelegt sein, so dass Design ein Hin- und Herausstellen ist von etwas
aus der Mitte des Menschen – die Idee oder das innere Design des Gestalters.
Design als Prozess ist ein inneres
Geschehen. Ein Vorgang des Suchens, Findens, Entwerfens, Verwerfens, neu
Findens, Erfindens, Gestaltens und Realisierens. Gestalter müssen deshalb
Forscher der Sinne sein, deren Talent in einer feinen Differenzierung der
eigenen Sinne beruht. Ihre Begabung und ihr guter Geschmack liegen in der
Fähigkeit der offenen und zugleich differenzierten Sinne. Ihr Können liegt
darin, dass sie Sinnlichkeit, Verstand und Gefühl in die Schemata der Produktion
einführen und die emotionalen mit den rationalen Strukturen verbinden. Das macht
den guten Geschmack des Menschen zu einer Lebenshaltung, zu einem Lebensdesign.
In dem Sinne ist der gute Geschmack ein Meta-Sinnesorgan, das alle Sinnesarbeit
des Menschen und sein Wissen in einem Geschmack, dem guten Geschmack verdichtet.
Mit dem gestalteten Produkt entlässt der
Mensch eine sinnliche und geistige Differenziertheit in die Welt, die es bis
dahin nicht gab. Als Gestalter passt er die Welt mit Kultur schaffender
Phantasie seinen Wahrnehmungsmöglichkeiten an. Design ist die Realisierung
dessen, was in der Welt als Möglichkeit steckt und bis dahin verborgen war.
Deshalb ist Design Veränderung. Es
verändert die Welt ebenso wie Nutzer und Gestalter, denn indem der Mensch neue
Funktionen ausübt und seine Sinnesorgane neue Formen wahrnehmen, wird er vom
Design beeindruckt und bleibend verändert – Design ist ein wesentliches Medium
der Kulturentwicklung.
5. Das gemeinsame Wirken von Produkt und
Design
War das Prinzip, Natur in Dinge und
Produkte umzuformen, einmal verstanden, ergaben sich immer feinere Verfahren.
Einerseits waren die Produktionsverfahren eine Aneignung der Natur, andererseits
ein Prozess der Kultivierung, in dem der Mensch sein Wissen sammelte und seine
Produktionsfertigkeit über Jahrtausende differenzierte. Dieses unablässige
Umformen und Gestalten von Naturstoff ist Kultivierung, sein Produkt Design.
Im engeren Sinn beginnt die Karriere des
Begriffs Design mit der Industriefertigung und dem Versuch, die
Formgebung nicht dem Algorithmus einer Maschine zu überlassen, sondern den
Produkten durch die Kreativität des Menschen ein eindrucksvolles
Erscheinungsbild zu geben, das über die Funktion des Gegenstandes hinausweist.
Im unablässigen Umformen von Naturstoff und
Ausdehnen der Dingwelt wird die Natur nach und nach mit Dingen vollgestellt, bis
das Ausweiten und Auftürmen von Dinglichem und das ununterbrochene Erzeugen von
Design Gesellschaften in hoch differenzierte, technische Welten verwandelt
haben, in Dingwelten, die als eine Art Natur angesehen wurden – als zweite
Natur. Dieser Jahrtausende währende Kultivierungsprozess hat die modernen
Menschen mit verfeinerten Sinnesorganen, einem tiefen Unterscheidungsvermögen
und einem enormen Können und Wissen ausgestattet. Eine Aufgabe des Design
besteht darin, diese Feinheiten zu erhalten, zu überliefern und Angriffe auf die
Differenziertheit der Sinne abzuwenden.
Es war ein Fortschritt, dass mit dem Beruf
des Industriedesigners die Gestaltung von der Produkterzeugung getrennt wurde,
denn die Produkte erhielten ein besseres Aussehen und eine bessere Qualität. In
der Folge wurde deutlich, dass alles Menschengemachte Design ist, so dass sich
das Design differenzierte und sich neue Tätigkeitsbereiche ergaben. Neben
Industrie- und Produktdesign, Grafik-, Möbel und Modedesign entstand Design für
Fotografie und Kommunikation, für Schmuck und Wissen (Darstellbarkeit und
Kommunikation von Wissen), etablierten sich Warteschlangendesign und
Lebensdesign, Audio-, Körper- und Psychodesign (Wie ein Produkt auf den Nutzer
wirkt) sowie Prozess-, Öko- und Webdesign. Mit der Aufwertung hat sich Design im
Rahmen der Ästhetik zu einem Begriff geweitet, der das Dingliche und Formale
ebenso umfasst wie das Geistige und Virtuelle. Das älteste Design einer
Gesellschaft sind Rituale.
Die Kehrseite des unablässigen Kultivierens
und Verfeinerns der Sinne bei gleichzeitiger Mechanisierung des Lebens und
zunehmender leiblicher Unbeweglichkeit hat den modernen Menschen den
natürlichen, guten Geschmack genommen, ihn unsensibel und in seiner
Kommunikation unsicher, spröde und zerbrechlich gemacht. Der Prozess hat aber
nicht nur den Menschen gebrochen, sondern der Mensch hat auch begonnen, die
Natur in großem Ausmaß zu zerstören.
Weitsichtig hat der französische Ingenieur
Jean Prouvé gesagt, dass die Gestaltung der Welt das größte Problem unserer
Epoche ist und von seiner Lösung unmittelbar das Schicksal der Menschheit
abhängt. Das bedeutet, dass die Menschen die Vorteile der Differenzierung des
Design nutzen müssen und die Arbeit der Designer gleichzeitig eingebunden werden
muss in die Prozesse von Ökologie und Politik, von Moral und Ökonomie. Darin
liegt ein Sinn der Ausbildung des guten Geschmacks und des guten Design.
6. Design und Nachhaltigkeit
Immer häufiger entwickeln Menschen Projekte
nachhaltigen Produzierens, versuchen, gutes Design hervorzubringen und guten
Geschmack zu bilden. Gleichrangig wird neben dem Interesse an guter Gestaltung
gefragt, welche Stoffe zur Produktion eines Gutes verarbeitet, welche Verfahren
durchgeführt, welche Menge Natur für einen bestimmten Nutzen verbraucht und wie
viel Energie für ihn aufgewendet werden. Gefragt wird auch danach, was getan
werden muss, um die Gesellschaft so zu gestalten, dass nachfolgende Generationen
eine lebenswerte Welt vorfinden. Daraus haben kritische Gesellschaften,
Unternehmen und Personen Konsequenzen gezogen und Ideen zur Deproduktion, zur
Entschleunigung und zur Nachhaltigkeit entwickelt, und die Wirtschaft motiviert,
sich auf nichtstoffliche Produkte wie Dienstleistungen und virtuelle
Erzeugnisse, wie Kultursponsoring und Bildung einzulassen – auf ein
modifiziertes und differenziertes Gesellschaftsdesign.
Das Feld von Design und Produkt ist
gegenwärtig so komplex, dass Serviceleistungen und Informationen über die
natürlichen, kulturellen und kommunikativen Merkmale eines Produkts immer
häufiger bereits als Eigenschaften des Produkts angesehen werden. Wenn Gestalter
des guten Geschmacks mit ihrem Design bei ihren Rezipienten und Nutzern guten
Geschmack ausbilden wollen, müssen sie das bedenken und zugleich beachten, dass
Design eine Sprache ist, die die Sinne auf das Heute richtet, und Design zu
einer Politik und Moral der Dinge werden muss, um auf die gegenwärtige Zeit
reagieren zu können. Sprache, auch die Designsprache, muss immer wieder
erweitert und neu erlernt werden. Design ist ein kulturelles Phänomen, und wer
als Gestalter oder Produzent will, dass Kunden und Nutzer die Sprache der Dinge
verstehen, muss Informationen aufbereiten und wirksam kommunizieren.
III. Der
Geschmack
7. Geschmack und Geschmacksbildung
Essen und Trinken sind lebensnotwendige
Handlungen. Sie sind Nahrung für Physis, Geist und Psyche und notwendig wie das
Atmen. Der Geschmackssinn entwickelt sich in Abgrenzungen: Die einst vorsichtig
mit Zungenspitze und Nase geprüften Eigenschaften unbekannter Stoffe sind nach
dem Grad ihrer Bekömmlichkeit und ihrer Verträglichkeit von wohlschmeckend über
geschmacklos bis ungenießbar und giftig geordnet und im kollektiven Gedächtnis
einer jeden Kultur bewahrt. Die Vielfalt der Nahrung ergibt sich aus ihren
materialen Eigenschaften wie kalt, fest und ölig in der Kombination mit ihrem
Geruch.
Auf dieser Sachbasis entwickelt jede Kultur
ihren eigenen Speiseplan, den Brauchtum und Sitte zu Ernährungsnormen festigen,
so dass das, was einem Eskimo schmeckt, weder Japanern noch Papua, noch
Europäern schmecken muss.
Der Mensch lebt
im Ungleichgewicht seiner körpereignen Substanzen. Gleichgewicht stellt sich nur
vorübergehend, während des Essens ein. Im Ungleichgewicht schüttet der Körper
Dynorphine aus, die dem Menschen Hunger und Unwohlsein mitteilen und ihn
veranlassen, sich zur Nahrungsbeschaffung in Bewegung zu setzen, im
Gleichgewicht schüttet er Endorphine aus – opioide Substanzen –, die Wohlbehagen
auslösen. In solchen Körperreaktionen zeigt die Evolution dem Menschen, wie er
sich verhalten soll. Wenn er darüber nachdenkt und den Regungen des Körpers
folgt, wird er sicher durch die Welt der Nahrung geleitet.
Der Zwang zur Aufnahme von Nahrung führt zu
sachlichen Gründen dafür, dass bestimmte Speisen sowie Ess- und
Trinkgewohnheiten zeitlos und unabhängig von der Kultur sind. So kennen alle
Kulturen den spezifischen Appetit, der sich einstellt, wenn dem Organismus
spezifische Stoffe fehlen, etwa salzige Speisen nach Alkoholkonsum. Ebenso
lieben die Menschen aller Kulturen das Süße, denn die im Süßen enthaltenen
Kohlehydrate liefern rasch Energie und setzen Botenstoffe frei, die ein
positives Empfinden hervorrufen. Solche dem Körper zusprechende Substanzen
werden als gutschmeckend definiert und empfunden. Appetit auf süße Stoffe stellt
sich insbesondere nach körperlicher Anstrengung und in Stresssituationen ein.
Umgekehrt sind in allen Kulturen bittere Stoffe ungeliebt, da viele bittere
Substanzen giftig sind. Allerdings zeigt sich beim bitteren Geschmack, dass eine
differenzierte sinnliche Wahrnehmung durchaus in der Lage ist, eine Nuance
Bitterkeit als angenehm zu empfinden. Der treffende Geschmack ist ein sicheres
Urteil, das dem Wohlbehagen und der Leistungsfähigkeit, der Gesundheit und dem
Überleben dient.
Geschmack ist eine gute
Unterscheidungsfähigkeit der Sinne. Er wird durch die Disposition des
Einzelnen mit seiner leiblichen Eigenheit, seiner familiären Entwicklung, seiner
Bildung und seiner Gruppen- und Kulturzugehörigkeit modifiziert.
Die Bildung des Geschmacks verläuft über
die Ausbildung der Sinnesorgane – über Wissen und angemessenes Spüren, über
Nachahmung, Wiederholung und die Bekräftigung durch gesellschaftliche Instanzen
wie Eltern, Lehrer und öffentliche Medien. In der Nachahmung und Gewohnheit wird
der Geschmack gefestigt, geprüft, in Frage gestellt, erneut nachgeahmt,
gefestigt und geprüft, bis sich allmählich ein kulturell respektierter Geschmack
mit persönlicher Note herausbildet, dem der Mensch mit wachsender Sicherheit
folgt. Wer zielstrebig seine Nahrung besorgt, hat Geschmack, der ihn sicher
durch das Leben führt.
Schlechter Geschmack ist eine geringe
Unterscheidungsfähigkeit der Sinne. Eine Art Vorurteil, ein Urteilen ohne
Möglichkeit zur Differenzierung, entweder aus Mangel an Wissen, aus Unlust zur
Prüfung oder aus Ideologie, die ein Urteilen behindern. Schlechter Geschmack ist
Mangel an Sinnesbildung und Sinnbildung.
In den Begriffen Schlechter Geschmack
und Guter Geschmack wird das Metaphorische durch die Physis gestützt. Ein
schlechter Geschmack auf der Zunge verursacht Ekel, der einen Würgereflex
verursacht, um das Unschmackhafte – das Unverträgliche, Giftige, Übelkeit und
Krankheit Verursachende – auszuspucken. Ein in der Evolution dem Überleben
dienendes Vermögen. Dem steht ein guter Geschmack entgegen, der die
Speichelsekretion anregt und den gesamten Organismus vorbereitet, sich das
Schmackhafte einzuverleiben und zu verarbeiten. Guter Geschmack ist eine hohe
Unterscheidungsfähigkeit der Sinne.
Die anderen Sinnesorgane sind toleranter.
Wären sie es nicht, könnte den Menschen beim Anhören schlechter Musik ein
Hör-Abscheu, beim Anblick schlecht gestalteter Dinge eine Seh- Übelkeit oder
beim Tasten harter, unerwarteter oder Gefahr suggerierender Dinge ein
Tastwiderwille überfallen. Und so wie bei der Bitterkeit gibt es Menschen, die
feinste Geschmacksempfindungen unterscheiden können, so dass sie beim Anblick
von hässlichen Dingen oder beim Hören von Dissonanzen tatsächlich Ekel
empfinden.
Umgekehrt kann manche Hässlichkeit
guter Geschmack sein, wenn sie die Sinne ganz erfüllt und den Geist anregt. Das
ist eine sachliche Grundlage für guten Geschmack, der deswegen nicht unbedingt
etwas mit großbürgerlicher Attitüde und Konvention zu tun hat.
Die Struktur des Geschmacks der Nahrung
überträgt der Mensch auf seine eigenen Produkte, die Dinge und andere
Kulturerzeugnisse, so dass der Begriff des guten Geschmacks zu einer Norm wurde,
an der sich die Menschen einer Kultur orientieren. Von da an waren es auch die
von Menschen gemachten Dinge, denen ein guter Geschmack zugeschrieben werden
konnte.
8.
Der gute Geschmack
Guter Geschmack ist Genuss durch
feine Sinne. Eine positive Sinnesempfindung, die ein körperliches und geistiges
Wohlbehagen auslöst. Es gibt kulinarische Genüsse wie Essen und Trinken,
geistige Genüsse wie Literatur, Kunst, Musik und Design und leibliche Genüsse
wie Massage und Tanz. Am Genuss sind mehrere Sinne beteiligt. Kulinarische
Genussmittel bilden die Grundlage. Das sind Substanzen wie Kaffee, Tee,
Schokolade, Kakao, alkoholische Getränke, Chili und Tabak, die psychotrope
Substanzen enthalten, die den guten Geschmack verursachen, da sie Schmerz
lindern, Energie liefern und anregen können. Das gute Schmecken hat also eine
sachliche Basis im Nutzen für den Menschen. Das wird durch die Etymologie
gestützt, denn ursprünglich ist Genuss das Beschaffen von Nahrung – genießen
bedeutet fangen und ergreifen, sich nutzbar machen. Später
bezieht sich Genuss auf die gute Nahrung und die herausragende Speise.
Guter Geschmack hat zwei Seiten – Subjekt
und Objekt. Das Subjekt, der Mensch kann über guten Geschmack verfügen, weil er
Menschen, Situationen oder Dinge treffend bewerten kann. Das Objekt, das Ding
kann von gutem Geschmack zeugen, wenn es in ästhetischen, funktionalen und
ökologischen Belangen Qualität hat. Dann wiederum ist es gestaltet und
hergestellt von Menschen mit gutem Geschmack, die nach dem russischen Dichter
Joseph Brodsky nicht leicht zu betrügen sind.
Guter Geschmack ist ein Meta-Organ mit
einem Bezug auf gute Qualität und gute Gestaltung sowie auf eine Beziehung zum
Ganzen des Seins. Gute Designer verfügen über diesen Sinn. Bedingungen für den
Meta-Sinn sind differenzierte und offene Sinnesorgane, die helfen, Güter
zielsicher zu erkennen und auszuwählen. Der Meta-Sinn gibt dem Menschen einen
hohen Grad an Genussfähigkeit. Das gilt für Sinnesgenüsse ebenso wie für
geistige Genüsse.
Guter Geschmack ist ein Vermögen des
Menschen, sich so in die Welt einzurichten, dass er in seinem Wesen berührt
wird. Der gute Geschmack trägt ihn in eine gehobene Stimmung, hebt ihn über den
Alltag hinaus und gibt seinem Leben Würde und Sinn. Guter Geschmack ist
Sinnesbildung und Sinnbildung.
Der gute Geschmack ist eng mit dem
Paradigma einer Epoche verbunden. Im Kultivierungsprozess wandelt sich auch der
Geschmack: was schlechter Geschmack war, kann für kurze Zeit oder für eine
nachfolgende Epoche zum guten Geschmack werden, und der einst gute Geschmack
kommt aus der Mode. Nur die sachliche Basis überdauert den Wandel der Zeit, so
dass es Dinge, Verhaltensformen und Gedanken von bleibendem Geschmack und Wert
gibt.
Indem sie ihn auf viele Bereiche des Lebens
übertragen, machen die Menschen den guten Geschmack zu einem Begriff für
Sensibilität und Bildung, wie er in Stilgefühl, Lebensart, Kennerblick,
Benehmen, Schönheitssinn und Fingerspitzengefühl zum Ausdruck kommt. Als
Metapher sagt der gute Geschmack etwas über die Kultiviertheit des Menschen aus
und zeugt von einer differenzierten, ausgeprägten Sinnlichkeit und Sensibilität
im Rahmen einer Kultur. Guter Geschmack ist Appetit auf das Gute. Appetit auf
positive Wahrnehmungen und auf zutreffende Urteile, deshalb können Töne und
Anblicke, Berührungen und Gerüche gut schmecken.
IV. Die Methode
9. Kriterien des guten Geschmacks
Methoden sind Wege. Nachwege – nach (meta)
und Weg (hodos). Erst wenn der Mensch einen Weg ein zweites Mal begeht oder ein
Ereignis ein zweites Mal wahrnimmt, kann von einer Methode gesprochen werden.
Nachgehen ist das Gehen auf ein Ziel zu, ein kennendes Suchen, angetrieben von
Sehnsucht. Wenn der Mensch eine Erinnerung an ein Ereignis hat, kann er es
methodisch aufsuchen, um es erneut zu erleben. Methode kann wiederholendes,
gewohntes, wiederkehrendes und nachbildendes Gehen sein, aber auch ein
variierendes Gehen mit wechselndem Tempo, auf unterschiedlichem Schuhwerk und in
verschiedener Gangart. Daher können Methoden auch zu neuen Zielen führen.
Kriterien sind Unterscheidungszeichen,
Grenzsteine und Markierungen. Merksteine auf einem methodischen Weg. Merkmale
und Eigenschaften, die relevant sind für Entscheidungen. Sie befinden sich an
Weggabelungen und führen den Menschen auf einem bereits begangenen Weg zum Ziel.
Kriterien des guten Geschmacks sind
angenehme Wahrnehmungen, die im Gedächtnis einer Person oder einer Kultur
bewahrt sind. Sie können biologisch, kulturell, gesellschaftlich und persönlich
bedingt sein. Da Menschen mit gutem Geschmack diejenigen sind, die immer wieder
guten Geschmack entdecken, entwickeln und später auffinden, folgt, dass sie,
wenn auch intuitiv, planmäßig, mit Methode vorgehen.
Der gute Geschmack beginnt mit
Wahrnehmungen. Mit den Wahrnehmungen, die in der Erinnerung als angenehm
gespeichert sind. Im Design mit Erinnerungen an die Ästhetik und die Moral, die
Funktion und die Oberfläche eines Objekts.
Der Wahrnehmung folgen Fragen. Fragen nach
den äußeren und inneren Merkmalen und dem Kontext. Etwa die Fragen, wie ein
Objekt aussieht, wofür es gemacht ist, ob es einen Nutzen hat und ob seine
Funktionen gut handhabbar sind. Auch Fragen, ob es innovativ und zeitgemäß ist,
oder nur modern.
Ebenso erheben sich Fragen zur Relation von
Ding und Design zum Nutzer. Berühren sie die Haut angenehm und passt das Objekt
zum Ambiente, in das es integriert werden soll? Findet der Nutzer das Objekt
schön oder gefallen ihm nur Form, Proportion und Farbe? Sind die
Selbsterklärungsqualität eines Gerätes und die Lesbarkeit seiner typografischen
Angaben gut und ist das Gerät beim Gebrauch sicher? Ist es zurückhaltend und
leise oder laut und dominant? Dinge, die sofort in Wettbewerb treten mit anderen
Gegenständen im Ambiente lassen sich in der Regel schwer einordnen und nicht
lange ertragen.
In einem weiteren methodischen Schritt
werden Werte ermittelt. Das setzt Information, Wissen und Engagement voraus,
denn es handelt sich um Fragen nach der Moral der Dinge. Ist ein Objekt
bedeutungsvoll und umweltverträglich hergestellt, lässt es sich nach dem
Gebrauch entsorgen und ist in der Herstellung die Würde des Menschen gewahrt?
Denn auch Antworten auf solche Fragen sind Teil des Geschmacks, da ein durch
Kinderarbeit hergestellter Teppich als guter Geschmack prinzipiell ausscheidet.
In gleicher Weise erhebt sich die Frage, woher ein Produkt stammt und wer es
produziert hat. Kommt es aus einem Unternehmen mit einer aufrichtigen
Unternehmenskultur und sind die Werte des Designers und des Produzenten mit den
eigenen Werten vereinbar? Wird das Produkt lange halten und wert sein, eines
Tages repariert zu werden, und hat es eine solche Qualität, dass der Nutzer es
lange nutzen und achten wird? Wohin geht das Produkt? Wird es, wenn es
ausgedient hat, auf der Müllhalde landen oder lässt es sich in den
Naturkreislauf zurückführen?
Die einzelnen Wahrnehmungen und Fragen
werden dem kundigen Kunden zu einem einzigen Ereignis, das ihn zu einer sicheren
Entscheidung führt. Eine Sicherheit des Urteils lässt sich jedoch nicht ohne
Anstrengung erwerben. Ohne Disziplin und ohne Methode kann der Mensch keinen
guten Geschmack entwickeln, der die Fähigkeit ist, beim Essen und Trinken, beim
Sehen, Tasten, Hören und Riechen schmeckend und beim Handhaben der Funktionen
erkennend die Qualitäten wahrzunehmen und das Gute vom Schlechten zu scheiden.
Einerseits differenzieren und entwickeln sich die Sinne durch ein angenehmes
Berührtwerden, andererseits erfolgt das Unterscheidenkönnen vor allem durch
Lernen und Üben, durch Erwerb von Wissen und Können sowie durch die Verbesserung
der Kommunikation. Also durch Disziplin, denn nicht jedes Wissen und nicht jede
Fertigkeit kann spielend erworben werden. Guter Geschmack wird erworben durch
Üben wie in der gymnastischen Anstrengung des Balletts, wie in der Weitung der
Lungentätigkeit im Ausdauerlauf, wie bei Fingerübungen beim Erlernen eines
Musikinstruments und wie beim Lesen und Diskutieren beim Wissenserwerb. In
solchen Übungen werden die Sinne herausgefordert, beansprucht und differenziert,
was für den Übenden Konzentration, Anstrengung und eine vorübergehende Entsagung
bedeutet. Methode
Das ist die andere Seite des guten
Geschmacks: Er muss erworben werden. Disziplin ist Anstrengung, Konzentration
und Mühe, gerichtet gegen das Bedürfnis, sich spontan auszuleben. So müssen für
den guten Geschmack die Sinne gut berührt, aber auch durch Anforderungen
angeregt werden.
10.
Guten Geschmack kaufen
Guten Tag. Ich habe in ihrer Fensterauslage
eine Teekanne gesehen, die mir gefällt. Das gebrochene Grün, der Bogen des
Henkels, die Oberfläche, die Gesamtgestalt. Wie ein Klassiker und doch modern.
Guten Tag. Aha, ja, die Teekanne. Sagten Sie schön? Nein. Ich möchte mich erst
einmal erkundigen, ob ich sie schön finde. Finden Sie eine Sache nicht auf
Anhieb schön? Sicher, zuerst muss ich angesprochen werden von einem Objekt.
Bevor ich die Dinge schmecke, rieche und betaste müssen die Augen geschmeckt
haben. Sonst hätte ich ihr Geschäft ja nicht betreten. Aber danach kenne ich
eben nur die visuelle Attraktion eines Objekts und benötige weitere
Informationen. Ich urteile nicht nur nach der Ästhetik, sondern frage auch, ob
die Funktionen stimmen, die Produzenten bei der Herstellung schonend mit der
Natur umgehen und ob die Produkte vom Naturkreislauf wieder aufgenommen werden.
Und natürlich, wie es um die Lebensdauer bestellt ist. Um das zu erkennen,
brauche ich gelegentlich einen Fachmann, dem ich vertraue. Dazu stehen wir ihnen
zur Verfügung. Die Kanne – über die Ästhetik scheinen Sie sich ja im Klaren zu
sein – stammt aus der traditionsreichen japanischen Iwachu-Schmiede. Wir kennen
die Produzenten persönlich und prüfen ihre Produkte. Um nicht zu sagen: wir
kontrollieren sie. Woraus besteht die Kanne? Aus Gusseisen. Von Hand gegossen
und nachgeschliffen, innen emailliert. In Japan fehlt die Emaille, da die
Japaner den Vorteil der Eisenmineralien für die Ernährung nutzen, die der Rost
der Kanne dem Tee beimengt. Die Europäer mögen das nicht – deshalb die Emaille.
Gusseisen verteilt die Wärme gleichmäßig und speichert sie lange. Zur
Ausstattung der Kanne gehört ein nicht rostender Metallsiebeinsatz. Wie wird das
Material gewonnen? Bei der Herstellung der Kanne ist die Natur so schonend wie
möglich behandelt. Eisen, Farbe und Emaille sind für die
Nahrungsmittelzubereitung bestens geeignet. Darüber erhalten Sie ein Zertifikat,
neben einer Anweisung für Gebrauch und Reinigung der Kanne. Und wer prüft die
Hersteller der Rohstoffe? Wie wir die Hersteller überprüfen, so überprüfen sie
ihre Zulieferer. An der Kanne werden Sie für Jahrzehnte Freude haben. Nicht zu
vergessen, dass die Qualität Sie in ihrem Alltag beflügeln wird. Und wenn das
Teetrinken noch kein tägliches Ritual für sie ist, machen sie es vielleicht dazu
und geben ihrem Tag eine rituelle Mitte. Sind Sie Designfachmann oder
Teeexperte? Wenn ich nicht beides wäre, würde ich ihnen keine Teekanne
verkaufen. Wie Sie bemerken, haben wir für unsere Kunden einen Gedankenkatalog
an Kriterien zur Hand: Kriterien für das Gute und für den guten Geschmack.
Sowohl für Tee als auch für das Design. Ein paar Punkte haben wir schon geklärt.
Brauchen Sie denn tatsächlich eine Teekanne? Ich habe schon eine. Sie wollen
eine zweite, gut. Für wie viele Personen wollen Sie in dieser Kanne Tee
zubereiten? Für zwei bis drei. Dafür ist sie eher zu groß. Es scheint, Sie
wollen sie gar nicht verkaufen. Doch. Wir haben nur unsere
Unternehmensprinzipien. Und wie lauten die? Wir orientieren uns dabei an dem
schönen Begriff des Kunden. Vielleicht wissen Sie, was der Begriff ursprünglich
bedeutet. Kunde war früher der Bekannte eines Bauern, Handwerkers oder Händlers,
bei denen er Informationen einholte zu einem Problem, mit dem er nicht fertig
wurde. Und wenn Problemlage und Information zusammenpassten, konnte auch ein
Kauf zustande kommen. Der Kauf war also keine vorhergehende Absicht. Der
Grundgedanke des Kunden lag in dem von ihm gesuchten Bedürfnis nach
Information und Kommunikation – im Austausch von Know-how. Ich hoffe, ich muss
Ihre Prinzipien nicht unterschreiben, bevor ich bei Ihnen etwas erwerbe. So
streng sind wir nicht, aber wir lassen uns von diesem Prinzip leiten. Es wirkt
dem blinden Konsum ein wenig entgegen. Und wir drücken darin unsere Loyalität
den Kunden gegenüber aus. Selbstverständlich möchten wir auch den guten
Geschmack pflegen. Das sind unsere leitenden Ideen. Möchten Sie sich erst einmal
setzen und eine Tasse grünen Tee nehmen? Danke, ja. Zu verstehen, dass ein
Gegenstand mit großem Wissen und Können, mit Sorgfalt und Hingabe hergestellt
wurde, beflügelt die Menschen, das wissen wir. Dabei erweist sich seine Ästhetik
nur als ein Element. Hinzu kommen Geruch und Material, Verarbeitung und
Herkunft, auch die Marke – als Garant für Qualität. Ja. Wenn eine Marke keine
Maskierung ist, die den Nutzer täuschen soll, wird man nicht enttäuscht. Setzen
wir uns an den Teetisch? Gerne. – Sie servieren den Tee in „meiner“ Kanne? Damit
Sie sie vor dem Erwerb einmal anfühlen, mit den Händen umschließen können, wenn
sie etwas abgekühlt ist. Gießen Sie den Tee doch bitte ein. So prüfen Sie, wie
sich die Kanne halten und kippen lässt. Das ist ja neben dem Fassen des Tees
eine wichtige Funktion. Und prüfen Sie unbedingt, ob die Kanne beim Ausgießen
tropft. Wie Sie sehen, lässt der Deckel beim Einschenken der ersten Tasse keinen
Unterdruck im Kannenbauch entstehen, durch den der Tee erst verzögert und dann
unter erhöhtem Druck schwallartig aus der Kanne ausfließt. Dafür sorgt das
winzige Loch im Deckel der Kanne. Alles in bester Ordnung. Und der Tee schmeckt
mir. Ich frage mich, ob er in einer hässlichen, schlecht gearbeiteten Kanne für
meinen Geschmack auch ein solches Aroma entwickeln würde. Das ist unfraglich ein
ausgezeichneter Tee. Ein Gyokuro, ein Schatten-Tee aus Uji. Einst stand er nur
dem Tenno zu. Später den Samurai, dann der bürgerlichen Oberschicht. Noch heute
wird er in Japan nur ehrwürdigen Gästen angeboten. Der Tee bildet die Basis,
aber man darf das Andere, das Ambiente, die Atmosphäre und die Geräte zur
Teebereitung nicht für den Geschmack des Tees unterschätzen. Das Behagen stellt
sich erst ein, wenn die angemessenen Dinge beieinander sind und alle Sinne
zusammenwirken. Aber guter Geschmack ist doch auch ein Produkt des Geistes. Ja,
differenzierte Sinne, Einfühlsamkeit, Wissen und eine geistige Gegenwärtigkeit
sind beteiligt an der Ausbildung des Teearomas und seiner Wirkung – wenn also
die rechte Menge Tee, die rechte Wassertemperatur, die rechte Zeit, die der Tee
zieht und die geistige Aufnahmebereitschaft der Teetrinker zusammenkommen.
Darüber wissen Japaner und Chinesen gut Bescheid. Der Chinese Lu Yu zählt
vierundzwanzig Dinge auf für das Zubereiten von Tee. Damit die Zeremonie
gelingt, sollen sie in einer bestimmten Reihenfolge und in angemessener Weise
gehandhabt werden. Man sieht, was man beim Kauf eines Alltagsgegenstandes wie
einer Teekanne alles beachten kann. Deshalb brauche ich eben gelegentlich einen
Experten. Für die Japaner reflektieren das Teegeschirr und die Art seiner
Handhabung eine geistige Haltung. Diese geistige Haltung ist wohl der gute
Geschmack. Ja. Und nun sehen Sie, dass auch beim Einschenken der letzten Tasse
der Deckel in der Fassung bleibt und nicht in die Tasse fällt. Die Kanne hat
ihren Preis – und sicher zu Recht. Sie erzeugt eine wunderbare Aura, entfaltet
den Geschmack des Tees und öffnet unsere Sinne – wie die Poesie. Es scheint,
dass der Tee in dieser Teekanne die Dinge auf den Punkt bringt.
V. Qualität,
Verantwortung und Motivation
11.
Qualität, Verantwortung und guter Geschmack
Was in der Welt ist, hat ein Wesen. Hat
Beschaffenheit, Wert und Eigenart. Das Wesen ist das Was einer Sache,
ihre Qualität. Natur hat von sich aus Wert und Kostbarkeit und bildet die
Grundlage für die Qualität der Kulturerzeugnisse. Die gute Qualität der Dinge
wirkt wohltuend auf den Menschen. Sie steigert seine Lebensqualität und
motiviert ihn, indem sie ihn unmittelbar anspricht und die Aufnahmefähigkeit
seiner Sinnesorgane steigert und den Geist anregt. Qualität befähigt den
Menschen, Nuancen und Schattierungen der Dinge und des Lebens wahrzunehmen.
Qualität hängt von Bedingungen ab. Sie ist
weder objektiv noch absolut, denn nicht alle Produkte können und müssen eine
gleich gute Qualität haben. Qualität muss sich am Zweck eines Produktes
bemessen. Sie hängt aber auch von den Bedingungen und Möglichkeiten einer Region
ab – bei Lebensmitteln von der Fruchtbarkeit des Bodens und vom Klima, bei
Dingen etwa von der Güte regionaler Bodenschätze und vom Stand der
Produktivität. Die Qualität eines Produkts muss im Kontext seiner Zwecke und
Möglichkeiten betrachtet werden. Deshalb gehört zur Qualität immer auch eine
Angemessenheit, denn sonst wäre sie Eitelkeit, falsch verstandener Luxus und
ohne moralischen Sinn. Da gute Qualität aber anregend auf Physis und Psyche
wirkt, ist sie immer anzustreben – so gut und so sinnvoll wie möglich.
Qualität lässt sich im Zurückgeworfensein
des Menschen auf sich selbst begreifen, denn in existentiellen Momenten geht es
um das Wesen des Daseins. Wie bei einer schweren Krankheit. In einer solchen
Lebenslage muss der Schwerkranke alles Nebensächliche und Äußerliche abweisen,
wenn er die Krankheit überwinden will. Äußerlichkeiten wie Zerstreuung, Ruhm
und Konsum erweisen sich als hilflose Mittel. Hilfreicher sind Ruhe und
Besinnung auf die aktuelle Verfassung: den Genesungsprozess und den Erhalt des
Lebens. Indem sich der Kranke nach innen wendet, sich pflegt, schont und sich
auf seine bloße Existenz reduziert, wird er zum Erkennenden, der lernt, das
Wichtige der Existenz vom Nebensächlichen zu scheiden.
Bemerkenswert ist, dass sich der Mensch
auch im Zustand einer Hochstimmung zurückziehen und seine Lebenskreise
beschränken kann. Etwa im Zustand der Liebe. Liebende genügen sich und finden
darin – im Wesentlichen – ihren Sinn. Das Leben im geistigen, emotionalen und
moralischen Zustand der Liebe ist selbstgenügsam, so dass sich Liebe und
Krankheit als elementare Zustände der menschlichen Existenz offenbaren: Pflegen
und Bewahren des Lebens in der Krankheit sowie Freude, Fortpflanzung und
Kommunikation in der Liebe.
Kranke und Liebende sind Erkennende, weil
Liebe und Krankheit auf etwas Wesentliches aufmerksam machen, indem sie den
Erkrankten und die Verliebten zwingen oder ihnen nahelegen, aus der eigenen
Mitte heraus zu leben. In der Liebe und in der Krankheit erfährt der Mensch,
dass zum Wesen des Lebens nicht unbedingt Regeln und Zwänge gehören und nicht
Äußerlichkeiten und Gewohnheiten des Alltags, sondern Selbstgenügsamkeit,
Besinnung und das Sprechen der Gefühle. Im Rückzug, in der Besinnung und in der
Reduktion erschließt sich das Wesen der Existenz.
Das Wesen der Dinge und des Lebens ist
Qualität. Sie stammt von den lateinischen Begriffen quale und qualitas
ab, die Eigenschaft, Merkmal und Wesen bedeuten. So zeigt
sich, dass die Menschen in der Krankheit und in der Liebe durch Besinnung und
Reduktion eine Erweiterung ihres Alltagsdaseins erfahren und sensibel werden für
das Was, die Qualität und das Wesentliche ihrer Lebenslage und des Lebens. Die
Konsequenz daraus sind die Wertschätzung des eigenen Daseins, die Verantwortung
für andere und das Engagement für die Natur, für das Ganze. Das Leben aus der
Mitte, dem Wesen heraus ist die Hinwendung zu einem nachhaltigen Dasein, weshalb
die Angemessenheit eines Objekts und seine sachliche, materiale und
gestalterische Qualität auch Objekte des guten Geschmacks sind. Das Mehr an
Qualität gibt dem Menschen ein Mehr an Lebensqualität, die Lebensfreude und
Motivation bedeutet.
Die Opposition zur Qualität ist Mittelmaß.
Es meint nicht mittleres Maß und Ausgewogenheit, sondern fehlendes Engagements,
Lieblosigkeit und Indifferenz, in denen das Wesentliche verfehlt wird. Im
mittelmäßigen Produkt wird das Wesentliche nicht nur deshalb verfehlt, weil
Produzent und Gestalter die Menschen mit schlechten Produkten bedienen, sondern
weil sie es unterlassen, durch gute Produkte den guten Geschmack zu bilden, denn
Mittelmäßigkeit inspiriert nicht, gibt kein Selbstvertrauen und keine
Orientierung – und sie verschafft keine Motivation.
Das gute Design ruft durch eine angemessene
Ästhetik, durch überraschende Funktionen und die Güte der Materialien neue
Sinneseindrücke hervor, spornt den Menschen an und berührt ihn in seinem Wesen.
Eine solche Berührung führt zu einem angenehmen Körpergefühl, zu einem
verbindlichen Handeln und stimuliert Denken und Fühlen, so dass das berührende
Objekt Selbstvertrauen erzeugt und ein neues Selbstverständnis gibt. Da sich
zeigt, dass das gute Design das Vermögen hat, in der unermesslichen Ansammlung
von Objekten in der modernen Warenwelt Orientierung zu geben und an der
Ausbildung des guten Geschmacks mitzuwirken, wird die Verantwortung deutlich,
die im guten Design liegt.
Der Mensch kann es sich nicht leisten, den
guten Geschmack auf die Ästhetik eines Objekts zu reduzieren oder ihn als ein
individuelles Meinen aufzufassen, denn besonders unter den Bedingungen der
Globalisierung gehört zum guten Geschmack eine Sensibilität für das Ganze – für
die Natur oder den ganzen Haushalt, aus dem der Mensch hervorging. Das ist die
Erde mit ihren vielen Zimmern – den Lebensräumen für Pflanzen, Tiere und
Menschen. Die Erde muss das Gebäude sein, dem sich die Menschen sorgend, hegend
und bewahrend widmen. Unter den Bedingungen des globalen Zusammenwirkens von
Wirtschaft, Kunst, Sport und Kultur muss das Handeln des Einzelnen in seinem
Haus, seinem lokalen Haushalt, mit der Gesamtheit aller Haushalte verbunden sein
– mit Region, Kontinent, Erde, Weltall, Oikos, das Haus und Haushalt bedeutet.
Deshalb bedeutet seine Verantwortung, in oiologischen Zusammenhängen zu denken
und sein Sensorium in dieser Dimension auszurichten. Dazu muss er lernen, sich
von der gegenwärtigen Welt als globaler Welt berühren zu lassen.
12. Motivation und der gute Geschmack
des Design
Jedem Handeln liegen Absichten, Motive
zugrunde. Beweggründe, Gründe für Bewegungen. Motive folgen unmittelbar auf eine
innere Berührung und motivieren den Menschen.
Motivation ist eine Bewegung von innen her.
Sie bestimmt das Denken, Fühlen, Verhalten und Handeln. Wird der Mensch innen
berührt, öffnen sich seine Sinne und er wird positiv gestimmt wie in der Liebe.
Berührt wird er, wenn er in seinem Innern angesprochen wird, was sich immer dann
ereignet, wenn zwei Wesen aufeinandertreffen. Wenn der Mensch in seinem Innern,
seinem Wesen, das seine Qualität ist, von einem Wesen, das die Qualität eines
Objekts ist, angesprochen wird, wird er berührt und gerät in Resonanz mit dem
Objekt.
Weil in dieser Art des Berührtseins die
Möglichkeiten für ein verantwortungsvolles Gestalten und Produzieren liegen, ist
es eine Aufgabe von Designern, die Dinge so zu gestalten, dass sich die
Gestaltung aus dem Wesen der Aufgabe herleitet, weil dann eine Welt entstehen
kann, die die Menschen berührt – und motiviert durch Qualität. Dadurch werden
die Menschen angeregt, ihrerseits eine berührende und motivierende Welt
einzurichten. In der Weise verbinden sich im guten Design und im guten Geschmack
Qualität und Motivation zu einer neuen Form: zur Oikologie der Gestaltung.
Doch Ethik und Wert können sich nur
behaupten, wenn sie attraktiv und in der Lage sind, den Menschen zu rühren. Wie
der über zweitausend Jahre alte Spruch des chinesischen Weisen Meng Tzu: „Es ist
möglich, als großer Mensch zu handeln.“ Ein Sinnspruch, in dem die Werte des
guten Handelns und der Würde des Menschen in schönen, klaren und überzeugenden
Worten ausgedrückt sind. Die darin enthaltene Ethik gewinnt Attraktion und
Schönheit, indem der Spruch Ethik, Politik, Qualität, guten Geschmack und Design
in einer Formel verbindet.
Da das Haus der Erde zwar groß, aber nicht
unermesslich ist und ihre Energie und ihre Biomasse begrenzt sind, müssen die
Menschen mit ihrer Lebensgrundlage, der Erde, angemessen umgehen und sich für
eine Lebensweise entscheiden, nach der sie sorgfältig und verantwortungsbewusst
– also nachhaltig – mit den Stoffen und den Energieträgern der Erde umgehen.
Damit die Menschen motiviert werden, gut
mit den Ressourcen der Natur umzugehen, müssen sie lernen, gut mit den
Ressourcen der eigenen Natur umzugehen. Dazu sind Berührungen geeignet, die den
Wesenskern des Menschen erreichen. Weniger effektiv sind moralische Appelle, da
sie über den Verstand oder negativ durch das Gefühl aufgenommen werden.
Wirkungsvoller sind Berührungen, die das Gefühl positiv ansprechen, sie mögen
sinnlich, geistig und moralisch sein. Unter den Bedingungen der Globalisierung
ist das keine individuelle, sondern eine gesellschaftliche, politische und
oikologische Aufgabe, in der dem Design eine große Bedeutung zukommt, denn gut
funktionierende, gut gestaltete und gut verarbeitete Dinge geben den Menschen
Festigkeit und Vertrauen, die wiederum eine Basis für Motivation bilden und den
Menschen zu einem verantwortungsvollen Leben inspirieren.
Der gute Geschmack ist die orientierende
Kostbarkeit der menschlichen Existenz.
Ein weiterer Text
von Hajo Eickhoff
Stadt und Globus. Die Eroberung der Ewigkeit
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