HAJO
EICKHOFF
Stadt
und Globus. Die Eroberung der Ewigkeit
(Essay)
- II -
Die mittelalterliche Stadt
Das Christentum ist im moralischen und kulturellen
Niedergang Roms die geistige Stütze. Es stellt dem Diesseits, dem am
Materiellen orientierten Leben ein an Gott ausgerichtetes spirituelles Leben
gegenüber. Der christliche Glaube ist eine treibende Kraft zur Umfassung der
Erde durch den Menschen.
Während die Geschichte der antiken Stadt mit dem Zerfall
Roms endet, beginnt die Entfaltung der menschlichen Ansiedlung mit dem
Aufstieg der germanischen Stämme noch einmal. Trotz Eroberung nehmen sie die
hochentwickelten Römerstädte nicht ein und behalten ihre bäuerliche
Siedlungsform. Die Gebiete nördlich der Alpen werden jahrhundertelang von
Land suchenden Völkern durchzogen. Östlich des Rheins ist die Siedlungsform
der Stadt unbekannt. Bevor sie anfangen, Städte zu bauen, müssen sie erst
einen festen Ort finden und die eigene Kultur auf ein Niveau heben, das ein
Stadtleben erzwingt oder sinnvoll macht. Westrheinisch liegen die
Römerstädte Trier, Straßburg oder Köln. Durch sie wird den germanischen
Stämmen die hoch entwickelte Kultur der Römer zugänglich. Sie übernehmen
den christlichen Glauben und das antike Wissen, nicht aber die Siedlungsform
der Stadt.
Trier ist eine der vier Hauptstädte des römischen Reiches
und ein häufiges Ziel kriegerischer Angriffe durch germanische Stämme. Sein
Neuaufbau nach einer der zahlreichen Plünderungen und Zerstörungen ist ein
Beispiel dafür, wie verschieden die Vorstellungen der Germanen und der Römer
von der Anlage einer Stadt sind: Auf dem römischen Raster errichten Germanen
ungeordnete Einzelsiedlungen mit unterschiedlichen Bestimmungen. Die Stadt hat
keinen festen Plan und bringt ein geringes Maß an Abstraktion und Distanz zum
Ausdruck.
Die ersten Städte des Abendlandes entstehen im 12.
Jahrhundert. Sie werden nach derselben Zufälligkeit wie das neue Trier gebaut.
Erst nachdem das nördlich der Alpen gelegenen Europa befriedet ist, kann sich
das Handwerk entwickeln und vom Ackerbau emanzipieren. Vor Burganlagen oder
Klöstern richten Händlern, Handwerker und Bauern Märkte ein, die zum
sozialen, ökonomischen und architektonischen Zentrum einer entstehenden Stadt
werden. Durch Mauern setzen sich die Städte von Burgen und Klöstern ab, die
selbst ummauert sind. Eine Bürgerschaft erwirbt das Stadtrecht nur unter de
Bedingung, daß die Stadt von einer Mauer eingefaßt ist. Stadtmauer und Markt,
Stadttor und Fachwerkhaus sind die typischen Elemente der mittelalterlichen
Stadt.
Europäische Städte des Mittelalters unterstehen keiner
Zentralgewalt wie die Städte des Orients. Ihr Wesen ist die autonome
Verwaltung der Bürger. Wie bei den Griechen. Aber anders als bei diesen wird
das Handwerk enger mit der Wissenschaft verbunden. Aristoteles versteht das
Handwerk negativ als Technik, als List und Täuschung. Da die Stadtregierung
mannigfache Interessen zu vertreten hat, weltliche wie klerikale, folgt die
Bebauung der Stadt Einzelinteressen und unterliegt daher keinem Gesamtplan.
Hieraus resultiert die komplexe Erscheinung der europäischen Städte:
gewachsene soziale Räume, die als Produkt einer selbstbewußten Zivilisation
erscheinen. Das kulturelle und gesellschaftliche Stadtleben sind kommunikative
und geistige Zeichen, die auf eine Universalisierung ihrer Existenzform
drängen.
Mittelalterliche Städte erfüllen die Funktionen von
Handwerk und Handel, von Gottesdienst, Verteidigung und Wohnen. Das private
Leben ist eins mit dem Beruf. Kurze Wege, rasches Austauschen des Wissens und
ein in Bünden organisiertes Leben verfeinern das Handwerk, das technischer
wird, und steigern das kaufmännische Können. Der Kreislauf gegenseitigen
Verbesserns, Forderns und Potenzierens macht das Bürgertum wohlhabend und
einflußreich, bis es gegen Feudalherren und klerikale Stadtbesitzer
politische Rechte erkämpft und ihnen zu Beginn der Neuzeit als eigener Stand
selbstbewußt und mächtig gegenübersteht. Die Tendenz der mittelalterlichen
Stadt, ihre Existenzform auszuweiten, widerspricht ihrer komplexen Gestalt.
Der Widerspruch löst sich erst, als um Vierzehnhundert die alte Stadtstruktur
aufgegeben wird. Werden Städte neu errichtet, werden sie dem orthogonalen
Raster des Hippodamos unterworfen, das bei Städten, die erweitert werden, so
nah wie möglich an den alten Stadtkern herangeführt wird.
Die Stadt der Neuzeit
Die Stadt der Neuzeit verbindet alle Elemente miteinander,
die eine Globalisierung befördern. Sie gründet in einer einheitlichen
Ordnung aus Distanz, Isolation und Abstraktion. Ihre Elemente bestehen in
einer sich selbst verwaltenden Bürgerschaft, in der Verknüpfung von Handwerk
und Wissenschaft, von Arbeit und Askese sowie in einer hohen
Bevölkerungsdichte, einem Netz von Städten und einer geordneten
Straßenführung.
Der Übergang vom Handwerk zur Manufaktur durch den
Einfluß der Wissenschaft und die Vereinheitlichung von Praxis und Theorie
ziehen Lehrbetriebe, Akademien und allgemeinbildende Schulen nach sich, die
das Wissen nachfolgenden Generationen mitgeben. Die Institutionen übertragen
das Wissen auf viele und verdichten und vernetzen Erfahrungen, Fertigkeiten
und Erkenntnisse. Die Beschleunigung der Wissensvermehrung festigt durch
Systematisierung, Planen, Abstrahieren und Geometrisierung einen Mechanismus,
der zur räumlichen Ausdehnung und zur Allgemeinheit einer städtischen
Lebensform zwingt. Die puritanisch-kapitalistische Dialektik von Arbeit,
Askese, Erfolg stabilisiert das Prinzip, nach dem erworbener Reichtum nicht
konsumiert, sondern investiert wird.
Die globale Ausdehnung der europäischen Zivilisation
beginnt mit der Kolonialisierung, die die Welt unter der Ordnung Europas
vereinheitlicht. Die Erde wird als Kugel erst gedeutet und dann – durch
Kolumbus – global erfahren. Mit der Kultur tragen die Kolonialherren Europas
das Raster des Hippodamos in die Welt: Anfang des 16. Jahrhunderts besiedeln
Spanier und Portugiesen Mittel- und Südamerika, ein Jahrhundert später die
Engländer Nordamerika. Danach suchen seefahrende Nationen wie Frankreich und
Holland Kolonien in Afrika und Asien. Das Straßennetz der Städte in Übersee
folgt dem Schachbrettmuster. Die Fläche, die als zentraler Platz geplant ist,
wird mit Pflock und Seil abgesteckt. Um ihn herum entstehen Rathaus und Kirche,
Regierungsgebäude, Geschäfte und Wohnungen der Kaufleute. Von der Mitte
aller vier Seiten des zentralen Platzes gehen im rechten Winkel die
Hauptstraßen, von jeder Ecke zwei Straßen ab. Der Platz wird so angelegt,
daß sich die Stadt unter Einhaltung des Musters in alle Richtungen erweitern
kann. In Mittel- und Südamerika gründen die Spanier entweder neue Städte
oder sie zerstören vorhandene, die brach bleiben oder gemäß des Rasters
umgestaltet werden.
So errichten die Europäer außerhalb Europas Städte, die
ihnen selbst fremd sind. Denn die Zentren ihrer Städte verfügen weder über
ein gerastertes noch über ein einheitliches Straßennetz, während die
Stadtmauern eine Verbindung der Mitte mit neu entstandenen Vierteln behindern.
Den Grundstein für die moderne Großsiedlung in Europa hat Ludwig XIV. gelegt.
Er läßt Paris zum Land hin öffnen und in Versailles ein offen angelegtes
Schloß bauen. Den Schutz, den die Mauern boten, gewähren hier die Grenzen
des neu entstandenen Nationalstaates. Das absolute Königtum arbeitet mit dem
Bürgertum in dieselbe Richtung. Beide profitieren vom nationalen
Wirtschaftskonzept des Merkantilsystems. Die Nation wird vernetzt zu einem
homogenen und befriedeten System von Beziehungen und Verkehrswegen, das
Dörfer, Städte und Landstriche ökonomisch, politisch und militärisch
zusammenfaßt. Die Stadtstruktur wird zum Besiedlungsmodell für die Erde.
Durch ihre Linearität vereinfacht die gerasterte Stadt
Transport, Verkehr und Bebauung. Keine Mauern, die das Wachstum behindern. Mit
der Ordnung der europäischen Stadt ist „das ganze geometrische Muster
vorgegeben, das sowohl die Struktur der einzelnen Städte als auch
ausgedehnter Landstriche der neuen Welt bestimmen sollte." Die Verwendung
des Rasters, das sich als ein Modul der globalen Urbanisierung erweist, hat
die Globalisierung beschleunigt und Europa zur Vorherrschaft in allen Teilen
der Erde geführt. An das Raster der Städte wird das Land angeschlossen, bis
die Erde lückenlos gegliedert ist. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind
in Staaten aufgeteilt, die Staaten in Distrikte, die Distrikte in ländliche
Gebiete und Städte, die Städte in Stadtviertel, die Viertel in
Häuserblöcke. Die Staatsgrenzen verlaufen auf Breiten- und Längengraden
oder parallel zu ihnen. In der Hauptstadt Washington liegen die Straßen exakt
auf den Achsen Nordsüd und Ostwest. Die Städte sind schematisch, unsinnlich,
öde, kalt und neutral. Sie haben keine Geschichte, kein Alter, kein
Gedächtnis.
Die Dichte, die Technik und Wissen, Transport und
Architektur erzeugen, führen über die Manufaktur zur Industrie, die alle
Lebensbereiche revolutioniert.
Die Stadt im Zeitalter der Industrie
Die Industrie zerstört die Geschicklichkeit der Hand. Die
Schnelligkeit, Kraft und Genauigkeit der Maschine führen zu neuen
Verfahrenstechniken, präzisen Werkzeugen und neuartigen Werkstoffen. Die
Hand, die das Handwerk und die Stadt hervorbringt, verödet und fällt mit
wachsendem Fortschreiten der Technik zurück in den Zustand ihrer
prähistorischen Unspezialisiertheit, oder wird am Computer digital: Die
Finger zeigen, drücken, berühren.
Die Industrie beseitigt die traditionelle Form des Wohnens.
Über Mietshäuser bringt sie die Menschen in Massen zusammen und hebt ihre
Bindung an einen bodenständigen Wohnsitz auf. Das Wohnen in Mietwohnungen
ändert radikal das Sozialgefüge und das Zusammenleben in der Stadt.
Die Industrie korrigiert die Gestalt der traditionellen
Stadt. Ihr wesentliches Bauwerk, die Mauer, wird abgetragen, Fabriken mit
monströsen Gebäudekomplexen und Apparaturen entstehen, die die
Produktivität steigern und die Natur in den Wirbel einer immensen Ausbeutung
ziehen. Die Industrie unterwirft Arbeit, Kommunikation und Verkehr ihren
Bedürfnissen und überzieht die Stadt mit einem abstrakten Netz aus
Architektur und Verkehr. Nachträglich werden Straßen dem orthogonalen Raster
eingegliedert und Häuser zu Blöcken zusammengefaßt. Die alte Stadt öffnet
sich der Welt, wenn sich ihr Zentrum auch gegen die völlige Integration in
die neue Ordnung sperrt: Die Straßen sind zu schmal, die Häuser zu klein,
Transportwege zu umständlich. Indem das Raster aber teilweise integriert wird,
steht der Ausbreitung Europas und seiner Stadtidee über die Erde nichts mehr
im Weg.
Die globale Eroberung in der Horizontalen und Vertikalen
Fahrzeuge und Transportmittel der Industriezeit wie
Lokomotiven, Dampfschiffe und Automobile durchqueren beschleunigt das
Territorium in horizontaler Richtung, um es urbar zu machen. Unwegsame Natur
wird begehbar, befahrbar und bewohnbar, und die entstehenden Städte werden in
eine Gesamtstruktur eingebunden, die die Erde urban umschließt. Morsetechnik,
Funk und die Beschleunigung der Transportmittel verdichten die Vernetzung, bis
die Erde über ein Geflecht von Verkehrswegen, Energieströmen und
Informationskanälen umspannt ist. Zu einem unablässigen Fortschreiten
gezwungen, bilden Städte Knotenpunkte der nationalen und interkontinentalen
Vernetzung von Wirtschaft, Kultur und Militär. Der Tourismus vollendet die
horizontale Aneignung. Als kulturelle Kolonialisten touren Touristen um den
Globus und europäisieren ihn. Die Realität des Globalen offenbart sich in
den ersten erdumfassenden Katastrophen: den Weltkriegen.
Ist die Erde horizontal aufgeteilt, wird sie durch das
Hochhaus in die Vertikale gehoben. Das Hochhaus faßt alle Haustypen und alle
modernen Formen
des Wohnens und Arbeitens in sich. Die ersten Hochhäuser sind zwölfstöckig.
Später verlieren sie jeden Bezug zum Menschen, wachsen zu Riesenskulpturen
und sind Zeichen äußerster Künstlichkeit: vertikale Städte, Kathedralen,
Städte in der Stadt. Das Wohnen in ihnen ist eine Form menschlicher Existenz
auf ausgehöhltem Boden und das statische Bild für die Eroberung des
Luftraums. Ihr dynamisches Bild ist das Fliegen, das die horizontale Aneignung
mit der vertikalen vereint. Flugzeug, Rakete, Satellit und Space-Lab teilen
den Luftraum auf und machen den Menschen allgegenwärtig. Der einzelne Mensch,
dessen begrenzter Lebensraum der die Erde umgreifenden Vernetzung gewichen ist,
tritt aus seiner Regionalität heraus und wird global.
Metropole und Global City
Metropolen, die traditionellen Weltstädte, stützen sich
auf Industrie, Handel und politische Macht. Ihre Entstehung und ihre
wirtschaftlichen Beziehungen untereinander haben die Tendenz der Städte zur
Globalisierung manifestiert, zur Vollendung jedoch fehlen ihnen die letzten
Bausteine, da nicht ihre Größe die Welt global macht, sondern die Dichte und
Qualität ihres Netzwerkes. Das ist es, was die modernen Telemedien leisten:
Innerhalb einer Stadt verbinden sie Finanzkonsortien, Komplexe von Banken,
Dienstleistungsunternehmen und Konzernzentralen und schließen sie zu einer
Weltwirtschaft zusammen. In solchen in traditionellen Städten angesiedelten
Unternehmenskomplexen, die Saskia Sassen Global Cities nennt, materialisiert
sich das internationale Kapital.
Architektonisch sind Global Cities Städte in der Stadt.
Gebaute Räume im Zentrum von Großstädten, die Banken,
Dienstleistungsunternehmen und Konzernzentralen beherbergen, die eng
miteinander verflochten sind und Finanzgeschäfte tätigen. Strukturell sind
sie strategische Räume, Steuerungszentren im Verband der Weltwirtschaft mit
einem dichten Netz an Telekommunikationsanlagen. Die Global City „existiert
in einem weltumspannenden Netzwerk, als Plattform für die weltweiten
Operationen des Kapitals", in denen eine Elite von Investment-Bankern,
Anwälten, Brokern und Computerfachleuten die Wirtschaft international
abwickelt. Neben Finanz- und Kapitalmärkten sind hochqualifizierte,
unternehmensorientierte Dienstleistungen weltweit die stärkste Branche. Die
Dienstleitungen statten die Unternehmen mit höchstem Know-how und Komfort aus.
Global Cities lösen die traditionellen Weltstädte als Entscheidungsträger
ab: Die nationale Politik und die nationalen Politiker verlieren ihren
Einfluß, denn politische Räume sind nicht mehr an die Geographie gebunden,
sondern an elektronische Orte in den Netzen. Die Nicht-Orte werden zu Punkten
politischer Auseinandersetzungen, die der nationalen Politik den Zugriff
entziehen: Einerseits sind die Konzernzentralen der Unternehmen unabhängig
von ihren Produktionsstätten, andererseits sammelt und verbindet sich ihre
Macht in den Netzen der übernationalen Information und der Weltwirtschaft,
die national ungebunden sind.
Telekommunikation und Global Cities sind Ausdruck eines
Paradigmenwechsels: von der Produktivität der Energie und virtuosen Technik
der Industrie zur Produktivität der Information. Sie ändern Stadtraum und
Produktion, Einkommensverteilung, Arbeitsorganisation und Konsum.
Dienstleistungen und Finanzmärkte erleben eine Blüte, Industrie und Handel
einen strukturellen Konjunkturrückgang. Aber Global Cities ziehen auch eine
Polarisierung von Großverdienern und Wenigverdienenden, von Reichtum und
Armut nach sich ziehen und verschärfen die sozialen Konflikte der
traditionellen Weltstadt.
Eroberung der Ewigkeit
Das Etablieren der Global Cities und das Wachsen
ökologischer und sozialer Krisen beschleunigen das Ausgreifen in den Weltraum.
Der Mensch macht sich frei von seiner naturhaften Grundlage und zieht es vor,
ins Ungewisse vorzudringen. Aufs Ganze gesehen ist es rührig, wie
unermüdlich er seine Anlagen entfaltet: wie er baut, entwickelt, zerstört
und erneut baut und Natur in eine künstliche Welt transformiert. Denn so sehr
er auch an der Verbesserung seiner Lebensbedingungen arbeitet, die
konfliktgeladenen Alltagsprobleme hat er weder vereinfachen noch lindern
können. Großstädte wachsen in atemberaubendem Tempo. Täglich nimmt die
Weltbevölkerung um eine viertel Million Menschen zu, von denen neunzig
Prozent in armen Ländern geboren werden. Die Menschen drängen in die
Großstädte, die sich durch verschmutzte Luft, hohe Kriminalität,
unüberwindbaren Straßenverkehr, kaum zu bewältigende Müllprobleme und das
unvermittelte Nebeneinander von Armut und Reichtum auszeichnen. Die Art der
Unfälle und Katastrophen unterliegt denselben strukturellen Bedingungen,
unter denen sich die Zivilisation entwickelt hat. Die Struktur hat sich
emanzipiert und verdichtet. Von einer bestimmten Dichte an entwickeln die
Netze eigene Gesetze, die den Menschen in den Griff nehmen und steuern. Der
Mensch reagiert nur noch, er agiert nicht mehr. Städte haben Kontrolle,
Beherrschung und Distanz geschaffen. Doch durch die Ausweitung und das Wuchern
der Netze geraten sie wieder außer Kontrolle, so daß der Mensch dem
unberechenbar erscheinenden Kosmos unberechenbare Ungetüme der Megastädte
hinzugefügt hat. Die Architektur der griechischen Polis ist eins mit der Idee
der Griechen von Demokratie und Politik: der unmittelbare, persönliche
Austausch zwischen Demokraten. Solche Unmittelbarkeit erlauben weder
Massendemokratien noch Informationsgesellschaften. Aufgrund übernationaler
Verflechtungen der in Weltstädten organisierten Konzerne muß die nationale
Politik einen Teil ihrer Macht an die übernational arbeitenden Städte
abtreten: Die Zugehörigkeit zu einer Nation löst sich auf und der Mensch
verliert seine traditionelle Identität.
Der Aufbruch in die Galaxis soll mit fliegenden Städten
erfolgen. Eine Bedingung für das ewige Leben der Menschheit. Ob das Ziel
realisierbar ist, bleibt sekundär, wesentlich ist das Arbeiten an der Idee.
Jesco von Puttkammer, Cheffuturist der NASA, spricht von
Generationenraumschiffen, auf denen Menschen in die Unermeßlichkeit des Alls
vordringen. Eine galaktische Arche Noah. Doch ohne die Chance einer Rückkehr.
Noch hängt die Existenz des Menschen an einem Planeten mit zeitlich
begrenzter Bewohnbarkeit. Das Lösen von der letzten Abhängigkeit hat nach
Puttkammer Bedingungen: Erst „wenn Frauen im Weltraum Kinder kriegen, ist
der Beweis erbracht, daß wir unabhängig vom Planeten Erde existieren können",
„erst damit wäre die Menschheit wirklich unsterblich." Die fliegenden
Städte sind ein äußerstes Maß der Distanzierung des Menschen von sich
selbst und paradoxerweise das Programm für die Selbsterhaltung seiner Gattung.
©
Hajo Eickhoff
Ein weiterer Text von Hajo
Eickhoff :
Der Geschmack des Design. Kriterien des guten Geschmacks
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