Vor einiger Zeit habe ich über ein Hallenser Gedenkbuch (HGB) (1) von
einem Georg Kaempfer aus Posen (heute Poznań)
erfahren, der am 3. Juni 1942 im KZ Sobibór mit seiner Frau und
zwei der drei Töchter ermordet wurde. Ich muss sagen, dass mich diese
Nachricht – gelinde gesagt – verstört hat, da alle mir bekannten
Familienmitglieder den Naziterror mehr oder weniger unversehrt
überstanden hatten.
Also nahm ich Verbindung zu anderen Homonymen auf und
bekam auch prompt eine Antwort von Prof. Raymond Kaempfer aus
Jerusalem, dessen Vater Heinz (1904-1986)
ebenfalls in Posen geboren ist. Allerdings konnte für
seine und meine Posener Vorfahren bislang kein gemeinsamer Ahn ermittelt
werden. Vor allem aber bleibt unsere Beziehung zu Georg unklar.
Das Gedenkbuch gibt nur spärliche Auskünfte: Am 29.
Dezember 1883 in Posen geboren, ist Georg aus unbekannten Gründen und zu
einem noch unbestimmten Zeitpunkt nach Saarbrücken gezogen, wo er sich
mit seiner Frau Herta (2) als Kaufmann etablierte (3), bis
die Familie am 28. September 1939 – also einen Monat nach dem Überfall
auf Polen – freiwillig oder zwangsweise nach Halle übersiedelte (4).
Von dort wurden Georg, Herta, sowie die Töchter Evelyne und
Marion
(5) am 1. Juni 1942 mit einem aus Kassel kommenden Zug
abtransportiert und nach zweitägiger Reise über Lublin anscheinend schon
bei ihrer Ankunft im Todeslager ermordet. Eine dritte Tochter – Inge –
konnte noch rechtzeitig nach Palästina fliehen. Das Gedenkbuch nennt
ebenfalls die Namen von Georgs Eltern: Sie hießen Yitzchak und
Sara (6).
* * *
Den
Posener Adreßbüchern (PAB) zufolge war Georgs Vater Isaak ab 1872
als Kurzwarenhändler, später auch als Kaufmann (1876) in der
Wasserstraße 13, dann (1885) als Inhaber einer „Pfandleih-Anstalt“ in
der Wasserstraße 12 und von 1910 bis 1917 dort als „Hausbesitzer“
gemeldet. – Was Georg selbst betrifft, bleiben viele, wenn nicht alle
Fragen derzeit noch unbeantwortet: Man könnte meinen, dass er seine zehn
Jahre jüngere, 1893 im benachbarten Schwersenz geborene Frau Herta noch
in Posen kennenlernt. Das könnte in den 1910er Jahren geschehen sein.
Aber würde dann der schon etwa dreißigjährige Georg nicht auch als
Berufstätiger im PAB erscheinen? Aus diesem Grund ist es durchaus
denkbar, dass er die Stadt schon früh verlassen hat und Herta erst
später, vielleicht anlässlich eines Verwandtenbesuchs getroffen hat. In
den PAB findet man unter ihrem Mädchennamen nur eine Schuhwarenfabrik
der Gebrüder Bergheim (Bruno und Max). Allerdings sind die
Einwohner des zehn Kilometer entfernten Schwersenz nicht im PAB
verzeichnet, was wiederum dafür spricht, dass sich Georg dort oder in
einem anderen Städtchen der Provinz Posen niedergelassen haben könnte.
Jedenfalls ist es ziemlich sicher, dass Georg von Posen aus nicht
schnurstracks nach Saarbrücken gegangen ist, sondern sich zuerst
woanders aufgehalten hat, vielleicht auch um zu studieren. Das 270
Kilometer entfernte Berlin kommt jedoch nicht in Frage, da in den BAB um
die Jahrhundertwende zwar ein Maler und Dekorateur namens Georg
Kämpfer erscheint, der aber 1933 auch noch in der Hauptstadt
gemeldet ist. Und wir wissen ja, dass zwei der drei Töchter (Evelyne
und Marion) 1922 bzw. 1925 in Saarbrücken geboren sind und die
Familie dort bis 1939 gelebt hat. .- Nebenbei bemerkt ist anzunehmen,
dass Georg und wahrscheinlich auch Herta – zum Beispiel im Fall ihrer
doch naheliegenden Verwandtschaft mit den Gebrüdern Bergheim – den
wohlhabenderen Kreisen der Posener Gesellschaft angehörten und sich als
Jugendliche nicht allzu große Sorgen um ihre Zukunft gemacht haben
dürften.
Auch spielen der Erste Weltkrieg (7) und
seine Folgen eine nicht zu unterschätzende Rolle in dieser Geschichte.
Dabei ist nicht zu vergessen, dass der bei Kriegsausbruch dreißigjährige
Georg wehrpflichtig
(8) war. Saarbrücken liegt an der Grenze zu Lothringen, das nach dem
Versailler Vertrag
(9) wieder zu Frankreich gehört. Auch das damalige „Saargebiet“ –
zwischen 1920 und 1935 vom Völkerbund verwaltet – wird in den
französischen Wirtschaftsraum eingebunden. Erst nach der Volksabstimmung
vom 13. Januar 1935 ist das Gebiet wieder Teil des Deutschen Reiches und
damit dem Naziterror ausgeliefert. – Auf der anderen Seite geht Posen im
Zuge der Freiheitskämpfe ab 1919 erneut an Polen: Angesichts der, wie es
heißt, „ethnischen Spannungen“, die von Ende Dezember 1918 bis Februar
1919 die Provinz unsicher machen, bleibt einem Großteil (5/6) der
deutschen Bevölkerung nur die Flucht.
Wenn Tochter Evelyne am 22. Januar 1922 geboren ist,
so bleibt das Geburtsdatum der wahrscheinlich ältesten Tochter Inge
10) noch ungewiss. Auch die Umstände und den genauen Zeitpunkt
ihrer Flucht nach Palästina kennen wir nicht. War es vor der Zeit der
Novemberpogrome von 1938, als die Saarbrücker Synagoge in Brand gesetzt
wurde? Aber warum sind Georg und seine Familie auch danach noch in
Nazideutschland geblieben?
Eine am 23. Juni 2017 aktualisierte Seite [
hier]
liefert folgende neue Informationen über Georg:
Sohn von
Isaac Kaempfer (*1833 Września / Wreschen)
und Helmine Kaempfer (*18. August 1842 Poznań / Posen † 4.
November 1889, ebd. – Tochter von Michaelis und Dorothea Loewissohn)
Bruder von
Martin Kaempfer (* 1. Januar 1868* Posen / Poznań);
Hugo Kaempfer (*11. April 1869 Posen);
Lucie Kaempfer (*19. Mai 1871 Posen – Ehefrau von Max Deutsch);
Hedwig Kaempfer (*4. November 1871 Posen – Ehefrau von Sigi[s]mund
Deutsch)
und Ludwig Kaempfer (* 7. Mai 1878 Posen)
Ehemann von
Herta Gerta Kaempfer, geborene Bergheim, am
14. Februar 1893 in Schwersenz (heute Swarzędz), etwa zehn
Kilometer östlich von Posen gelegen. – Tochter von Max
Markus Bergheim und Rosa / Rosalie Bergheim – Schwester von
Anni / Anna Feibelmann geb. Bergheim, * 9. August 1898 in Swarzędz /
Schwersenz bei Poznań, † etwa 1941 in Riga,
verh. m. Eugen Feibelmann (*29.4.1892 in Meddershem und †18.3.1936 in
Sobernheim, beide Städte in Rheinland-Pfalz, aus dieser Ehe zwei Kinder:
Tochter Hannelore [Hana Bustan] und Sohn Hans-Hermann [Chanan Peled],
beide in Sobernheim [respektive am 6.5.1922 und 10.7.1927] geboren und
in Israel [1985 und 2003] gestorben)
Vater von
Inge Elna Kaempfer (*20. Mai 1915 Saarbrücken † 20. Februar 1977, Kiryat
Bialik, Haifa, Israel – Ehefrau von Arthur Aron Emanuel Arnon
[Warenhaupt]);
(Irmgard) Evelyne Kaempfer und Marion Kaempfer (Daten siehe oben)
Dieser Genealogie-Eintrag regt zu weiteren Recherchen über Georgs
Familie an:
- Herta Kaempfers Vater Max
Bergheim war in der Tat Miteigentümer einer
Schuhwarenfabrik in Posen, was die Zugehörigkeit Hertas zu den
wohlhabenderen Kreisen der Posener Gesellschaft bestätigt.
- Die 1893 geborene Herta hatte eine fünf
Jahre jüngere Schwester Anni, die einen in Sobernheim lebenden
Eugen Feibelmann heiratete und sich ebenfalls dort etablierte. In diesem
Städtchen gab es eine größere jüdische Gemeinde und eine 1858 erbaute
Synagoge [hier],
was für die Religiosität der Familie zu sprechen scheint.
- Wir erfahren nun auch Geburtsort und
-datum der ältesten Tochter Inge: Demnach hatte sich die Familie
schon vor (oder spätestens bei) Beginn des „Großen Krieges“ in der
Grenzstadt niedergelassen und lebte nach dem Versailler Vertrag bis
Januar 1935 unter Mandat des Völkerbundes mit Einbindung in das
französische Zoll- und Währungsgebiet. Angesichts des dann einsetzenden
Naziterrors wird der Entschluss gefasst worden sein, Inge die Flucht
über Frankreich zu ermöglichen.
- Auch Annis beiden Kinder konnten noch
rechtzeitig über Frankreich nach Palästina fliehen. Bei einer erneuten
Recherche bin ich auf die sehr aufschlussreichen Erinnerungen von ihrem
Sohn, Hans-Hermann Feibelmann [Chanan Peled] gestoßen, die
hier als PDF zu lesen sind.
- Nachdem der zwölfjährige Hans-Hermann
und die siebzehnjährige Hannelore in Sicherheit waren (ab
24.8.1939), wurde Anni mit ihrer Mutter nach Köln umgesiedelt und von
dort am 7.12.1941 nach Riga deportiert und ermordet. Chanan
erwähnt zwar die Heirat seiner Tante Herta mit Georg, gibt aber leider
keine Auskunft über dessen Posener Familie.
- Nicht zuletzt könnten Georgs zahlreiche
Geschwister (drei Brüder und zwei Schwestern, beide mit einem Deutsch
verheiratet) neue Spuren auftun.
In der Tat ergab eine weitere Recherche, dass Georgs drei Brüder
Martin, Hugo und Ludwig Kaempfer sukkessive in die USA
ausgewandert und amerikanische Staatsbürger geworden sind, wie folgende
Einträge in den U.S. Naturalization Record Indexes (1791-1992)
belegen:
- Name: Martin Kaempfer | Birth: Germany 5 Jan 1868
Civil: 4 Apr 1901 | Arrival: 1883 | Residence New York
- Name: Hugo Kaempfer | Birth: Germany 11 Apr 1869
Civil: 18 Jun 1896 | Arrival: 1886 | Residence New York
- Name: Ludwig Kaempfer | Birth: Germany 7 May 1878
Civil: 4 Apr 1901 | Arrival: 1893 | Residence New York
Da der Naziterror gegen die deutschen Bürger jüdischen Glaubens ab 1933
(Januar 1935 in Saarbrücken) immer brutaler wurde, stellt sich nun die
Frage mit mehr Nachdruck: Warum ist Georg nicht zu den älteren Brüdern
nach New York oder über Frankreich nach Palästina geflohen?
„Einwohnerbuch“ der Stadt Saarbrücken 1934-35 [
hier]
Georg erscheint gleich zweimal, das 2. Mal unter „Kampfer“
(Hat das Zeichen * eine Bedeutung?)
Dieses Adressbuch „nach dem Stande von Juni 1934“ muss kurz vor der
fatalen Volksabstimmung vom 13. Januar 1935 erschienen sein. Das Vorwort
der zum „Reichsverband der Adreßbuch-Verleger“ gehörenden
„Verlagsanstalt der Gebr. Hofer“ ist auf November 1934 datiert. Neben
dem unbestimmten „Kaufmann“ haben wir nun eine präzisere Vorstellung von
Georgs beruflichen Aktivitäten: „Strickwaren-Vertretungen“ (frz.:
bonneterie).
Stolpersteine für Herta, Evelyne, Marion und Georg Kaempfer
Am 10.3.2010 in Saarbrücken verlegt [
hier]
Wie ich auf meiner Suche nach Georg erfahren musste, wurden mindestens
drei weitere Posener Kaempfers von den Nazis ermordet –
Hedwig,
Johanna und
Gustav. Die folgenden - maschinell erstellten und
hier sprachlich korrigierten - Einträge befinden sich auf der Seite der
Holocaust-Gedenkstätte
Yad Vashem [
hier]
-
Hedwig Deutsch wurde im Jahr 1871 [als Hedwig Kaempfer in
Posen] geboren. Während des Krieges war sie in Gruessau, Deutsches
Reich und wurde mit [dem] Transport IX/1 von Breslau,
Niederschlesien, Deutsches Reich nach Theresienstadt, Ghetto,
Tschechoslowakei am 26.07.1942 deportiert. – Hedwig wurde [am
2/09/1942] in der
Schoah ermordet (Ihr Sohn Helmuth wurde ebenfalls ermordet)
-
Johanna Herrmann, geb. Kaempfer wurde 1890 in Posen, Polen
geboren. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebte sie in Berlin, Deutsches
Reich. Während des Krieges war sie in Piaski, Polen. – Johanna wurde
in der Schoah ermordet.
- Gustav Kaempfer wurde im Jahr
1864 geboren. Während des Krieges war er mit [dem] Transport XVIII/5 von
Oppeln, Oberschlesien, Deutsches Reich nach Theresienstadt, Ghetto,
Tschechoslowakei am 21.04.1943 deportiert worden. – Gustav wurde in der
Schoah ermordet (Seine Frau Paula geb. Mottek wurde ebenfalls ermordet)
Nach obigem, durch die
Posener Urkunden bestätigten Genealogie-Eintrag war
Hedwig
Georgs Schwester. Über ihn und seine Familie erfahren wir auf
Yad
Vashem nichts Neues. Auch über
Johanna und
Gustav gibt
Yad Vashem keine weiteren Auskünfte. – Aber zu Gustav fand ich
diesen Eintrag im 1937er Adreßbuch von Oppeln [
hier]:
Und eine (kostenpflichtige) Genealogie-Seite [
hier]
gibt immerhin Folgendes an:
– Gustav Kaempfer (geboren …
1864) war der Sohn von Paul
Kaempfer (*16. April 1836, in Wreschen) und
Pauline Kaempfer (geb. Gensler,
1840 in Posen).
– Gustav hatte 2 Geschwister:
Felix Kaempfer und …
– Gustav war mit
Paula Kaempfer (geb. Mottek, 10.
Juli 1873, in Wronke) verheiratet.
– Sie hatten einen Sohn: Ludwig
Kaempfer [7.1.1901-29.8.1947, s.u.]
– Gustav starb 1943 …
Wenn diese Angaben der Wahrheit entsprechen, müssen Prof. Raymonds
Informationen (s.o.) ein wenig korrigiert werden, denn Dr. med.
Gustav war allem Anschein nach ein (nicht erwähnter) Bruder von Dr.
Felix Kaempfer, und ihr Vater Paul wurde 1836 in Wreschen (und
nicht 1840) geboren.
Auch erfahre ich [
hier],
dass Gustavs Sohn
Ludwig 1930 in Breslau, Weidenstraße 5, wohnte.
Bei der Volkszählung vom 17.05.1939 war er in Berlin-Tiergarten (heute
Moabit), in der Perleberger Straße 35 (Vorderhaus, 1. Stock) gemeldet.
Nach der gleichen Quelle [
hier]
wurde er vom 24.09.1938 bis 4.10.1938 in Dachau, danach in Buchenwald
inhaftiert. – Wie aber konnte er aus Buchenwald entkommen und sich nach
Kanada absetzen, wie sein Grabstein in Montréal (Québec, Kanada) zu
belegen scheint? (11)
Ludwigs Grabstein [
hier]
Ich habe meinen Freund Paul gebeten, die hebräische Inschrift zu
übersetzen:
"Leyzer, Sohn des Avraham", gefolgt vom Datum des Todes auf
Hebräisch.
Dieselbe Quelle gibt ebenfalls Auskunft über Dr. med. Gustav
Kaempfer: Am 29.08.1864 in Posen geboren – Studium an der Universität
Würzburg – Wohnort am 17.05.1939: Sedanstr. 18 – Oppeln (Grunwaldzka 18
– Opole / Woj. opolskie) – Datum der Deportation: 21.04.1943 ab Oppeln
nach Theresienstadt – Ermordung: 30.10.1943 (ID-Nr. aus der 1939er
Volkszählung: VZ316915).
Und über Hedwig Deutsch, geborene Kaempfer am 4.11.1871 in Posen,
erfahren wir, dass sie [mit Sigismund Deutsch] zwei Kinder hatte:
Hellmuth (*1894) und Ruth (*1896), beide in Breslau geboren.
Dort war Hedwig noch 1930 als Rentnerin in der Opitzstr. 7
gemeldet (zur gleichen Zeit wie Gustavs Sohn Ludwig). – Wohnort am
17.05.1939: Kürassierstr. 49 bei Brasczok / Stkrs. Breslau (heute: Aleja
Generała Józefa Hallera 49 Wrocław) – Deportation: 27.07.1942 ab Breslau
– Inhaftierung: Grüssau /Sammellager – Ermordung: 2.09.1942 in
Theresienstadt (Terezín) (ID-Nr. aus der 1939er Volkszählung: VZ010453)
(12).
Über Johanna Herrmann, geborene Kaempfer am 9.12.1890 in Posen,
stellt die Volkszählung fest, dass sie am 17.05.1939 in
Berlin-Schmargendorf (Wilmersdorf), in der Kissinger Straße 9 wohnte. –
Am 28.03.1942 wurde sie ins Ghetto von Piaski bei Lublin deportiert. –
Ort und Datum ihrer Ermordung sind nicht angegeben (ID-Nr. aus der
1939er Volkszählung: VZ082268).
Vorläufiges Fazit
Ich muss gestehen, dass es mir am Herzen liegt, die Wahnvorstellung
einer „reinen Rasse“ als ideologisch gesteuerte Lüge zu entlarven, da
sich die Menschen seit Urzeiten immer vermischt haben, wie es z.B.
Svante Päabo (vom Max-Planck-Institut in Leipzig) schon anhand des
Genflusses zwischen Neandertaler und Sapiens bzw. Denisova nachweist
(2010/18). – Die Schrift von Gobineau –
Essai sur l’inégalité des
races humaines (Paris 1855) – ist ein Meilenstein in der Geschichte
des modernen Rassismus (13): Der Autor greift den Überlegenheitsgedanken
alter Kulturen auf – wobei man berücksichtigen muss, dass der
Kolonialismus damals Hochkonjunktur hatte (Eroberung Algeriens durch
Frankreich ab 1830) – und verwandelt diesen zivilisatorischen
Superioritäts-Komplex in eine biologistisch-rassistische
Weltanschauung, die auf der Fiktion einer „arischen Rasse“ beruht. Die
Nazi-Ideologen brauchten dann nur noch eine phantasmatische
„Herrenrasse“ auf den Plan zu rufen, um die schlimmsten Ausgrenzungen,
Plünderungen und Massenmorde zu legitimieren. Als Gegenpol zu dieser
Fiktion wurden Menschen, die sich in erster Linie als freie
Staatsbürger ihrer Länder fühlten, und teils den jüdischen Glauben
bewahrt hatten, teils zum Protestantismus übergetreten oder aber
Atheisten waren, als Angehörige einer „jüdischen Rasse“ stigmatisiert,
denen in Form einer Verschwörungstheorie „Kosmopolitismus“ und
„feindliche“ Interessen unterstellt wurden, nach dem Schema der in
Deutschland seit dem 19. Jahrhundert sehr einflussreichen Sozialisten,
die als „vaterlandslose Gesellen“ gebrandmarkt wurden. Zum
„Untermenschen“, der wie der frühere Sklave behandelt werden durfte,
blieb nur noch ein kleiner Schritt, der im Nu vollzogen wurde. Im
Vorspann des Ende November 1940 in deutschen Kinos gezeigten
Propagandafilms „
Der Ewige Jude“ heißt es:
„Die zivilisierten Juden, welche wir aus Deutschland kennen, geben
uns nur ein unvollkommenes Bild ihrer rassischen Eigenart. Dieser Film
zeigt Originalaufnahmen aus den polnischen Ghettos, er zeigt uns Juden,
wie sie in Wirklichkeit aussehen, bevor sie sich hinter der Maske des
zivilisierten Europäers verstecken.“ [
hier]
Aber hier ist nicht der Ort, solche Gedanken auszuführen. Was mich
betrifft, bin ich sowohl mütter- als väterlicherseits über Generationen
hinweg das „reinste“ Produkt so genannter „Mischehen“. Und hier ist auch
nicht der Ort, von meiner Stettiner Großmutter zu berichten, die den
Naziterror in Berlin nur dank ihrer Heirat mit einem „Christen“ und
ihren vier Kindern überlebte. Mitsamt ihrer Mutter, meiner Urgroßmutter,
konnte ihre Schwester ebenfalls rechtzeitig ins benachbarte Schweden
fliehen. – Georg jedoch harrte in Saarbrücken bis zu Beginn des Krieges
aus, um dann mit seiner Familie nach Halle zu übersiedeln (14). Drei
Jahre blieben sie dort. Dann lese ich [
hier]:
Bis 1941 sind vermutlich zwei Drittel der in Halle ansässigen Juden
ausgewandert; die meisten der fast 600 Personen emigrierten nach
Shanghai, England, in die USA und nach Palästina. Deportationen
Hallenser Juden begannen vermutlich Ende Mai 1942; bereits ab April
liefen in der Stadt die Vorbereitungen für diesen ersten
Deportationstransport; dazu mussten sich die betroffenen Juden im
jüdischen Gemeindehaus einfinden, um hier den Hausrat aufzulisten und
eine Vermögenserklärung abzugeben. Insgesamt sollen im April 1942 etwa
100 Juden Halles „in den Osten“ deportiert worden sein; alte Menschen
wurden meist nach Theresienstadt gebracht; zwei Transporte gingen Mitte
September und Dezember 1942 ab.
Georg, Herta, Evelyne und Marion sind nicht
nach Palästina,
Shanghai, England, oder
in die USA ausgewandert, sondern
wurden am 1. Juni 1942 in einen – wie die Todesakte besagt – aus Kassel
kommenden Zug gesperrt und nach
Sobibor – wahrscheinlich über
Leipzig, Dresden, Breslau und Lublin – verschleppt, wo sie
möglicherweise schon bei ihrer Ankunft zwei Tage später ermordet wurden.
Wikipedia schreibt:
Mitte April 1942 wurden etwa 250 Juden aus einem nahegelegenen
Arbeitslager bei einer „Probevergasung“ umgebracht. Anfang Mai bis Ende
Juli 1942 wurden wahrscheinlich bis zu 90.000 Juden „fabrikmäßig“
getötet; danach musste die Aktion unterbrochen werden. Am 16. Juli 1942
beschwerte sich der Persönliche Adjutant Heinrich Himmlers, SS-General
Karl Wolff, beim Staatssekretär Albert Ganzenmüller über
Gleisbaureparaturen auf der eingleisigen Strecke zum Vernichtungslager
Sobibor. Dieser versprach, die Transportkapazitäten in andere
Vernichtungslager zu steigern und die Arbeiten bis Oktober
abzuschließen. In Sobibor wurde diese Zeit genutzt, um die drei
vorhandenen Gaskammern durch zusätzliche Räume zu erweitern und die
Kapazität damit auf etwa 1.200 Opfer zu verdoppeln.
Georg in Saarbrücken (oder schon in Halle?) – Quelle unbekannt
Links unten erscheint die spiegelverkehrte Ziffer 35, welche auf die
Saarbrücker Adresse
in der Mainzer Str. 35
(bis zum 28.09.1939) verweisen könnte. Im Jahr der
Saarländischen Volksabstimmung (am 13. Januar 1935) war Georg
etwas über 51 Jahre alt. Aber sein schönes Lächeln strahlt einen
natürlichen Optimismus aus, der in Anbetracht der hereinbrechenden
Katastrophe wie eine Erinnerung an gute alte Zeiten wirkt und
wahrscheinlich auch als solche aufbewahrt wurde.
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