Vorwort (2020) | Die Posener Urkunden (1870-1919) | Die Posener Adressbücher (1862-1917) |
Georg Kaempfer (1883-1942) | Johanna und die Berliner | Berlin, Oktober 1942 |
Der Fall Ludwig | Hedwig und Richard Kaempfer (1917-1947) | Emil und der Kaempferspecht |
Die Amerikaner | David Kaempfer (1859-1940) | Zwei Schriftsteller |
Mutmaßungen über die Ursprünge | Elemente für einen Stammbaum | Fazit 2020 |

Vorwort (2020)

 
Die auf diesen Seiten präsentierte Recherche über die Familie Kaempfer betrifft nicht nur die Menschen, sondern auch die Orte und Zeiten, in denen sie gelebt haben: Als „historische Hauptstadt Großpolens“ (1) war das tausendjährige Poznań ab der 1. Polnischen Teilung (1772) einem stetigen Wandel ausgesetzt, da es bei Ende der Napoleonischen Kriege (1815) zur Metropole der preußischen, dann deutschen Provinz Posen avancierte, nach dem „Großen Krieg“ und den Freiheitskämpfen wieder an Polen ging, während des 2. Weltkrieges von Nazideutschland besetzt wurde und seit 1945 Teil der Polnischen Republik ist. Zur preußisch-deutschen Zeit existierten dort mit- oder nebeneinander drei Bevölkerungsgruppen: die katholische Mehrheit der polnischen Einwohner, eine zunehmende Anzahl an deutschen Protestanten und die schon seit dem 13. und 14. Jahrhundert ansässige Minderheit jüdischen Glaubens.

 
Nach der überlieferten, jedoch nicht durch Urkunden belegten Familiengeschichte (2) kam der „Fuhrknecht“ Adolph Phillip Kaempfer (1744-1817), Sohn des im Raum Stralsund ansässigen „Bauern und Gutsverwalters" Johann Kaempfer (1689-1756) (3), von „Schwedisch Pommern“ nach Posen, konvertierte im Jahr 1779 zur jüdischen Religion durch seine Heirat mit Sarah Wendel (1756-1801) und befasste sich fortan mit „Tuch- und Spezereiwaren“ [siehe dazu: Mutmaßungen über die Ursprünge]. Zahl und Namen der Nachkommen dieser Ehe bleiben zu ermitteln: Beim jetzigen Stand der Untersuchung gehe ich allerdings davon aus, dass alle Kaempfers, die vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert in der jüdischen Gemeinschaft der Provinz Posen gelebt haben, in verwandtschaftlicher Beziehung zueinander stehen. Bislang kenne ich vier Zweige:
 
  • Cohn Kaempfer (1821-1901), Sohn von Henriette geb. Loewe (1787-1841) und Jacob Kaempfer (1786-184?) ist ein Enkel von Sarah und Adolf Phillip.
  • Eine weitere Linie führt über Isaak (*1833) und Helmine geb. Lewinsohn (1842-1889) (4) zu Georg Kaempfer (1883-1942), der mit seiner Frau Herta geb. Bergheim (*1893 in Schwerenz) und den beiden Töchtern Evelyne (*1922) und Marion (*1925) in Sobibor umgebracht wurde. Dieses durch Zufall entdeckte Ereignis aus einer vergangen geglaubten Zeit gab den Ausschlag für die vorliegende Recherche. In der Folge erfuhr ich, dass auch Georgs - mit Sigismund Deutsch verheiratete - Schwester Hedwig (1871-1942) sowie ihr Sohn Helmuth (*18.12.1894 in Breslau) nach Theresienstadt deportiert und ermordet wurden.
  • Ein dritter Zweig führt zu Paul Kaempfer (1836-1919), dessen verwandschaftliche Beziehung zu Cohn und Isaak zu ermitteln wäre [siehe dazu die Posener Adressbücher]. Wie ich erst vor kurzem erfahren habe, wurde Sohn Gustav (1864-1943) mit seiner Gattin Paula geb. Mottek (*1873) von Oppeln nach Theresienstadt deportiert und dort ermordet. Auch Käthe geb. Ledermann (1881-1943), die mit Pauls anderem Sohn Felix (1869-1920) verheiratet war, wurde in Auschwitz umgebracht.
  • Aus der Ehe von Sarah und Louis Kaempfer gehen zwei in Wreschen geborene Söhne hervor, die sich früh in Amerika etabliert haben: Jacob (*1845) kam anscheinend schon 1861 in New York an und Max (*1848) folgte im Juni 1871 (über Australien) (5).
Zu bemerken ist, dass Cohn (*1821), Issak (*1833), Paul (*1836), Jacob (*1845) und Max (*1848) alle in Wreschen (6) geboren sind [siehe dazu: Elemente für einen Stammbaum]. - Aus verschiedenen, noch zu erforschenden Gründen verlässt vor allem die jüngere Generation das preußisch-deutsche Posen vor der Jahrhundertwende. Folgende Orte sind mir bekannt:
  • Kinder von Emilie und Cohn, Helmine und Isaak, Sarah und Louis wandern zwischen 1860/70 und 1880/90 in die USA aus und lassen sich zumeist im Raum New York nieder.
  • Ein weiterer Sohn von Emilie und Cohn - mein Urgroßvater David Kaempfer (1859-1940) - etabliert sich ab 1884 in Braunschweig
  • Sein Bruder Louis zieht 1896 mit seiner Familie nach Berlin. Louis' Sohn Richard Kaempfer ist ab den 1910er Jahren politisch aktiv in München und flieht 1933 nach Paris; bei Kriegsende zieht er zu seiner Tochter nach Schenevus (New York State). Louis' anderer Sohn Emil Kaempfer geht in den 1920er Jahren als Ornithologe nach Brasilien und lebt dann in São Paulo. Louis' Tochter Johanna wird mit ihrem Mann Erich Herrmann 1942 von Berlin ins Ghetto von Piaski bei Lublin deportiert. Sehr wahrscheinlich sind sie im Todeslager Belzec umgebracht worden. - 1934 kommt auch Cohns Enkel, mein Großvater Hans Kaempfer (1896-1974) mit seiner Familie aus Braunschweig nach Berlin. Ein gefälschter "Ariernachweis" bewahrt Cohns Nachkommen vor dem Schlimmsten (7).
  • Bei Ausbruch des 1. Weltkriegs ist Georg - Sohn von Helmine und Isaak - mit seiner Familie in Saarbrücken. 1939 werden sie nach Halle umgesiedelt, 1942 nach Sobibor abtransportiert und dort umgebracht. Nur die älteste Tochter Ingeborg (1915-1977) schafft es über Frankreich nach Palästina (später Haifa).
  • Georgs Schwester Hedwig und Sohn Helmuth Deutsch sind in Breslau ansässig. Sie werden 1942  nach Theresienstadt deportiert und ermordet.
  • Der Mediziner Gustav Kaempfer - Sohn von Pauline und Paul - hat seine Praxis noch 1936/37 in Oppeln. Mit seiner Frau Paula wird er ebenfalls in Theresienstadt umgebracht. - Gustavs Sohn Ludwig (1901-1947) kann trotz Internierungen in Dachau und Buchenwald, von Berlin über England nach Montréal (Québec, Kanada) entkommen, wo er früh stirbt.
  • Die Familie von Gustavs Bruder, dem Juristen Felix Kaempfer, wandert anscheinend noch vor 1933 von Berlin nach Holland aus. Sohn Heinz stirbt am 14. März 1986 in Den Haag und Enkel Raymond lebt heute als Forscher und Professor in Jerusalem.

Problematisch ist die Spurensuche nach den Mädchen und Frauen der Familie: Zum einen wechseln sie bei der Heirat den Nachnamen; zum anderen sind sie in jenen Jahren kaum als berufstätig gemeldet und erscheinen deshalb auch nicht namentlich in den Adressbüchern, die meist nur das männliche "Familienoberhaupt", oder Witwen und alleinstehende Frauen anführen. – Ein zweiter Punkt ist das Fehlen von Dokumenten und Urkunden für die Bürger der jüdischen Gemeinden aus der Zeit vor 1870. Das erschwert die Recherche über die Ursprünge der Familie, zumal die ältere Generation das Licht der Welt nicht in Posen, sondern in der 50 Km entfernten Stadt Wreschen erblickte, die somit als "Stammsitz" der Posener Kaempfers gelten kann.

 

****
 
 

Die Methode dieser der Wahrheit verpflichteten Recherche ist streng empirisch. Sie will nichts ein für alle Mal beweisen oder erklären, keine moralischen Urteile fällen. Ihr Ziel ist es, durch behutsames Herantasten ein Bild entstehen zu lassen, das etwas mehr vom Leben der Vorfahren vermittelt, als ihre Namen, Adressen, Berufe, Geburts- und Todesdaten verraten. Die verwandtschaftlichen Beziehungen können als Rahmen dienen, um einen Zeit-Raum zu erkunden, in dem es noch wenig personenbezogenes Material gab, ganz zu schweigen von den Selbstdarstellungen in den zeitgenössischen Medien. Auch wenn sie andere Namen trugen, andere Sitten, Religionen, Anschauungen teilten, geht es darum, die Geschichte unserer Vorfahren zu verstehen, denn nur ihre Überzeugungen und Handlungen, ihre Träume und Legenden, ihre Fehler und Versäumnisse, ihre Erziehung und Moral, ihr großes Leid und hart erkämpftes Glück machen uns zu den Menschen, die wir heute sind.

Mit der diesem Projekt eigenen Form und Struktur sind Wiederholungen unvermeidlich. Auch werden offensichtlich falsche Informationen im Lauf der Zeit stillschweigend korrigiert oder mit Anmerkungen versehen, wenn neue Belege (wie zum Beispiel die Posener Urkunden) oder weiterführende Erkenntnisse vorliegen. Dabei möchte ich ausdrücklich betonen, dass Kommentare der geneigten Leserschaft herzlich willkommen sind und Fragen nach bestem Wissen beantwortet werden. - Wie schon angedeutet, ist es meine Absicht, über den vorgegebenen Rahmen einer Familiengeschichte und genealogischen Recherche hinaus dieses Projekt auch für Außenstehende interessant zu gestalten. Das jedoch setzt einen historischen Wert voraus, den ich nur anstreben nicht aber voraussetzen kann, denn seine Einschätzung obliegt denen, die in diesen Geschichten ein Stück ihrer eigenen Vergangenheit erblicken.

 
Stefan Kaempfer, Januar 2020


 
 

Wreschen, Schloßstraße, Postkarte etwa 1914
 
 
_____________________________________

Anmerkungen

(1) Siehe die Geschichte der Stadt unter www.poznan.pl
(2) Es handelt sich um den Bericht von Gerhard Petzold, einem Cousin meines Vaters Wolfgang. Auszüge auf den David und die "Ursprünge" betreffenden Seiten.
(3) Gerhard nennt zwei verschiedene Geburtsdaten von Johann: das eine (1689) in dem von ihm erstellten Stammbaum, das andere (1694) im Text seines elfseitigen Berichts. Die von ihm postulierte Verwandtschaft der Posener Kaempfers mit dem Lemgoer Pastor Johannes Kemper (1610-1682), Vater des einst berühmten Forschungsreisenden Engelbert Kaempfer (1651-1716), konnten meine eigenen Recherchen weder bestätigen noch widerlegen. Jedoch habe ich gefunden, dass die von Gerhard angeführte Ahnenfolge so nicht stimmen kann. Siehe dazu meinen Kommentar in den "Mutmaßungen über die Ursprünge".
(4) Wie ich hier erfahre, war Isaak der Sohn von Louis Kaempfer (*etwa 1800 in Posen), der 1834/44 als Schneider in Wreschen lebte und dort auch gestorben ist. Das von dieser Quelle angegebene Geburtsdatum von Isaak dürfte jedoch falsch sein. Als Geschwister von Isaak werden Hulda (1851-1929) und Felix (1869-1920) (!) genannt. Letzterer .aber ist erwiesenermaßen ein Sohn von Paul.
(5) Die Namen von Sarah und Louis Kaempfer erscheinen auf Maxens Heiratsakte vom 30.9.1880 in Manhattan [hier]. Allerdings wird die weitere Recherche in Posen und Wreschen schwierig: "Das Staatsarchiv in Poznań teilt mit, dass es in seinen Archivbeständen keine metrischen Aufzeichnungen der jüdischen Gemeinde in Poznań aus der Zeit des achtzehnten bis neunzehnten Jahrhunderts gibt. - Daher können wir keine Suche nach den für Sie interessanten metrischen Datensätzen durchführen." (automatische Übersetzung aus dem Polnischen, Mail vom 13.1.2020)

 
Hypothetischer Stammbaum der Posener Kaempfers
(Geburtsort Wreschen in Grün, New York in Rot, Posen in Schwarz)
Adolph Phillip Kaempfer (*1744) heiratet 1779 in Posen Sarah Wendel (*1856)
Jacob (*1786)
---- / ?? / ----
Cohn (*1821)
---- / ?? / ----
Louis (*?)
Isaak (*1833)
Paul (*1836)
Jacob (*1845)
Max (*1848)
Isaak (*1847)
Ulrika (*1849)
Louis (*1851)
Jacob (*1853)
Abraham (*1855)
Moritz (*1857)
David (*1859)
Martin (*1868)
Hugo (*1869)
Hedwig (*1871)
Lucie (*1876)
Ludwig (*1878)
Georg (*1883)
Gustav (*1864)
Felix (*1869)
Martha (*1873)
Louis J. (*1886)
Louis G. (*1881)
Bertram (*1886)
Jacob C. (*1890)

(6) Ich lese auf Wikipedia [hier]:
 
"Września (deutsch Wreschen) ist eine Stadt in Polen in der Woiwodschaft Großpolen etwa 50 km östlich von Posen. Der Name der Stadt stammt von einem Heidekraut, das in der Gegend verbreitet war. Vermutlich wurde zunächst der Fluss Wrześnica so genannt und später nach dem Fluss auch der Ort. [...] Nach der Zweiten Teilung Polens 1793 gehörte die Stadt zu Preußen. Von 1807 bis 1815 war sie Teil des Großherzogtums Warschau. Wreschen wurde 1818 Sitz des neu gebildeten Landkreises Wreschen in der Provinz Posen. - Die Stadt war weiterhin in Privatbesitz, Besitzer waren die Poniński. Erst 1833 wurde die Szlachta entmachtet und die Stadt begann 1841 ihre Selbstverwaltung. 1837 brannte die hölzerne Synagoge ab, sie wurde 1875 durch eine neue, gemauerte ersetzt. Ein Landratsamt, ein Amtsgericht sowie ein Kreislazarett wurden errichtet. - Ab dem 19. Jahrhundert belebte sich die Wirtschaft in Wreschen deutlich. 1875 erfolgte der Anschluss an das Schienennetz. Der Bahnhof lag an den Linien Jarotschin-Gnesen, Wreschen-Strzalkowo und Glowno-Wreschen der Preußischen Staatsbahn. Es entstanden unter anderem eine Fabrik für Landwirtschaftsmaschinen, eine Zuckerfabrik und ein Kraftwerk. Des Weiteren gab es im Ort ein Warendepot der Reichsbank, einen Vorschussverein, eine Ölmühle, Dampfmahlmühlen und Getreidehandel. - 1905 lebten etwa 7000 Menschen in der Stadt. 65,4 % waren Polen, 28,9 % Deutsche und 5,5 % Juden."
(7) Der Vorname Cohn wurde in John umgewandelt und die jiddische Ehe mit Emilie unter evangelisch-lutherische Vorzeichen gesetzt. Der mit einer "Christin" verheiratete David sowie seine Kinder (5) und Enkel (8) waren dadurch aus der Schusslinie.

 

NB. - Kontakt / Kommentare auf: https://skaempfer.blogspot.com/