Berlin, Oktober 1942
Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigug
(*)
von Hans Kaempfer
In einer lauen Oktobernacht des
Jahres 42 ging ich nach einer kurzen U-Bahnfahrt zu Fuß in meine Wohnung heim.
Vom Bayrischen Platz aus durch die Speyerer Straße hatte ich gut zehn Minuten.
Ich war allein. Meine Frau hatte Wagners Götterdämmerung (1) nicht hören
wollen. Ihre Opposition erstreckte sich im Gegensatz zu meiner freisinnigen
Anschauung auf alle Kunstdarbietungen, die das Regime als Vorspann für seine
Ziele benutzte. Ob der Gedanke daran mich bewegte, kann ich nicht sagen, doch
bedrückte mich in der nächtlichen Stille ein unklares Schuldgefühl. Daß ich die
Einladung eines befreundeten, von der "Bewegung" merklich angekränkelten
Musikkritikers (2) zu einem Gläßchen Wein angenommen und lange mit ihm
zusamnmengesessen hatte, könnte eher der Grund gewesen sein. Der Kollege,
erheblich jünger als ich, erzählte in einem Ton unglaubhaften Entsetzens von
einer Informationsreise Berliner Redakteure in das besetzte Polen, wo ihnen der
berüchtigte Gouverneur Frank schamlos offene Einblicke in sein brutales Regiment
und seine 'einmalig wirksamen Justizmethoden' gegeben hatte. An den Pforten des
Warschauer Gettos war den prominenten Kulturbeauftragten gezeigt worden, wie
"hoffnungslos dieses Elendsvolk von Renegaten verraten und verkauft und
offensichtlich nichts Besseres wert war als die Massenliquidationen der schwarzen
und braunen Büttel". Ich war mir mit dem Zechkumpan einig gewesen, daß
Gouverneur Frank ein Bluthund und Schänder des deutschen Namens sei. Doch merkte
ich wohl: der Musikkritiker war seelisch ziemlich unangefochten von seiner
Höllenfahrt zurückgekehrt. Die geharnischte Verurteilung, die sein Chef (3) nach
Anhörung des ungeheuerlichen Reiseberichts aussprach, hatte dem
Musikreferententen "außerordentlich imponiert", besonders die gewagte
Prophezeiung, solche Ausschreitungen würden gewiß nicht ungesühnt bleiben. Ich
hatte dem Kollegen von der Musik nicht darin zugestimmt, im Zeitalter der
Verrmassung und der praktisch notwendigen Gewaltenteilung müsse die
ressortmäßige Verantwortung ebenso teilbar sein. Doch war mein Widerstand bei
seinem weinseligen Gerede schmählich erlahmt.
Aber nein, eine andere verborgene Ursache störte mich
beim Gang durch die menschenleeren Straßen. Meine zittrige Unruhe wuchs zu
beklemmender Vorahnung, begabte mich zu einer krankhaft überreizten
Hellhörigkeit. Ich meinte, in den hohen Miethäusern der Straßenzeile ein Rumoren
zu vernehmen. Und es kamen etliche, hitzig tuschelnde Menschen zu zweien oder
mehreren an mir vorbei. Die starrten mich musternd an und blickten mir anzüglich
nach, so, als ob mein nächtliches Wandern gänzlich ungehörig sei. Es konnte eine
der häufigen Razzien im Gange sein. Die Stunden nach Mitternacht wurden mit
Vorliebe für die zwielichtigen Fahndungen der allgegenwärtigen Polizeigarden
gewählt. In die breite Luitpoldstaße einbiegend, sah ich zu beiden Seiten
Möbelwagen stehen. Ich glaube, es waren drei. Auch vor unserem Haus stand einer,
und mir fiel ein: wir befanden uns im Bayrischen Viertel, den von Juden
bevorzugten Ortsteil. In unserem Haus wohnten allein drei jüdische Familien mit
Kindern. Mit dem Opernregisseur Lazarus (4), zwei Stockwerke über uns, waren wir
gut bekannt. Unsere Kinder hatten eine Zeitlang mit den beiden Töchtern
freundschaftlich verkehrt. Eva, die ältere, eine vielbewunderte blonde
Schönheit, die einmal in der Bahn von einem gesetzten Herrn als Muster des
deutschblütigen Mädchens belobt worden war, worauf die Mutter kalt pariert
hatte, ihre Eva sei hoffnungslos jüdisch, war vor einem Jahr nach Palästina
entronnen. Aber der musikbesessenen Herr Lazarus fühlte sich den Deutschen und
uns Berlinern voran gänzlich zugehörig. Als Heine-Verehrer hatte für ihn das
Deutsche Reich ewigen Bestand. Er repetierte noch jetzt eifrig doch unerlaubt
mit den Sängern der Staatsoper in seiner Wohnung und dachte nicht ans
Auswandern, hatte es wohl auch längst verpaßt, hätte die hohe Gebühr für das
englische affidavit sicher nicht mehr aufgebracht.
Ich dachte dies alles, bevor noch das nächtliche
Geschehen Gestalt annahm. Ich entdeckte dann: der Möbelwagen war von braunen
Uniformierten bewacht. Um einen verspäteten Umzug handelte es sich also nicht.
Die vage Idee baute ein paar Sekunden meinem Schrecken vor: in Berlin war von
jeher das Unglaublichste möglich. Auch bei meinem fluchtartigen Umzug aus der
Provinz (5) war der Möbelwagen erst nach Mitternacht vor unserem Haus
erschienen und die Packer hatten unverschämte Trinkgelder aus meinem letzten
Geldvorrat erpreßt. Nein, bei Gott, dies war aber kein Umzug von Haus zu Haus.
Jetzt kam der alte Herr Gumpel (6) vom dritten Stock
des Gartenhauses aus der Tür zur Straße, der Literat, dessen krampfhafte
Hoffnungen auf Hitlers baldigen Sturz ich noch kürzlich bei einem Gespräch auf
der Treppe in törichter Weise bestärkt hatte. An einem schweren Koffer mehr
zerrend als schleppend taumelte er auf den Gehsteig. Total erschöpft setzte der
alte Mann den Koffer auf dem Pflaster ab. Ich stand auf der anderen
Straßenseite, nahe bei einer Laterne. Er hob eine Hand gegen mich, es war ein
kurzes Winken. Sein Blick sprach von keinem Vorwurf. Ich nickte ganz schwach
zurück, in dem bleichen Licht konnte es kaum zu sehen sein. Ich traute mich
nicht, hinüberzugehen, mich zu dem "Judenhaus" zu bekennen. Doch eine der Wachen
lief zu mir hin und fragte mich barsch, was ich hier zu suchen hätte. Ich sagte:
ich wohne dort. Und der Braune fuhr mich an, wo ich mich mitten in der Nacht
herumtreibe ? ob ich vielleicht auch Jude sei ? Nein, stammelte ich. In diesem
Moment wünschte ich mir wahrhaftig einer zu sein (7). Ich dachte an Roland
Engelhardts tragisches Trotzbekenntnis (8). Aber das war nur einer der vielen
frommen Wünsche, die wie brüchige Herbarienpflanzen in unserem Gehirn eingepreßt
sind. "Nein", sagte ich entschieden und zeigte bereitwillig meinen Ausweis
vor, aus dem meine Behördentätigkeit hervorging. Der Braune fuhr mich erneut an,
warum ich dann nicht ins Haus ginge und hier 'Maulaffen feilhalte'. Ich
überquerte darauf die Straße, genau in dem Augenblicke, als Herr Lazarus mit
seiner Frau und der zwölfjährigen Ursel aus der Haustür kamen. Das Kind
schluchzte still vor sich hin. Herr Lazarus streifte mich mit einem Blick, nicht
so langsam, daß ich aus ihm hätte lesen können, und doch so haftend, dáß ich
seinen Gedanken brennen fühlte wie die Glut aus einer Vernichtungskammer: Ich
habe mich also in euch getäuscht, dachte der Korrepetitor des Ensembles der
Deutschen Staatsoper.
Ich konnte noch nicht gleich ins Haus gehen. Die Büttel
scheuten sich sekundenlang das weinende Kind vorwärtszustoßen Der Weg zur
Haustür war solange versperrt, bis Frau Lazarus die Tochter durch eine Umarmung
getröstet hatte. Dann fiel ihr Blick auf mich. In diesen Tagen hatte mir meine
Frau bekümmert gesagt, sie verstehe nicht, warum Frau Lazarus auf einmal so
abweisend gegen sie sei, wo wir doch alles getan hatten, unsere
judenfreundlichen Gefühle zu zeigen. Wir hätten doch geradezu waghalsig unsere
Teilnahme bewiesen, wären sogar auf der Straße bei ihnen stehengeblieben, und
die Ursel hätte immer zu unseren Kindern kommen können. Und doch traf mich jetzt
Frau Lazarus' Blick voller Abscheu. Kein Aufschrei des Fluches hätte seine
Beredsamkeit zu überbieten vermocht. Blicke sind so wenig zu beschreiben wie das
Wirken eines Blitzes, der einen ohnmächtig hinstreckt. Doch in unserer größten
Not vermögen wir Augenblitze von unfehlbarer Gerechtigkeit zu schleudern: 'Warum
rufst du nicht, du elend-feiger Christ, haltet ein, ihr Mörder, bei allen guten
Geistern !'
Ja, ich wußte, ich war dann ein toter Mann. Bequeme
Entschuldigung: auch Petrus bekannte sich nicht zu Jesus, als die Angst um sein
Leben ihn umklammert hielt. 'Ich kenne den Menschen nicht', sagte er zu den
Mägden. Erst als der Hahn dreimal krähte, besann er sich, weinte und ward zum
Märtyrer.
Wo aber waren meine - unserer Tränen, als der
Völkermord zum Himmel schrie, die Ausrottung der erwählten Rasse, deren Heilige
den lebendigen Gott entdeckt und die Fackel der Erkenntnis von Jerusalem bis
Thule vorangetragen hatten ? – Ich herrschte die braunen Häscher nicht an, hieb
keinem von ihnen ein Ohr ab. Setzte mich nicht der geringsten Gefahr aus. Mit
dem Amtsausweis in der Tasche stand ich an den sicheren Gestaden des
Höllenflusses und blickte mit Millionen Versklavter in gemäßigter Erschütterung
auf das schwärzlich-rote Gewässer, dessen blutiger Schaum zu unseren Füßen
leckte.
Ich ging ins Haus, zu Frau und Kindern. Zögernd,
viel später sprach ich von dem Schauder jener Nacht.
__________________________________ Anmerkungen
(*) Dies ist ein Auzug aus dem unveröffentlichen Roman Die Moabiterin, an
dem Hans in der Nachkriegszeit gearbeitet hat. Der Titel ist die Überschrift des
45. Kapitels, das mit diesem ergreifenden Bericht schließt. Die Orthographie wurde nicht an
die heutigen Gepflogenheiten angepasst. Zu den Veröffenlichungen meines
Großvaters als Autor und Übersetzer, siehe: Hans Kaempfer
(1) Bislang habe ich keine Daten zu dieser Berliner Aufführung der Wagner-Oper
gefunden. Am 21. Juli 1942 wurde sie unter Leitung von Karl Elmendorff im
Festspielhaus Bayreuth als Live-Mitschnitt aufgenommen.
(2) Es handelt sich um den stark belasteten Werner Oehlmann [hier].
In Wirklichkeit betrug der Altersunterschied zwischen Hans (1896-1974) und
Oehlmann (1901-1985) nur 5 Jahre. Seine Anwesenheit mag für das "Niveau" des
Konzerts sprechen. (3) Folgt der durchgestrichene Passus: "der ehrenwerte Paul
Fechter" [hier].
(4) Der Name Lazarus ist hier wohl christlich-symbolisch zu verstehen. Auch mein Vater
Wolfgang hat ihn gekannt und nennt ihn den "alten Aron"
im Interview über seine Kindheit [hier].
Sein wirklicher Name - P. Suchy, Musikmeister - könnte aus diesem Adressbuch hervorzugehen:

Siehe auch: Johanna & die Berliner - Wenn das Datum stimmen
sollte, wären die Familien aus dem Haus in der
Luitpoldstraße 36 entweder mit dem 21. oder 22. Transport (19. bzw. 26. Oktober
1942) nach Riga deportiert worden. Insgesamt wurden in beiden Transporten 963 + 800 = 1763
Menschen verschleppt. Ihre Namen erscheinen auf den Transportlisten [hier]
und [dort].
Ich habe sie dort nicht gefunden. Und die Recherche über einen Musikmeister
Suchy trug bisher keine Früchte. Das genaue Datum der Deportation könnte auch
über die Aufführung der Götterdämmerung zu ermitteln sein.
Zusatz: In der Tat hieß der Musikmeister Aron und
war wohl unter einem falschen Namen im BAB eingetragen. [Hier]
die Daten, die ich gefunden habe:
Aron, Isaak Isaac Julius, geboren am 19. Dezember 1886 in Lupowske /
Bütow / Pommern, wohnhaft in Berlin (Schöneberg). Deportation: ab Berlin 26.
Oktober 1942, Riga. Todesdatum: 29. Oktober 1942. Todesort: Riga
Aron, Lucie, geboren am 14. April 1894 in Würzburg / Bayern, wohnhaft
in Berlin (Schöneberg). Deportation: ab Berlin 26. Oktober 1942, Riga.
Todesdatum: 29. Oktober 1942. Todesort: Riga
Aron, Eva, geboren am 21. Februar 1926 in Berlin / Stadt Berlin,
wohnhaft in Berlin (Schöneberg). Deportation: ab Berlin 26. Oktober 1942,
Riga. Todesdatum: 29. Oktober 1942. Todesort: Riga Warum
Hans hier die Namen geändert hat, kann ich nicht sagen. Nur der Vorname
Eva erscheint im Text, allerdings bezogen auf "die ältere [Tochter], die
[...] vor einem Jahr nach Palästina entronnen [war]".
(5) Mein Großvater kam mit seiner Familie 1934 von Braunschweig nach Berlin.
(6) Der wahre Name dieses "Literaten" ist mir nicht bekannt.
(7) Ohne den gefälschten "Ariernachweis" wäre mein Großvater als "Halbjude"
eingestuft worden. In der Folge benutzt der Ich-Erzähler christliche Referenzen,
um seine Ohnmacht zu beschreiben.
(8) Roland Engelhardt ist eine der Hauptfiguren der Moabiterin, die am
Vorabend des 1. Weltkriegs beginnt. - Auch die Ankunft in Berlin ("Askanischer
Platz 1934") wird erzählt. Und es ist von einer Posener (sowie Wreschener)
Vergangenheit die Rede. - Es wird von einem SA-Überfall auf Roland im
"sozialistischen Arbeiterverein" berichtet. Unmittelbar nach der Machtübernahme
der Nationalsozialisten werden mehrere Hausdurchsuchungen durch die SA in
Richard Kaempfers "Biogramm" vermerkt. Er war einer von Johannas
Brüdern und somit ein direkter Vetter von Hans: Die Anspielung auf ihn ist
durchaus möglich. Das wiederum spräche dafür, dass er die Kinder seines Onkels
Louis kannte. Ich erinnere mich jedoch nicht, dass er mir je von ihnen erzählt
hätte. Auch mein Vater hat sie nie erwähnt und ich bezweifle, dass er überhaupt
von ihnen gewusst hat.
NB. - Kontakt / Kommentare auf:
https://skaempfer.blogspot.com/ |